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Elftes Kapitel

Die Besitztümer Sir Francis Oustons waren zahlreich und recht beachtlich. Er besaß einige tausend Morgen wallisischen Kohlengeländes, er besaß Woughton Hall in Kent und ein hohes, düster aussehendes Haus am Eaton Square, er besaß die berühmte Stute Capriciosa III., und in der Liberalen Partei besaß er eine Position unmittelbar nach Asquith und Lloyd George.

Ihn selbst besaß seine Frau.

Lady Ouston war eine schöne, überaus selbstherrliche Frau. Sie hatte eine hohe, scharfe, heftige Stimme und viele entschiedene Ansichten. Sie war fest und sogar etwas kriegerisch in ihrer Überzeugung, daß Jay in Kleiderangelegenheiten Poiret vorzuziehen sei, daß die Labour Party Verrat treibe, daß Sir Francis (lediglich um des Landes willen) Premierminister werden müßte, daß die Gewohnheit der arbeitenden Klassen, Bier zu trinken, überaus verwerflich sei, daß es an Niedertracht grenze, Brathuhn ohne Brottunke zu servieren, und vor allem, daß die Vereinigten Staaten von Amerika ein ungebildetes und geldgieriges Land mit schlechten Manieren seien.

Sie war – wie ihr Vater und ihre Mutter vor ihr – in Nashville in Tennessee geboren.

Sie war eine furchtbare Hausfrau. Sie hatte einen Salon, und obgleich sie Forscher, Chemiker und die wenigen Schriftsteller, die etwas von Gehröcken wußten, um sich sammelte, war sie nie so weit herabgestiegen, ihren Salon mit kubistischen Malern, indischen Nationalisten, amerikanischen Cowboys und anderen Schaubudenfiguren zu füllen, mit denen die Hausfrauen von der Konkurrenz die eigentlichen Leute an sich zu ziehen suchten.

Und ihre Dinners waren bewundernswert. Man konnte sicher sein, Napoleon Brandy, den Vetter eines Herzogs und die neueste Anekdote über die Minderwertigkeit New Yorks vorgesetzt zu bekommen.

Lockert konnte Lady Ouston nicht dazu bewegen, die Dodsworths zu einem von ihren besten Dinners, mit Kabinettsministern, einzuladen, aber es war ein ganz anständiges über dem Durchschnitt stehendes Dinner mit Clos-Vougeot und dem Rektor eines Cambridger Colleges.

Sam war still, sehr aufmerksam und nicht übermäßig heiter, als er die zwanzig Leute musterte, die mit Behagen an ihrem Lachs und am guten Ruf ihrer Mitmenschen knabberten. Niemand schien so gewöhnlich zu sein, daß er ausgeprägte Meinungen hatte, und jedermann wünschte von ihm nur zweierlei zu erfahren: Ob das sein erster Besuch in England sei? und wie lange er zu bleiben gedenke? Und beides schien ihnen ziemlich gleichgültig zu sein.

Er mußte daran denken, wie oft er selbst Fremde, die die Revelationfabrik besuchten – Engländer, Schweden, Deutsche, Franzosen – gefragt hatte, ob dies ihr erster Besuch in Amerika sei, und wie lange sie zu bleiben vorhätten.

»Nie wieder werde ich diese Fragen stellen!« gelobte er sich.

Das Dinner nahm seinen Verlauf. Suppe und ein Gemurmel über Radio und Bernard Shaw, Lachs und ein vornehmes Murmeln über Mussolini und Influenza, Hammelbraten und nicht sehr angeregte Mitteilungen über Fassadenkletterer. Sam war ganz benommen von der doppelten Pflicht, eifrig zu essen und seine feinen Sitten zu beweisen, als er plötzlich merkte, daß Lady Ouston mit ihm über Amerika sprach, und daß alles am Tisch aufmerksam zu werden begann. Er wußte nicht, daß sie geborene Amerikanerin war, und hörte bekümmert zu.

»– und selbstverständlich würde niemand unter uns auf den Gedanken kommen, Ihre liebe Frau und Sie in einen Topf mit den entsetzlichen, entsetzlichen amerikanischen Touristen zu werfen, die man in Lokalen oder auf der Bahn sieht – oder eigentlich hört – wo können eigentlich solche Amerikaner herkommen? Wirklich, ich bin ganz sicher, Sie könnten beide für Engländer gehalten werden, wenn Sie nur ein paar Jahre hier leben. Es ist also durchaus unpersönlich. Aber sind Sie nicht auch derselben Ansicht wie wir – so sehr wir auch die Energie und technische Erfindungsgabe Amerikas bewundern – daß es das entsetzlichste Land der Welt ist? Diese Stimmen – wie Blechtrompeten! Diese Ungeschliffenheit! Dieser Mangel an Zurückhaltung! Und diese materialistischen Ideale! Und die Normalisierung – alle denken ganz genau das gleiche über alles. Ich versichere Ihnen, wenn Sie einmal zwei Jahre hier gewesen sind, werden Sie so froh darüber sein, Ihr schauderhaftes Land verlassen zu haben, daß Sie nie wieder zurück wollen. Spüren Sie nicht schon jetzt ein bißchen davon?«

Sam Dodsworth hatte nie in seinem Leben damit geprahlt, daß er Amerikaner war, noch dafür um Entschuldigung gebeten. Er war so verblüfft, daß er nur in bescheiden klingendem Ton murmeln konnte: »Ich habe nie viel über Amerika als ein Ganzes nachgedacht. Ich habe es sozusagen genommen, wie es ist –«

»Das werden Sie nicht lange tun! So ein Land! Diese entsetzlichen Politiker! Ganz entschieden die niedrigste Form des animalischen Lebens – noch schlimmer als irische Republikaner! Und müssen Sie sich nicht ein wenig schämen, Amerikaner zu sein, wenn Sie daran denken, daß Amerika uns die Kriegsschulden bezahlen läßt, wo das Geld doch eigentlich alles war, was Amerika beigetragen hat?«

»Nein!« Sam war plötzlich wütend; plötzlich frei von aller Schüchternheit, die er vor dieser zeremoniellen Gesellschaft empfunden hatte. »Ich war nie ein großer Chauvinist. Ich bilde mir nicht ein, daß Amerika vollkommen ist. Da fehlt viel. Ich weiß, daß es bei uns eine Menge Narren und Schurken gibt, und habe nichts dagegen, daß man über sie herzieht. Aber Sie werden entschuldigen, daß ich anderer Ansicht bin als Sie –«

Lockert sagte besänftigend: »Sie können nicht erwarten, daß Mr. Dodsworth Ihnen zustimmt, Lady Ouston. Sie dürfen nicht vergessen, daß er –«

Jetzt war Sam nicht mehr zu beruhigen. »Ich habe wahrscheinlich doch ein bißchen geglaubt, daß Amerika die größte Nation auf Erden ist. Und vielleicht ist es das auch. Vielleicht gerade weil wir so viele Fehler haben. Das zeigt, daß wir uns entwickeln! Es soll mir leid tun, wenn es unfein ist, daß man sich nicht schämt, Amerikaner zu sein, aber dann muß ich eben unfein sein!«

Während er nach außen hin brüsk war, sagte er sich höchst schüchtern: »Die dreckigen Blicke, die ich von allen Seiten bekomme! Ich habe Fran alles verdorben. Mahlzeit, was ich von ihr zu hören kriegen werde!«

Aber unglaublicherweise war es Fran selbst, die jetzt angriff: »Meine liebe Lady Ouston, unter hundertundzehn Millionen Amerikanern muß es einige geben, die erträgliche Stimmen haben und nicht ausschließlich an Geld denken! Da viele von uns erst seit einer Generation oder noch kürzere Zeit von England fort sind, muß es einige nette Leute bei uns geben! Und ich weiß nicht, ob jedes Mitglied des englischen Parlaments ein vollendeter kleiner Gentleman ist. Ich glaube, ich habe von Auftritten gehört – Bei uns gibt es wahrscheinlich mehr Selbstkritik als bei den meisten anderen Völkern – unsere eigenen Schriftsteller schimpfen uns alles mögliche, das gelindeste ist noch Hauptstraßler. Aber merkwürdigerweise bilden wir uns ein, daß wir selbst an unserem Schicksal arbeiten müssen, ohne die Hilfe wohlwollender Ausländer!«

»Ich glaube, Mrs. Dodsworth hat ganz recht«, sagte Sir Francis. »Es erbaut uns hier in England durchaus nicht, wenn die Franzosen und Italiener uns Barbaren nennen, was sie recht gern tun!«

Das sagte er recht freundlich, aber Sam wußte, daß Fran und er von nun an im Hause Ouston so beliebt sein würden wie zwei tolle Hunde.

Um viertel elf bekam Fran taktvolle Kopfschmerzen.

Sir Francis und Lady Ouston waren beim Abschied überaus herzlich.

Sam und Fran schwiegen im Auto, bis er seufzte: »Sei nicht böse, mein Kind. Es war ziemlich schlimm. Es tut mir schrecklich leid, daß ich mich nicht besser beherrscht habe.«

»Es macht gar nichts! Ich bin froh, daß du dich nicht beherrscht hast! Die Frau ist verrückt! Ach –« Fran lachte hysterisch. »Die Oustons und wir werden jetzt Busenfreunde werden! Sie werden darauf bestehen, daß wir mit ihnen eine Weltreise auf ihrer Jacht machen!«

»Und die Jacht anbohren!«

»Haben sie nicht eine nette kleine Tochter, die Brent heiraten kann?«

»Fran, ich bewundere dich wirklich!«

»Du alter Bär! Aber ich bin froh, daß du ein Bär bist! Sam, ich habe einen furchtbaren Gedanken. Ich gehe jede Wette mit dir ein, daß diese alberne Person Amerikanerin ist! Eine Konvertitin! Expatriierte von Beruf! Sie ist viel zu englisch, um Engländerin zu sein. Nicht daß die echten Engländer uns allzu sehr lieben, aber sie ist wie ein irischer Kritiker, der in London lebt, oder wie ein jüdischer Pair – sieben Schritte rechts vom König. Und ich hätte vielleicht auf denselben Weg kommen können – Sam Dodsworth, wenn du mich je dabei ertappen solltest, daß ich etwas anderes sein möchte als eine rauhe Amerikanerin, mußt du mich prügeln.«

»Gut. Aber werde ich dich einmal sehr lange prügeln müssen?«

»Wahrscheinlich. Ich bin ein ziemliches Luder. Und bei Lord Herndon habe ich mit Clyde Lockert geflirtet! Es hat mich gelockt, ihn aus seiner Überlegenheitspose aufzustören. Und das ist mir auch gelungen! Aber ich schäme mich so!«

Im Hotel schmiegte sie ihre Wange an seine Schulter und flüsterte: »Ach, am liebsten möchte ich in dich hineinkriechen und ein Teil von dir werden. Laß mich nie fort'«

»Nein!«

 

Das Debacle bei Oustons machte Frans gesellschaftlicher Karriere ein Ende, obwohl Lockert ihr Mentor blieb. Er kam am nächsten Tag zum Tee, so selbstverständlich wie immer, und brummte:

»Na, Merle Ouston war gestern abend reichlich unangenehm. Sie aber auch, Dodsworth!«

»Ich konnte doch nicht ruhig dasitzen und ihr zuhören –«

»Sie hätten lächeln sollen. Ihr Amerikaner seid immer so empfindlich. Ein Engländer macht sich nie etwas aus Kritik an England. Er lacht darüber.«

»Hm! Das habe ich schon mal gehört – von Engländern! Ob das nicht eine von euern frommen Sagen über euch selbst ist, so wie unser Glaube, alle Amerikaner seien so gastfreundlich, daß sie dem ersten besten Fremden ihr letztes Hemd geben. Na, ich habe noch nie gesehen, daß einer unserer New Yorker Bankiers draußen in Ellis Island die polnischen Einwanderer gebeten hätte, bei ihm zu bleiben, bis sie Arbeit hätten. Hören Sie, Lockert! Diese Ouston hat gesagt, alle unsere Politiker wären Schweine. Angenommen ich fange an, gemeine Bemerkungen über den König und den Prinzen von Wales zu machen –«

»Das ist etwas ganz anderes! Das ist eine Frage des guten Geschmacks! Aber lassen Sie. Herndon und ich sind durchaus proamerikanisch.«

»Ich weiß«, sagte Fran. »Sie lieben Amerika – abgesehen vom Essen, den Manieren und den Menschen.«

»Zum mindesten gibt es einen amerikanischen Menschen, den ich sehr hochschätze!« antwortete Lockert, ihr einen glühenden Blick zuwerfend.

Sam wartete darauf, daß sie Lockert zurechtweise. Sie tat es nicht.

 

Lockert brachte sie zu Ciro, wo sie tanzten; er führte sie in einen ausgelassenen Nachtklub ein, der sich durch Freundlichkeit, Gin und eine gehörige Portion Gerüche auszeichnete. Potentaten der englischen Automobilgesellschaft machten Besuch bei ihnen und führten Sam in ihren Fabriken herum. Bei einem Dinner, das Lord Herndon in der Damendependance des Allgemeinen Offizierkasinos gab, lernten sie drei oder vier beleibte Matronen kennen, und dann hatten sie wieder Zutritt zu den beschwerlichen Gefahren gelegentlicher Dinnergesellschaften.

Und die ganze Zeit blieben sie dem lebendigen englischen Leben so fern, wie wenn sie auf einem Bahnhof auf den Zug zum Kontinent warteten. Lockert war eine Woche nach dem Dinner bei Oustons an die Riviera abgereist. Sam war erlöst – dann entbehrte er ihn zu seiner Überraschung. Und ohne Lockert bekamen sie nur wenige Einladungen.

 

»Also«, sagte Sam, »bis wir mehr Leute hier kennen, wollen wir uns die Stadt ansehen. Historische Stätten und so weiter.«

Er hatte Karl Baedekers philosophisches Werk über London studiert und brannte darauf, den Tower, die Parlamentsgebäude, Kew Gardens, den Temple, das Römische Bad und die Nationalgalerie zu sehen; brannte darauf, nach Stratford zu eilen und Shakespeare zu ehren – nicht daß er in den letzten fünfundzwanzig Jahren Shakespeare durch Lesen geehrt hätte – und nach Canterbury zu eilen – nicht daß er jemals soweit gegangen wäre, Chaucer zu lesen.

Aber Fran war nicht dafür. »Du lieber Gott, wir sind doch keine Touristen, Sam! Ich hasse diese Ansichtskartenorte. Kein Mensch, der wirklich etwas ist, geht hin. Clyde Lockert ist bestimmt noch nie im Tower gewesen. Natürlich, Galerien und Kirchen sind etwas anderes – kluge Menschen studieren sie sogar. Aber im Cheshire Cheese zu sitzen, mit allen möglichen Leuten aus Iowa und Oklahoma, die begeistert von Dr. Johnson reden – entsetzlich!«

»Ich muß sagen, ich verstehe dich nicht ganz. Was hat es für einen Sinn, in eine berühmte Stadt zu kommen und sich dann nicht alles anzusehen, was sie berühmt gemacht hat? Du mußt ja nicht Ansichtskarten verschicken, wenn du nicht willst! Und ich glaube auch, die Leute aus Iowa werden dich nicht beißen, wenn du sie in Ruhe läßt!«

Sie suchte ihm klarzumachen, wie schön es sei, auf Reisen den Snob zu spielen. Aber in ihrer Einsamkeit begleitete sie ihn schließlich sogar in das berühmte Lokal Dr. Johnsons; nur, als der Kellner ihr die Gästebücher zeigen wollte, wurde sie ziemlich bösartig.

Auf seinen ziellosen Spaziergängen durch London lernte Sam, die gewaltige Größe der Stadt als etwas Naturgegebenes hinzunehmen, ahnte er die Millionen von Geschichten, die sich hinter den Fenstern dieser Millionen von Häusern abspielten. An klaren Tagen, wenn das seltene kümmerliche Sonnenlicht die graugrünen Ziegel streichelte, aus denen die Hinterfronten der Londoner Häuser bestehen, bekamen auch diese häßlichen Mauern, im Kontrast zu dem sie sonst umhüllenden Dunstmantel, für Sam Reize, die er in dem derben Sonnenschein strahlender Wintertage in Zenith nie gefunden hatte. Er gewann mit der Zeit sogar die lächerlich stolzen kleinen Läden mit den geschmacklosen Glas- und Goldschildern lieb: Schokoladengeschäfte, auf deren Pralineschachteln die Bilder der Mitglieder des königlichen Hauses prangten, Tabakläden mit Zigarettendosen aus falschem Silber für die Sonntagsspaziergänge kleiner Angestellter; ja sogar die Wärme- und Dunstwellen aus den Fischbackstuben. Es bereitete ihm ein kindisches Vergnügen, die Autobuslinien kennenzulernen, mit Kennermiene sagen zu können: »Nehmen wir einen Zweiundneunziger und fahren wir auf dem Oberdeck nach Hause!« Die Männlichkeit Londons, der Stadt der Männer, die von der Niederwerfung barbarischer Völkerschaften und der Beherrschung ferner Einöden heimkehren, schien etwas ihm Verwandtes zu haben … Aber Fran begann von Paris zu sprechen, der weibischen und koketten Freistatt der Wirklichkeitsflucht.

Zwischen ihren Entdeckungsfahrten genossen sie eine Weltabgeschiedenheit, von der sie in den Tagen ihrer geschäftigen Herrschaft in Zenith nichts geahnt hatten.

Abend für Abend saßen sie im Hotel und spielten sich vor, daß sie von den »Rundfahrten« des Tages erschöpft wären; daß sie erschöpft wären und froh, allein zum Essen zu gehen. Aber Sam wußte gut, daß sie wartete, daß sie wartete und betete, das Telephon möge klingeln.

Bei den Dinners, zu denen sie gebeten worden waren, hatten sie nette Leute kennengelernt, die sagten: »Sie müssen bald zu uns kommen!« und sie dann mit Freuden vergaßen. Londons Gleichgültigkeit gegen ihre Reize bedrückte Fran, schien sie zu entsetzen. Sie war voll melancholischer Dankbarkeit, wenn er daran dachte, ihr Blumen zu schicken, wenn er ein neues nettes Lokal zum Speisen fand. Abwechselnd empfand er Mitleid mit ihr und freute er sich, daß sie jetzt, in ihrer Isolierung, einander so nahe waren wie noch nie.

Sie war fast ängstlich, als Tub Pearsons Neffe Jack Starling, Sekretär an der amerikanischen Botschaft in London, von seiner Reise zurückkehrte, einen formellen Besuch machte, Frans Teint und Sams Grammatik begutachtete und die beiden mit reservierter Begeisterung anerkannte. Er war ein angenehmer, gut gebügelter junger Tanzmensch, der sehr viele Einfälle hatte – nicht besonders gute, aber sehr muntere und wortreiche Einfälle. Er sagte zu Sam »Sir«, was Sam fast ebensoviel Vergnügen wie Verlegenheit bereitete. In Zenith gebrauchte niemand außer Männern, die im Krieg als Offiziere gedient hatten, das Wort »Sir«, es sei denn als wütende Ansprache an kleine Jungen, die man im nächsten Augenblick durchhauen wollte.

Und als Starling da war, kam Lockert plötzlich wieder, als wäre er nie fort gewesen, Lord Herndon blieb einen Monat in der Stadt, und ohne jeden ersichtlichen Grund gab es für die Dodsworths mehr Lunche, Tees, Dinners, Tanzabende und Theaterbesuche, als eine Löwenjägerin hätte ertragen können. Fran angeregt und beschäftigt zu sehen, machte Sam so glücklich, daß er sich erst nach vollen vierzehn Tagen eingestand, daß nur eines ihn mehr anekle, als bei Bällen ein überlebensgroßes Mauerblümchen zu sein: nämlich bei Dinnergesellschaften verschlafen und verständnislos zuhören zu müssen; und daß alle die Leute, die sie besuchen mußten, die sie zu ihren eigenen kleinen Dinners einladen mußten, Menschen waren, die er mit tausend Freuden nie wiedersehen würde. Es gelang ihm auch nicht, sich einzureden, daß ihre eigenen Gesellschaften (in einem Privatraum im Ritz, wobei er so tat, als würde er die Cocktails vor dem Essen inspizieren, und Fran ganz aufgeregt am Blumenarrangement arbeitete) auch nur im geringsten munterer wären als die anderer Leute. Die Konversation war ebenso behutsam, die Brottunke schmeckte um nichts weniger nach Brot, und die böse Stunde von halb zehn bis halb elf verfloß keineswegs rascher oder heitrer.

Fran war jetzt so beschäftigt, daß Sam sich vergnügt drücken und mit Mr. A. B. Hurd an Fachgesprächen über Automobilpreise, schmutzigen Geschichten und allgemeiner amerikanischer Gemeinheit erfreuen konnte.

 

Mr. Hurd hatte sein Bestes getan, gastfreundlich zu sein, und da er nie auf den Gedanken gekommen war, daß es Menschen geben könnte, die, wie Fran, von seiner Gastfreundlichkeit gar nichts wissen wollten, war er scheu geworden – sogar seine großartige Verkäuferzuversicht hatte zu wanken begonnen. Er war einmal, nach zahllosen telephonischen Anrufen, von Fran zum Tee eingeladen worden, und bei dieser Gelegenheit hatte er seine in Oklahoma geborene Frau in die Stadt geholt und seinen ziemlich altmodischen Gehrock sowie seine neuen Gamaschen angelegt.

Er kam ziemlich heiter herein, als aber Mrs. Hurd hinter ihrem lärmenden Gatten ins Zimmer schlich, war Sam so gerührt, daß er seine ganze Ritterlichkeit zusammennahm. Sie hatte ein blauseidenes, am Rücken zugehaktes Kleid an. Ihre Hände mit den polierten, zugespitzten Nägeln wirkten nur um so rauher, weil sie ganz frisch manikürt waren. Hurd hatte jetzt ein recht anständiges Einkommen, aber Sam wußte, daß Mrs. Hurd Teller, Windeln und schmutzige Fußböden gewaschen hatte. Sie lächelte mit rundem Mund, doch in ihren Augen stand Angst und Verlegenheit, als sie in dem kleinen Vorraum des Appartements Sam die Hand reichte und rief:

»Mein Gott, ich habe ja so viel von Ihnen gehört, Mr. Dodsworth! Al spricht ununterbrochen von Ihnen und was für ein wunderbarer Chef Sie sind und wie nett es bei Ihnen war, als er zum letztenmal in Zenith war, und wie er sich darüber gefreut hat, mit Ihnen zu essen, und – es ist wirklich reizend, daß Sie jetzt hier in London sind, und ich hoffe, Mrs. Dodsworth und Sie werden es möglich machen können, daß Sie aufs Land hinauskommen und uns besuchen. Ich weiß, wie viel Sie zu tun haben, mit Gesellschaften und so weiter, aber –«

Sam führte sie in den Salon; er suchte Frans Blick zu fangen, um ihr zu signalisieren, sie solle nett sein, während er vorstellte:

»Fran, das ist Mrs. Hurd. Es ist wirklich eine Freude, sie kennenzulernen, nachdem wir ihren Mann schon so lange kennen.«

»Guten Tag, Mrs. Hurd«, sagte Fran, und ihr Ton gab an Höflichkeit und Unfreundlichkeit dem von Lady Ouston in nichts nach.

Mrs. Hurd stammelte: »Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, wirklich«, dann setzte sie sich ganz vorne auf ihren Sessel, dankte für den Kuchen, den sie zu gern genommen hätte, und sah erschrocken aus, während Fran über Paris plauderte. Sie wagte nicht von der Einladung zu sprechen, obwohl dies offenbar der eigentliche Grund ihres Besuches war. Während Sam Hurd und Hurd Sam schwerfällige Komplimente machte, während Fran süß und giftig sagte: »Es ist aber wirklich zu reizend von Ihnen, daß Sie den weiten Weg gemacht haben, um uns aufzusuchen, Mrs. – äh – Hurd«, war die gute Frau ganz entsetzt und wagte nichts weiter zu sagen als: »Mein Gott, Sie haben wirklich sehr schöne Zimmer hier. Sie kennen wohl schrecklich viele Engländer – Lords und so, nicht?«

Nach diesem Ereignis gab Hurd es widerstrebend auf, zu telephonieren.

Als Fran aber nach Lockerts und Jack Starlings Rückkehr genügend bewundert wurde, war Sam hin und wieder imstande, sich fortzustehlen und Hurd zu sehen.

Nach etwa vierzehn Tagen schlug Hurd beim Lunch vor:

»Hören Sie, Chef, ich möchte an einem der nächsten Abende gern ein Junggesellenessen für Sie aufziehen. Es sind ein paar erstklassige amerikanische Geschäftsleute hier in London. Wir wollen uns bloß um einen Tisch rumsetzen und gemütlich sein. Wie wär' es mit dem nächsten Samstagabend?«

»Ausgezeichnet, ich will sehen, ob ich mich frei machen kann.«

Als Sam ins Hotel zurückkam, trank Fran mit Lockert Tee.

»Ich merke, daß Sie wieder mit einem Ihrer lustigen amerikanischen Freunde zusammen waren«, sagte Lockert.

»Wieso?«

»Sie haben eine ganz anständige Stimme, wenn Sie etwa eine Woche ausschließlich unter unserem insularen Einfluß waren, aber sowie Sie mit Amerikanern zusammenkommen, wird sie wieder scharf und monoton.«

»Das ist aber schlimm!« murmelte Sam, während er sich an den Kamin lehnte und überlegte, was wohl geschehen würde, wenn er seinen Tee, mitsamt der Tasse, Lockert an den Kopf würfe. Der Teufel sollte den Kerl holen! Ach, natürlich war er freundlich, er meinte es gut, und wahrscheinlich hatte er mit seinen Anspielungen auf das Benehmen amerikanischer Barbaren in England ganz recht. Trotzdem – verflucht, es gab immerhin ein paar ganz anständige Leute, denen Sam Dodsworth, so wie er war, zu gefallen schien!

Er unterbrach Frans Bericht über ihre Einkäufe: »Hör mal, mein Kind, Hurd will mir am nächsten Samstagabend ein Junggesellenessen geben, mit einigen von den amerikanischen Geschäftsleuten hier. Ich muß wohl kommen; er hat sich so Mühe gegeben, nett zu sein.«

»Und du würdest auch gern hingehen? Zurückkehren zu den Rotarianerfreuden Zeniths?«

»Selbstverständlich möchte ich gern. Ich glaube, wir haben den Abend frei. Könntest du nicht ins Kino oder irgendwohin gehen? Ich möchte wirklich –«

»Aber du mußt mich doch nicht um Erlaubnis fragen, wenn du einen Abend für dich haben willst!«

(»Einen Dreck muß ich nicht!«) »Nein, natürlich nicht, aber ich möchte nicht, daß du dir vernachlässigt vorkommst.«

»Hören Sie, Fran«, meldete sich Lockert, »wollen Sie an diesem Abend mit mir essen und in die Oper gehen?«

»Ja –« antwortete Fran überlegend.

»Ausgezeichnet!« sagte Sam. »Es bleibt dabei.«

In diesem Augenblick kam Jack Starling, und Sam schwieg, während die anderen drei sich vergnügt über Amerika lustig machten. Sam dachte. Es war eine ziemlich neue Beschäftigung für ihn, die ihn noch ein wenig verwirrte. Es ist eine Krankheit bei beiden Völkern geworden, überlegte er, dieses Diskutieren England contra Amerika; dieses unaufhörliche gereizte Familiengezänk. In den Maisfeldern im Mittelwesten, in den Dörfern in Yorkshire und den cornwallischen Fischerorten spricht man natürlich nicht oft darüber. Aber die Menschen, die reisen und ihre Vettern von der andern Nation treffen, die Menschen auf beiden Seiten des großen Wassers, die sich von Zeitungen nähren, sind ganz besessen.

Fran und Lockert und Starling, wie sie darauflosschwatzen –

Sie finden so viel komisch –

Er selbst, er möchte lieber eine von Hurds Geschichten hören –

Nein. Das ist nicht wahr. Diese Londoner (und Fran und Starling geben sich Mühe, Londoner zu werden) können besser sprechen als die Bürger Zeniths. Sie werden oft ein bißchen albern, sie kichern, sie werden mehr als ein bißchen boshaft, aber sie finden das Leben amüsanter, als seine vom Geschäft gehetzten Freunde zu Hause.

Ist es denn nicht möglich – gibt es denn nicht sowohl in England wie in Amerika Leute, die ebenso tüchtig und einfach und herzlich sind wie Mr. A. B. Hurd, aber trotzdem so heiter wie Fran oder Jack Starling, so vielseitig gebildet wie Lockert, der, während er gelangweilt tut, von Voudoos und Rajahs erzählen kann?

Lockert – verflucht, muß Lockert denn immer in seinen Gedanken herumspuken?

Es ist doch wahr, was er sich zu verheimlichen gesucht hat. Das schöne Einandernahesein, das die Einsamkeit Fran und ihm während zweier Wochen brachte, ihre Freude an ihm und ihr Verzicht auf die Welt, das alles ist nicht mehr da, und sie strebt wieder fort von ihm.

 

Mr. Hurds Junggesellenessen für Sam war auf halb neun angesetzt. Lockert und Fran gingen schon um sieben Uhr, um noch vor der Oper zu essen. Sam begleitete sie väterlich hinaus, und Fran rief höchst töchterlich: »Hoffentlich amüsierst du dich gut, Sam, und grüße Mr. Hurd von mir, er ist wirklich eine recht gute Seele.« Aber sie blickte nicht zurück, als sie über den Korridor zum Fahrstuhl ging. Sie hatte Lockerts Arm genommen, sie plauderte eifrig mit ihm.

Eine Stunde lang ging Sam im Zimmer auf und ab, zu einsam, um denken zu können.

 

Hurds Dinner wurde in einem Privatraum im Dindonneau-Restaurant in Soho gegeben. Auf einem Hufeisentisch standen Vergißmeinnichttöpfe, in die kleine amerikanische Fahnen gesteckt waren. Hinter dem Platz des Vorsitzenden hing ein Bild des Präsidenten Coolidge, rot, weiß und blau drapiert, und an der ganzen Wand verteilt waren – weiß der Himmel, wo Hurd alles aufgetrieben hatte – die Wappen und Fahnen Yales, Harvards und der Winemac-Universität, der Elche, der Sonderbaren Brüder, der Wapiti, der Waldmänner, der Rotarianer, der Kiwanianer und der Zenither Handelskammer, dazu noch ein großes Plakat des Revelation-Automobils.

Fran hätte sich darüber lustig gemacht …

Draußen war das dunkle, krumme Sohogäßchen mit verschwommenen Lichtern von einem Singhalesenrestaurant, einem französischen Buchladen, einem Perückenmacher und einem Austernbüfett. Das Zimmer selbst sah wild fremdartig aus, es hatte von einem Schildermaler – oder Scheunenanstreicher – verfertigte Fresken: Isola Bella, Fiesole, Castel Sant' Angelo. Aber Sam gönnte alledem gar keinen Blick. Er – der in seinem ganzen Leben nur einen einzigen Rotarylunch mitgemacht hatte – sah sich das Rotaryrad an, und sein Lächeln dabei war seltsam schüchtern. Er konnte keine Ursache dafür finden, aber mit einemmal erweckten diese Banner das Gefühl in ihm, daß er in der kalten Niedrigkeit des Exils doch noch jemand sei.

Noch mehr fühlte er sich als jemand, als er den Gästen vorgestellt wurde.

Manche von diesen waren erst einen Monat, manche schon dreißig Jahre in England, und sie waren so verschieden voneinander wie die Tiere in einem zoologischen Garten, wo der Löwe neben dem Affenkäfig untergebracht ist. Doch alle hatten etwas von der amerikanischen Herzlichkeit und von jenem Schnarren, das »durch die Nase reden« heißt, weil es nichts anderes ist als die Unfähigkeit, durch die Nase zu reden. Da war Stubbs von der Haymarket-Filiale der Pittsburgh and Western National Bank, ein grauhaariger ernsthafter Mann von fünfzig Jahren, ein wahrer Golffanatiker. Der junge Ertman, der Londoner Korrespondent des Chicago Register, früher Rhodes-Stipendiat in Oxford, sehr vornehm und literarisch. Der junge Suffern vom Baltimore Eagle, sehr laut, mit sehr rotem Gesicht und breiten Schultern. Doblin, der Leiter der englischen Vertretung der Lightfoot-Nähmaschinen-Agency, alt und fadendünn und freundlich. Markart von der Orient Kaugummi Corporation, Knabe von der Serial Registrierkassen; Fish von der amerikanischen Speditionsgesellschaft, Smith von der Internationalen Touristenagentur; Nutthal von der Anglo-Peruanischen Bank – er war in Lancashire geboren, hatte aber achtzehn Jahre in Omaha gelebt und war dreihundertprozentiger Amerikaner. Und eine Anzahl von amerikanischen Automobilvertretern.

Jeder einzelne von ihnen drückte Sam die Hand und brummte (nur das Brummen des Rhodes-Stipendiaten hatte mehr Katzen- als Hundehaftes): »Es ist mir wirklich ein großes Vergnügen Sie kennenzulernen. Haben Sie vor lange hier zu bleiben?«

In der Nähe der Tür stand ein Wandtisch mit Martini-, Manhattan- und Bronx-Cocktails, mit Flaschen Scotch, Canadian Club, amerikanischem Korn und Bourbon. Sam mußte vier Cocktails trinken, und als er seinen Platz neben A. B. Hurd aufsuchte, hatte er ganz und gar vergessen, daß er jemals einsam gewesen war, daß Fran bei Lockert war.

Bei Tisch ging es ziemlich laut und lustig zu, es wurde viel über den ganzen Tisch geschrien, und die meisten Witze begannen: »Kennen Sie den mit den zwei Juden –« Und es kann nicht verhehlt werden, daß Sam, der jetzt die Ehre hatte, die Vorstädte der korrekten englischen Gesellschaft zu besuchen, sich besser amüsierte als bei allen Dinners der letzten Woche. Seine Freude wurde nicht einmal geringer, als nach dem Dessert Cognaks und Soda-Whiskys kamen und einige der Gäste – für einen Abend frei von ihren amerikanischen Frauen, denen das Leben in England nicht die Überzeugung hatte rauben können, die Rechte der Frau beständen darin, daß die Rechte der Männer beschnitten würden – als einige der Gäste die Gelegenheit benutzten, um sich ordentlich und regelrecht zu betrinken und voll sentimentaler Sehnsucht amerikanische Lieder herauszuheulen.

Aber zwischendurch geriet Sam Dodsworth in ein Kreuzfeuer von Fragen über das Thema, das nun schon auch ihn wie eine Krankheit quälte: Ist Amerika das Rom der Welt, oder ist es England und Europa unterlegen? Oder beides durcheinander?

Unter den dreißig Männern waren keine zehn, deren Sprache verriet, daß sie im Ausland gelebt hatten. Wenn sie gelegentlich statt eines amerikanischen einen britischen Ausdruck gebrauchten, so klang es nicht anders, als würden sie etwas aus einem englischen Roman vorlesen. Nicht sechs waren darunter, die selbst von Amerikanern für Engländer gehalten werden konnten, nicht drei, die ein Engländer für Engländer gehalten hätte.

Und doch waren, wie Sam zu seiner Verblüffung entdeckte, nicht mehr als sechs da, die den Rest ihres Lebens in Amerika verbringen wollten.

Daß Weltbürger gemischter Abstammung mit einer Schwäche für Titel und Baccarat, daß excentrische Künstler, die eine Vorliebe für Maitressen und Schach haben, und Müßiggänger, die Gesellschaft zum Nichtstun brauchen, es vorziehen im Ausland zu leben, hatte er verstanden. Aber daß dies auch bei diesen wackeren Dreißig – guten Kaufleuten, anerkannten Autoritäten für Registrierkassen und Automobilreifen – so sein sollte, beunruhigte und mystifizierte ihn.

Diese Männer glaubten, und verkündeten es auch kampflustig, daß Amerika das »großartigste Land der Welt« sei, nicht nur wegen seines Vermögens, seiner stets wachsenden Bevölkerung und seiner unvergleichlichen Bequemlichkeiten des täglichen Lebens, nicht nur wegen seiner Energie und technischen Erfindungsgabe, sondern gleichermaßen wegen seiner Vornehmheit, seiner Freundlichkeit, seines Humors, seines Lerneifers. Kaum einer war da, den es nicht danach verlangte, seinen eigenen geliebten Teil Amerikas wiederzusehen –

New York in einer Winternacht, lockende Theater, die Häuser an der Park Avenue, die in dem von einer Million Lichtern schimmernden Himmel verschwinden. Vermont an einem Herbstnachmittag, Ahornbäume, die wie Fackeln flammen. Hochsommer in Minnesota, wo die Maisfelder flüstern, wo man auf der ungeheuren Fläche wogenden Weizens, der sich unter dem Wind beugt, die roten hohen Silos und den Turm der deutschen katholischen Kirche sieht. Das ernste Schweigen der Wildnis: Hochebenen zwischen den zackigen Sierra Nevada Gipfeln, wiesenbewachsene Anhöhen in Arizona, Seen in Wisconsin, die in ihren dunkeln Wassern die goldenen Stämme norwegischer Fichten liebkosen. Die Fächerfenster über den alten Torwegen in Litchfield und Sharon. Stolze, kalte Sonnenuntergänge während der letzten fünf Minuten des Großen Spiels zur Zeit der Danksagungsgottesdienste – Illinois gegen Chicago, Yale gegen Harvard – ja, und voll sentimentaler und unvergeßlicher Erinnerungen, Schnutz College gegen die Landwirtschaftliche Hochschule von Maginnis. Städte von einer Viertelmillion Einwohner mit phantastischen verrauchten Stahlhütten gleich wahnsinnig gewordenen Kathedralen, die im Verlauf von zwanzig Jahren auf unbewohnten Sandwüsten entstanden sind. Die lange Landstraße und eine etwas zerlumpte, sehr abenteuerlich aussehende Familie in einem knarrenden alten Ungetüm von Automobil, dem Wanderwagen von heute, unterwegs, um die ganze Welt von Seattle bis Tallahassee zu sehen, die Fahrt unterbrechend, um sich Speck, Brot und Öl durch Erntearbeiten zu verdienen; das nächtliche Singen in den Touristenlagern am Rande der Ortschaften –

»Selbstverständlich möchte ich zurück nach Alabama – wir haben sehr hübsche Mädchen da, und wenn Ihr schon von euerem berühmten Schildkrötengericht in Georgia sprecht, dann muß ich allerdings sagen«, meinte Stubbs von der Pittsburgh and Western National Bank, »das beste Essen in der ganzen Welt gibt es in Alabama.«

Und Primble von der International Films Distributing Agency näselte: »Einmal im Jahr muß ich einfach in die Ozark-Berge gehen und fischen.«

Aber abgesehen von einem halben Dutzend an Heimweh leidender Seelen leugnete keiner von ihnen, daß er weiterhin Amerika lieben, preisen und bewundern werde, und in Europa bleiben, so lange er nur könne.

Die Bekenntnisse aller hätten zusammengefaßt werden können in den Gedanken des alten, fadendünnen und freundlichen Doblin, Prokonsuls der Nähmaschinen und Doyens der amerikanischen Geschäftskolonie, der murmelte (während die anderen zuhörten, nickend, nervös die Asche von den Zigaretten abstreifend, oder die Zigarren in den Mund geklemmt):

»Also, ich will euch sagen, wie ich für meine Person darüber denke. Mir scheint, die Hälfte, oder vielleicht auch zwei Drittel aller Amerikaner sind die nettesten Kerle, die es gibt – die freundlichsten, interessiertesten und lustigsten Menschen. Und das restliche Drittel besteht wohl aus den übelsten Schweinen, den übelsten zudringlichen Lümmeln, den unwissendsten und eingebildetsten Dummköpfen, die der liebe Gott in seinem Zorn erschaffen hat. Männer und Frauen! Ich würde mit dem größten Vergnügen in Amerika leben: wenn. Wenn wir die Prohibition los würden, so daß man ein Glas Bier trinken kann und nicht gezwungen ist, Gin und Fusel zu trinken. Wenn wir alle halbgebildeten Geistlichen und Journalisten und Politiker, die nur für sich Reklame machen können, los würden, so daß das Volk zu ein wenig selbständigem Denken kommen könnte und nicht von einem Haufen Polizisten des Geistes und der Moral weitergeschoben würde. Wenn unsere Straßen nicht so gottverdammt lärmend wären. Wenn es viel mehr Kaffeehäuser und viel weniger Autos gäbe. Entschuldigen Sie, Mr. Dodsworth, Sie sind Automobilfabrikant, aber das ist mir nun schon herausgerutscht, und da werde ich wohl auch dabei bleiben müssen.

Aber das Ganze, das, worauf es ankommt, ist viel schwerer zu sagen. Es ist durchaus nicht so einfach, als ob es bloß die Prohibition wäre … Herrgott, wie viele Leute meinen, daß sie tiefsinnig sind, wenn sie über diese eine Frage sprechen! … Das Ganze – Ach, das Leben ist hier viel behaglicher! Die Nachbarn spionieren einen nicht aus, sie klatschen nicht und halten es nicht für ihre Pflicht, einem zu erzählen, wie man leben soll, was man bei uns zu Hause ja tut. Nicht daß ich etwas zu verbergen hätte. Ich bin seit dreißig Jahren nicht betrunken gewesen, ich bin meiner Frau treu gewesen – wenn Sie nicht mitrechnen wollen, daß ich einmal auf der Überfahrt eine kleine Witwe geküßt habe, und das war auch alles! Aber wenn es etwas gibt, das mich auf alle Laster scharf machen kann, von denen ich einmal gehört habe, dann wäre es der Gedanke daran, daß mir ein Haufen Moralhunde ununterbrochen nachschnüffelt, wie es in den Staaten der Fall ist. Und man bekommt bessere Dienstboten hier – ja, und die Dienstboten selbst lieben hier ihre Arbeit ganz gehörig mehr als unsere Mädchen in Amerika, weil sie erzogen werden, weil man sie respektiert, weil sie sichergestellt sind, weil die Weiber nicht den ganzen lieben Tag die Nase in ihre Eiskästen und ihre Liebesbriefe stecken. Und das Geschäft – Die größte von allen amerikanischen Lügen ist die Behauptung, daß wir um so viel tüchtiger sind als die Leute hier und auf dem Kontinent. Diese ganze Hochdruckaufschneiderei der Verkäufer! Ich bin überzeugt davon, daß man mit dieser Methode mehr Kunden abschreckt als bekommt. Und hier zu Lande läßt man sich das einfach nicht gefallen! Der Engländer weiß, was er kaufen will, und denkt nicht daran, sich etwas anderes aufdrängen zu lassen. Und der Schotte weiß, was er nicht kaufen will! Die Hälfte unserer sogenannten Tüchtigkeit besteht darin, daß man herumläuft, ein großes Geschrei macht und Zeit vergeudet. Den idealen schmissigen amerikanischen Geschäftsmann stelle ich mir immer so vor, daß er die eine Hälfte seiner Zeit darauf verwendet, seine Briefe abzulegen, und die andere, sie wiederzufinden. Und dann – der Engländer kommt sich nicht tugendhaft vor, wenn er besonders lange im Bureau bleibt, ohne etwas Wichtiges zu tun zu haben. Er geht frühzeitig nach Hause und spielt Golf oder Tennis oder arbeitet in seinem Garten. Er liest sogar ein Buch! Und er hat irgendein Steckenpferd, so daß er etwas zu tun hat, wenn er sich zur Ruhe setzt; er verzehrt sich nicht, wie wir, einfach allmählich in Langerweile, wenn er alt ist.

Der Engländer arbeitet, und arbeitet auch schwer, aber er fällt nicht auf den Unsinn herein, daß die Arbeit an sich – jede Arbeit, für jeden Zweck – etwas Edles ist. Wenn ich nach Hause komme – also, da ist der alte Emmanuel White, der Generaldirektor meiner Gesellschaft. Er ist jetzt zweiundsiebzig Jahre alt und hat sich noch nie Urlaub genommen. Er ist zwei Millionen Dollar wert und kommt um acht Uhr ins Bureau. Manchmal bleibt er bis elf Uhr nachts und sieht dann noch nach, ob nicht jemand eine Lampe hat brennen lassen. Vielleicht macht es ihm Spaß, aber anmerken kann man ihm das nicht. Er sieht aus, als ob er von Essig lebte, und eine Unterredung mit ihm zu haben, ist ungefähr so angenehm wie einen kranken Tiger pflegen. Und die Leute von vierzig und fünfundvierzig, die nie ausspannen, selbst wenn sie sich einen Nachmittag frei nehmen – dann fahren sie wie der Deibel hinaus auf einen Golfplatz. Die größte Lüge der Welt!

Aber wir fangen auch bei uns daheim doch ein wenig über Muße zu lernen an, glaube ich. Das läßt mich hoffen, daß wir eines Tages von unserem Optimismus und unserer Rhetorik geheilt werden. Aber ich erwarte nicht, das noch zu erleben, und Sie können Gift darauf nehmen, daß ich hier in England bleibe, auch wenn ich mich zur Ruhe gesetzt habe. Ich habe ein kleines Häuschen in Surrey mit einem Morgen Land und einem Rosengarten. Aber ich bin Amerikaner, genau so Amerikaner, wie ich immer war. Und es gibt hier, Gott sei Dank, genug Amerikaner, so daß ich immer wieder einen sehen kann. Ich bewundere die Engländer, aber ich komme mir in ihrer Gesellschaft ein bißchen ungeschliffen vor. Hier leben – und ob! Übrigens, das ist einer der besten Beweise dafür, daß Amerika das großartigste Land der Welt ist: Paris und London sind zwei entzückende amerikanische Städte geworden!«

Sam war einigermaßen entsetzt. Doblin war der altmodische Yankee, ein Amerikaner gerade von der Art, die ihm lieber war als alle neuen Geschäftsevangelisten.

Noch viel entsetzter war er, als Fish von der amerikanischen Speditionsgesellschaft – der große freundliche Fish, der an der Universität Zentrum gespielt hatte – lachend sagte:

»Na klar! Im ersten Jahr habe ich ununterbrochen Heimweh gehabt, dann bin ich nach Hause gefahren, und ich wollte auch dort bleiben. Na, ich habe es knapp ein Jahr im guten alten Chicago ausgehalten! Herrgott, die Hochbahn, jeden Abend durch den Verkehr nach Wilmette hinausfahren, das ewige Geschrei über Kapitalisierungen und Bridge! Nicht einmal das Golf hat mir Freude gemacht! Herrgott, haben die Leute dabei geschwitzt! Immer waren sie schuldbewußt, als hätten sie noch einen Schlag vom Tag vorher nachzuholen. Und die meisten haben ja nur gespielt, um im Klub eventuell Kunden kennenzulernen und ihnen bei achtzehn Löchern achtzehn Aktien anzudrehen. Ich habe mich wieder hierher versetzen lassen. Ich glaube, ich würde mich melden, um für Amerika gegen jedes Land zu kämpfen, aber – Kann sein, daß Amerika noch zivilisiert wird. Ich werde meine beiden Jungens auf eine amerikanische Universität schicken, und dann sollen sie selbst entscheiden, ob sie dort bleiben oder zurückkommen wollen. Vielleicht sollten wir zu Hause bleiben, um alles das, was uns nicht gefällt, zu bekämpfen, und uns nicht verbannen lassen. Aber das Leben ist so kurz. Ich möchte schon ein guter Patriot sein, aber – Hören Sie! Sie sollten mein Haus in Chelsea sehen – zwanzig Minuten vom Trafalgar Square, selbst mit einer Pferdedroschke, und doch ist es dort so still wie in einem Hinterwäldlerdorf in Nebraska. Noch stiller! Weil es hier keine halbwüchsigen Burschen gibt, die Gin saufen und mit Geschrei in alten Autos herumfahren, und keine Evangelisten, die im großen Zelt Krach schlagen.«

 

Sam dachte nach.

Es beginnt ihm in England zu gefallen. Vielleicht wird er wirklich hier leben. Sich an irgendeiner Automobilvertretung beteiligen. Ein schwarz-weißes Haus in Kent haben, mit zehn Morgen Land. In den amerikanischen Klub eintreten. Das hier sind gute Burschen – drei oder vier davon können vielleicht sogar vor Frans Augen Gnade finden. Einsam wird er hier nicht sein. Er wird es lernen, mit Behagen zu leben. Und wenn Tub einmal im Sommer herüberkäme. Im Automobil mit Tub durch ganz England und Schottland – in St. Andrews Golf spielen –

Ja.

Aber er dachte an die Schrecken eines überaus feinen Tees in St. John's Wood, zu dem Jack Starling sie mitgenommen hatte. Er dachte an die fürchterliche Langeweile der Dinnergesellschaften – man diniert einsam in Gesellschaft. Er dachte daran, wie peinlich es ihm war, daß er die gewaltigen Unterschiede zwischen einem Oxforder und einem Mann, der an der Universität London promoviert hat, die abgrundtiefen Unterschiede zwischen Leuten, die in Eton oder ähnlichen Instituten waren, und den anderen nie begreifen konnte. Und doch – Es ist etwas an dem Leben hier –

Er hat nicht das Gefühl, sich beeilen zu müssen, wenn er durch die Londoner Straßen geht. Er hat keine Lust, jetzt erst recht nicht, in ein Bureau in Zenith zurückzukehren und heftigen jungen Männern zuzuhören, die schwülstige Reden über Wischer für Windschutzscheiben halten; er sehnt sich nicht danach, die Preislisten einer Firma zu studieren, die Polsterstoff um 0,06774 Cents billiger liefern kann, oder die berühmten Begrüßungsworte Doc Wimpoles, des Possenreißers im Golfklub, zu hören: »Na, da haben wir ja den alten Mörder! Wieviel Witwen und Waisen haben Sie in dieser Woche mit Ihren miserablen Autos umgebracht?«

Nein!

Nach überaus herzlichen Händeschütteln ging er nach Hause, vergnügter denn je über sein neues Wanderleben … und hoffend, daß Fran nicht sagen würde: »Hast du dich mit den großen amerikanischen Handelskapazitäten gut unterhalten?«

Sie wird es aber sagen! Sie wird aufwachen, und wenn er noch so leise in das Schlafzimmer kommt, und sagen – (hier in der Autodroschke erledigte er es schon im voraus) sie wird sagen: »Na, hoffentlich hast du dich mit Mr. Hurd und den anderen herzensguten Rotarianern gut unterhalten!«

»Jetzt hör mich mal an! Ich habe heute abend vernünftiger reden gehört als bei irgendeinem deiner Dinners, wo Privatleute sich Mühe geben zu reden wie Abgeordnete, und Abgeordnete zu sprechen suchen wie Privatleute –«

»Aber lieber Sam, du wirst ja geradezu literarisch! Der Einfluß des guten Mr. Hurd ist erstaunlich! War seine Frau da? Sie würde ausgezeichnet zu einem Junggesellenessen passen!«

»Jetzt paß aber auf! Ich weiß, wie überaus gelehrt du bist, und ich weiß auch, daß ich ein ungeschliffener Geschäftsmann bin, aber vielleicht darf ich dich daran erinnern, daß ich ein ziemlich bekanntes Institut für junge Herren in New Haven besucht habe, daß ich wirklich etliche Bücher gelesen habe, und außerdem –«

Es war ein vollständiger Triumph, in der Autodroschke.

Er kam strahlend ins Zimmer. Auf dem Sofa lag auf ihrem zerdrückten goldenen Abendcape Fran und schluchzte.

Er blieb ganze fünf Sekunden an der offenen Tür stehen, bevor er seinen Zylinder auf den Tisch warf, zu ihr eilte, sich auf das Sofa fallen ließ und rief:

»Was ist denn? Liebes! Was ist denn?«

Sie hob ihr zuckendes Gesicht gerade weit genug, um es auf sein Knie zu betten, während sie klagte:

»Ich habe immer gesagt – ach verflucht! – ich habe immer gesagt, daß es in Wirklichkeit ein Kompliment für eine Frau ist, wenn sie, wie man so schön sagt, insultiert wird. Das mag es ja sein, aber, Sam, ich finde es fürchterlich! Fürchterlich! Ach, ich möchte nach Hause! Oder auf jeden Fall fort von England. Ich kann es nicht ertragen. Wahrscheinlich ist es meine Schuld, daß –

Nein, nein! Ich schwöre, es ist nicht meine Schuld! Ich habe ihm nie auch nur den allerkleinsten Grund gegeben zu vermuten, daß – O Gott, wie ich diesen Mann hasse! Er ist so eingebildet, worauf denn nur? Ich frage dich, worauf? Was ist der Dummkopf schließlich denn mehr als eine gescheiterte Existenz, ein internationaler Vagabund, obwohl sein Vetter wirklich etwas ist! Was ist er denn, frage ich dich!

Die Sache war so. Ach, Sam, liebster Sam, es ist mir fürchterlich, es dir zu erzählen, weil ich mit schuld sein muß – zum Teil, Es war nach der Oper. Ich sagte zu Clyde – zu Major Lockert – wir sollten irgendwohin tanzen gehen. Aber er meinte, die guten Lokale wären alle so lärmend – ob wir nicht ganz einfach hier heraufgehen könnten, einen Schluck trinken und plaudern. Ich hatte nichts dagegen; ich war etwas müde. Zu Anfang war er schrecklich nett. (Oh, jetzt verstehe ich seine Methode ganz genau, und ich muß sagen, sie ist wirklich nicht schlecht!) Er saß – hier nebenan in diesem Sessel – er saß da und erzählte, wie einsam er als Kind war. Und du weißt doch, was für ein Kindernarr ich bin, du weißt, wie ich leide, wenn ich auch nur das Geringste höre, daß jemand nicht eine glückliche Kindheit gehabt hat. Natürlich mußte ich fast weinen. Und dann sagte er, er sei so fürchterlich unbeholfen und schüchtern (natürlich!) aber er müsse mir sagen, wie viel es für ihn bedeutet, mich zu kennen – ich sei ein so schöner weiblicher Einfluß – wirklich, ich glaube, er hat genau diese Worte gebraucht! – so einen schönen weiblichen Einfluß hat er natürlich höchstens ein- bis zweimal in der Woche – du kannst dir vorstellen, was für farbigen Mädchen er das auf seiner Plantage erzählt! – ich hasse ihn ja so!

Also, auf jeden Fall erzählte er mir, was für eine entzückende kleine Schwester ich für ihn gewesen war, und – weil ich eine dreidoppelte Gans bin – bin ich darauf hereingefallen, und schon war er auch hier auf dem Sofa neben mir und hatte meine Hand. Und ich gestehe – Oh, ich bin fürchterlich aufrichtig! Wenn du jemals so gemein sein solltest das später gegen mich auszunutzen, bringe ich dich um, das schwöre ich dir! … Gegen das mit der Hand hatte ich nichts einzuwenden … Bin ich eine schlechte Person? Ich fürchte, ich könnte eine werden! … Aber – Ich meine: er hat etwas Elektrisches an sich; er versteht es ausgezeichnet, eine Frau bei der Hand zu halten, nicht zu fest, und doch so, daß es einem über den Rücken läuft –

Also, er hat meine Hand gehalten, als wäre sie eine besonders heilige Reliquie. Und dann erzählte er weiter, mein Beispiel hätte ihn zur Einsicht gebracht, daß er sein Wanderleben aufgeben und sich eine prächtige Frau, wie mich, nehmen müßte. Und ich habe alles geglaubt! Ich bin mir vorgekommen, wie eine Nonne an einem Totenbett!

Also, er wollte damit aufhören sich treiben zu lassen und wirklich etwas mit dem Leben anfangen. Das hat er gesagt! ›Etwas mit dem Leben anfangen!‹ Ich hätte Bescheid wissen müssen!

Und dann –

Ach, du weißt, was er dann gesagt hat! Das brauche ich dir nicht zu erzählen. Wahrscheinlich hast du selbst es schon irgendeinem Frauenzimmer gesagt. Nur, wenn ich dich jemals dabei erwischen sollte, bringe ich dich um! Wir beide sind von jetzt an das Muster monogamer Menschen, verstehst du? Also, du kannst dir schon denken, was er gesagt hat. Wo sollte er die wunderbare Frau finden, die mir auf ein Haar gleicht?

Und selbstverständlich habe ich geschnurrt wie ein kleines Kätzchen!

Und dann hatte er auch schon seine Arme um mich geschlungen und wollte mich küssen, und gleichzeitig wollte er mir klar machen, daß ich ihn verführt hätte – Ach, jetzt klingt es vielleicht etwas komisch, aber es war wirklich recht schauderhaft. Der Idiot ließ es sich nicht nehmen, eine richtige Kitschtragödie aufzuführen, so mit: ›Weib, du hast mich mit deinem vergifteten Lächeln zur Verdammnis gebracht.‹ Ach, Sam, Sam, du guter Sam – du bist ja so anständig! Aber ich wollte sagen, als er merkte, daß ich nicht daran denke, mich umarmen zu lassen, wurde er fürchterlich gemein. Das ist etwas, was er ausgezeichnet kann. Er sagte, ich hätte ihn verführt. Er sagte, unter ›zivilisierten Menschen‹ gäbe es ›Spielregeln‹, und die Art, wie ich ihm erlaubt hätte, mich auf die Schulter zu küssen – Ach ja, das hat er auch getan, im Auto auf dem Weg zum Dinner. Ach, ich bin wirklich aufrichtig, wahrscheinlich viel zu aufrichtig! Aber du darfst es nie gegen eine armselige dumme Gans ausnutzen, die gemeint hat, eine Frau von Welt zu sein! Und wirklich, als er mich auf die Schulter küßte, meinte ich wirklich, wenn ich es ganz einfach ignoriere, wird er Verstand genug haben, einzusehen, daß es ganz zwecklos ist. ›Spielregeln unter zivilisierten Menschen!‹ Der Dummkopf! Als ob ich davon nicht ebensoviel wüßte wie er, und vielleicht noch mehr! Aber auf jeden Fall –

Und vielleicht hat es mir auch Spaß gemacht, wie er mich auf die Schulter küßte! Ach, ich weiß nicht! Ich weiß gar nichts mehr nach diesem schauderhaften Abend! Aber auf jeden Fall:

Er sagte, es wäre meine Schuld und so weiter und so fort – du kannst dir schon vorstellen – und dann hat er gesehen, daß er mich nicht zwingen kann, und da hat er angefangen, sich dafür zu entschuldigen, daß er mir seine ›wahren Gefühle verraten‹ hat – dieses Schwein hat überhaupt keine wahren Gefühle! Also, er hat mich aufs Ohr und auf die Nase geküßt – er ist ein miserabler Schütze! – und sich verteidigt und – Ach, ich weiß wirklich nicht, warum du dir alle die scheußlichen Einzelheiten anhören sollst! Also, ich habe ihn hinausgeschmissen, und er – ach, er war reizend, mein Lieber! – er mußte seine Zuflucht zu der entzückenden Behauptung nehmen, daß jede amerikanische Frau ein blutloser Vamp ist und sich daran delektiert, wenn ein Mann sich ihretwegen zum Narren macht und –

Ach richtig, ja und dann hat er noch etwas gesagt. Das war wirklich nett und wird dich auch ganz besonders interessieren! Obwohl es nicht sehr gut dazu paßt, daß er mich eine blutlose Sirene genannt hat! Er sagte – er machte es recht deutlich, daß er etwas mehr als ein paar Trostküsse von mir erwartete, und daß ich gar nicht weiß, wieviel erotische Leidenschaft in mir schlummert. Er sagte, daß du – er war so freundlich, mir zu verstehen zu geben, daß du ein würdiger Automobilhausierer und ein ganz netter Freund wärst, und daß du dich wahrscheinlich verteidigen könntest, wenn du angefallen wirst, aber du hast kein Feuer – ›seelisches Feuer‹ hat er gesagt, glaube ich – und von mir hat er gemeint, ich bin ›ungeweckt‹, und er wäre bereit – Gott segne seine gute, freundliche Seele! – er wäre bereit, für das Erwecken zu sorgen.

Ach, Sam, ich gebe mir Mühe, ironisch zu sein, aber wirklich, ich bin noch nie so beleidigt worden, so gekränkt, so fürchterlich mißverstanden, so unschuldig –

Oder meinst du auch, daß ich ihn verführt habe?«

 

Während dieses ganzen leidenschaftlichen Berichts hatte Sam sie sehr bedauert, mit Erfolg; er hatte versucht, einer Meinung mit ihr zu sein, mit viel weniger Erfolg; und während er ihr Haar streichelte, hatte er ein Bild an der Wand studiert.

Bis jetzt hatte er nicht viel von dem Aussehen des Salons gewußt. Aber in diesen Sekunden betrachtete er ihn so konzentriert, daß auch die kleinste Einzelheit in seinem Gedächtnis haften blieb: die Wände kornblumenblau; die Decke blaßgolden; ein Lehnstuhl mit Zentifolienmuster, der Mahagonieschreibtisch mit eleganten englischen Memoirenwerken, vor kurzem von Fran besorgt, auf den Brettern über der Schreibfläche, auf der sie das Hotelpapier und die jetzt allmählich von zu Hause kommenden Briefe in netten Stapeln geordnet hatte. Der niedrige Teetisch mit dem alten Silberservice, das sie freudig erregt in der Bond Street gekauft hatte. Er war gerührt bei dem Gedanken, wie anheimelnd sie die Hotelzimmer immer machte. Aber am längsten hatte er den Farbdruck an der gegenüberliegenden Wand betrachtet. Es war durchaus nichts besonderes. Etwas, das jeder ältere und halbliterarische Künstler kann. Trotzdem bezauberte es Sam in diesem Augenblick, dieses Bild eines jungen Galants in engen Hosen, der sich vor einem Hintergrund aus Burgen und Rosen über ein lächelndes junges Weib mit rosengeschmücktem Hut beugt.

Er riß sich aus dieser Betrachtung, als er sie fragen hörte:

»Oder meinst du auch, daß ich ihn verführt habe?«

»Nein. Ich bin überzeugt, daß du es nicht getan hast, Fran. Aber trotzdem –«

Plötzlich hatte er keine Kontrolle mehr darüber, was er sagte, keine Beziehung zu dem Menschen, der es sagte:

»Ach Gott, ich bin ja so müde! Müde!«

»Wenn du meinst, ich bin nicht müde!«

»Hör einmal, Fran. Ich habe nicht sehr viel Übung darin, mit Liebhabern umzugehen. Mein Leben war nicht danach. Ach, ich weiß recht gut, daß du nie daran gedacht hast, Lockert könnte deine Freundlichkeit mißverstehen. Er ist ein Schwein. Ich glaube, eigentlich müßte ich ihn jetzt erschießen.«

»Ach, sei doch nicht albern!«

»Ja, ich würde mir reichlich närrisch vorkommen, aber wenn du willst, daß ich –« Er hatte sich ununterbrochen davor gewarnt zu sagen, was er dachte. Plötzlich sagte er es:

»Aber tatsächlich, ich kann nicht die ganze Schuld Lockert geben. Du hast mit ihm geflirtet – draußen bei Lord Herndon – sogar auf dem Dampfer hast du dich aufgeführt, als ob außer ihm kein Mensch für dich existierte. Und er konnte wirklich denken, daß er dich kriegen könnte. Du hast eine so nette Art, mich gerade vor ihm zurechtzuweisen; du sagst: ›Gib dir Mühe, nicht zu vergessen, daß Lady Was-weiß-ich-wie-sie-heißt nicht an Amerikaner gewöhnt ist, und sprich nicht von Zenith‹ und so weiter und so weiter, bis du mich ganz nervös gemacht hast und ich mir vorkomme wie ein Ochse aus dem Mittelwesten in einem Porzellanladen in der Bond Street, und Lockert, der sich das Ganze anhört, muß dann natürlich meinen, daß du mich für einen Dummkopf hältst und er Trumpf ist und –«

»Weißt du noch andere Todsünden, die ich begangen habe?«

»Ja. Ein paar. Es macht dir Spaß, Hurd und anständige Menschen wie ihn von oben herab zu behandeln. Du bist so verdammt fein, daß sie sich vorkommen wie Stallburschen – du spielst mit ihnen wie die Katze mit der Maus – und Lockert ist dabei, wenn du es tust, und sieht, daß du auf seine Anerkennung wartest, und dann meint er natürlich, du denkst, daß er um so viel besser ist als ich und meine Freunde –«

»Jetzt hör du mich an! Ich stelle alles in Abrede, was du behauptest! Ich habe nie mit dir gezankt! Ich habe nie etwas gesagt, was dich in Verlegenheit bringen könnte! Ich glaube, sogar du mußt zugeben, daß ich in manchen Dingen etwas mehr Takt und Geduld habe als du! Und deshalb versuche ich, mit den freundlichsten Absichten, ausschließlich um deinetwillen, dir zu helfen, daß du Leute verstehst, die du falsch beurteilt hast, und da wagst du zu behaupten, daß ich dich kujoniere! Ach, es ist einfach gemein von dir! Und idiotisch! Wenn du dich besser beherrschen könntest, wenn du auf mich hören und dir von mir helfen lassen wolltest, dann würdest du vielleicht nicht so entsetzliche Fauxpas begehen wie an dem Abend, an dem du Lady Ouston beleidigt und allen die Stimmung verdorben hast –«

»Aber du bist mir ja zu Hilfe gekommen! Du hast doch gesagt, ich habe recht!«

»Natürlich! Das habe ich aber nur gesagt, weil ich zu dir halte. Ich halte immer zu dir. Ich habe dich noch nie im Stich gelassen!«

»Ach nein, nie! Du nennst es wohl zu mir halten, wenn du ununterbrochen zu verstehen gibst, daß ich nichts weiter bin, als ein ungebildeter Geschäftsmann, während jeder – jeder! – der einen englischen oder französischen Akzent hat, jeder Tunichtgut, der von Weibern lebt, ein Gentleman und ein Gelehrter ist! Schließlich ist es mir immerhin gelungen, mit ein paar europäischen Importeuren zu verhandeln, ohne –«

»Sprich dich nur aus! Sag doch, daß du der große Herr Geheimrat Generaldirektor bist! Daß du die ganze Automobilindustrie erfunden und ausgebaut hast! Das ist alles so neu und interessant! Ich wollte es nie sagen, Sam, aber du zwingst mich dazu! Ich zweifle nicht daran, daß du das Deine geleistet hast. Es gibt nicht viele Leute, die mehr bedeuten als du – in Zenith! Aber zufällig sind wir jetzt nicht in deinem geliebten Zenith, sondern in England, und hier gibt es einiges, wovon du nicht so viel weißt, das ich aber kenne! Schließlich ist das nicht meine erste Europareise! Aber du nimmst dich viel zu wichtig, als daß du etwas von mir lernen wolltest! Ich will bestimmt nicht sagen, daß du eine schlechte Erziehung hast oder gemein bist, aber wirklich – es ist mir fürchterlich, daß ich dir das sagen muß! – du wirkst wirklich gewöhnlich und schlecht erzogen auf Leute, die dich nicht verstehen –«

»Auf Lockert wahrscheinlich!«

»– und auf Leute, die sich erlauben zu meinen, daß die große Tradition Europas ein wenig über dem Schmiß und der Smartheit Zeniths steht! Ich könnte dir etwas von dieser Tradition beibringen, aber du willst ja nicht –«

»Du bist wohl eine Autorität auf dem Gebiet!«

»Selbstverständlich, verhältnismäßig! Schließlich bin ich früher schon einmal in Europa gewesen! Und das Haus meines Vaters war immer voller Europäer, und ich habe in den letzten zwanzig Jahren mehr französische und deutsche und englische Bücher gelesen, als du Detektivgeschichten. Mich nimmt man hier auf. Ach, Sam, wenn du dir nur von mir helfen lassen wolltest –«

»Mein liebes Kind, du kannst mich nicht wegen meiner Ordinärheit herunterputzen und gleichzeitig das zärtliche Mütterchen spielen! Das ist mehr, als ich aushalten kann, verflucht noch einmal! Und wenn wir schon einmal von Ordinärsein reden – Zum Teufel, wo sind denn alle Zigaretten hingekommen?«

Die Zigaretten zu finden, ohne die kein Raucher sich wohlfühlt und lebhaft streiten kann, war im Augenblick weitaus wichtiger, als einander weh zu tun. Sie stellten die Feindseligkeiten ein, um gemeinsam zu jagen. Er drehte seinen Smoking um, leerte die Taschen seines Mantels aus und riß Schubladen heraus, während sie vom Sofa aufstand, um triumphierend – und dann enttäuscht – in die schwarzrote russische Schachtel zu schauen, die sie gestern gekauft hatte.

»Und – und – Herrgott, wo sind denn diese Zigaretten? Ich weiß ganz genau, daß ich noch eine halbe Packung Gold Flakes und ein paar Camels hatte«, murmelte er, während er suchte.

Sie war es, die daran dachte, mit dem Bureau zu telephonieren; die nicht zögerte, das Personal zur Nachtzeit in Anspruch zu nehmen, während er stets seine amerikanische Scheu vor Dienstboten behielt.

Sie saß auf der Sofakante, sie glättete ihr Kleid, sie beugte den Kopf mit aufreizender Huld, um sich Feuer von ihm geben zu lassen, als die Zigaretten gekommen waren, und dann redete sie weiter:

»Sam, es ist mir sehr unangenehm, noch einmal davon zu sprechen, aber es bringt einen in einer Auseinandersetzung wirklich nicht sehr weit, wenn man wild wird und gewaltige, kräftige Männerworte wie ›verflucht noch einmal‹ und ›zum Teufel‹ gebraucht. So etwas ist nicht so fürchterlich neu und aufregend für mich! Und wie gewöhnlich, haust du völlig daneben. Weder ›putze ich dich herunter‹, wie du so elegant sagst, noch suche ich dich zu bemuttern. Ich bin immer bereit, deine Ansichten über Golf und Kapitalanlagen zu hören. Ich erwarte bloß von dir, daß du zugibst, es könnte einige Dinge geben, von denen eine arme unwissende Frau vielleicht etwas mehr weiß als du! Ach, du bist wie alle anderen amerikanischen Männer! Du sprichst keine bekannte Sprache. Du kennst keinen Unterschied zwischen Rodin und Mozart. Du hast keine Ahnung, ob Syrien unter französischer oder englischer Kontrolle steht. Du – du, der Autofachmann! – weißt nie, ob eine Dame rechts oder links von dir im Wagen zu sitzen hat. Bach langweilt dich ebenso wie Antheil. Du langweilst dich, wenn du mit mir die wunderbarsten russischen Stickereien kaufst. Du kannst nicht mit einer hübschen Frau beim Dinner leichte Konversation machen. Und – Aber das sind nur Symptome! Einzeln zählen sie gar nicht. Das wesentliche ist, daß du nicht die geringste Ahnung davon hast, was die europäische Zivilisation im Grunde ist, wie die Tradition der Muße, der Ehre, des Kavaliertums und der inneren Bildung sich vom amerikanischen Materialismus unterscheidet. Und du willst auch gar nicht lernen. Du könntest niemals zum Europäer werden –«

»Fran! Hör auf zu sticheln!«

»Ich stichle nicht –«

»Hör auf damit! Kind! Ich behaupte nicht, eine von diesen Tugenden zu haben. Ich glaube, es ist ganz richtig: ich könnte nie zum Europäer werden. Aber warum sollte ich auch? Ich bin Amerikaner und zufrieden damit. Und du weißt, daß ich dir nie etwas in den Weg lege, so europäisch zu sein, wie du nur willst. Aber laß deinen Zorn über Lockert nicht an mir aus. Bitte!«

Seine Arme, die sie umfaßten, sagten mehr, und während er ihren Kopf an seine Schulter bettete, schluchzte sie:

»Ich weiß. Verzeih mir. Aber –«

Sie setzte sich auf und sprach mit Energie.

»Ich schäme mich schrecklich wegen dieser Geschichte mit Lockert. Ich kann es nicht ertragen! Sam, ich muß sofort aus England heraus. Ich kann es nicht ertragen, in einem Land mit diesem Mann zu sein und zu denken, daß er da ist und mich auslacht. Oder sonst werde ich dich wirklich bitten, daß du ihn erschießt, und die Gerichte sind hier so engherzig! Ich möchte nach Frankreich. Gleich

»Fran, ich habe dieses Land wirklich gern! Ich fange an, London kennenzulernen. Mir gefällt es hier. In Frankreich wird alles so fremd sein.«

»Ganz richtig! Das möchte ich gerade! Ich will ganz von vorn anfangen. Ich werde mich nicht wieder zum Narren machen. Ach, Sam, Lieber, Guter, laufen wir davon wie zwei Schulkinder, Hand in Hand! Und denk doch! Alles das wirklich zu sehen: blaue Syphonflaschen, Brioches, Kioske, rote Schärpen, rote Plüschbänke und dicke Kassierinnen! Und zu hören: ›B'jour M'sieu et 'dame‹, wenn man aus einem Laden geht! Fahren wir doch!«

»Ja, ich wollte mir noch ein paar Flugzeugwerke hier ansehen. Ich habe sogar schon eine Verabredung –«

Vier Tage später fuhren sie nach Paris.

 

Der Kanaldampfer kam ihm vor wie ein Windspiel – klein, schlank, die ganze Kraft im kurzen, dicken Schornstein. In den schmalen Gängen zwischen den Decks, mit ihren scharfen Kurven vorn am Bug, fand er die Wonne des Seefahrens wieder, die er auf dem Atlantic zum erstenmal empfunden hatte. Als er Fran in einem Sessel auf dem Bootsdeck zwischen Stapeln snobistisch hellen Gepäcks untergebracht hatte, ging er hinunter in die Bar.

Jede Schiffsbar, und sei sie noch so klein, hat etwas Behagliches wie sonst nichts in diesem düsteren Tal des Lebens. Sie hat die gemütliche Sicherheit eines englischen Landgasthauses, und dazu kommt ein Gefühl des Abenteuerlichen, wenn die Wellen an den Ochsenaugen vorübereilen, wenn man sich Gedanken über die Passagiere macht – Männer, die aus China und Brasilien und Saskatchewan kommen, Männer, die nach Italien und Liberia und Siam reisen. Als Sam wieder zu Fran hinaufstapfte, vergaß er in seiner wachsenden Freude auf den Kontinent, wie ungern er England hinter sich gelassen hatte, und diese Freude ließ er sich nicht einmal vergällen, als er auf dem Deck eine richtige Kanalunterhaltung zwischen einem gelehrten Vikar aus Wiltshire, seiner Tante und der lieben Freundin dieser Tante, einer Mrs. Illingworth-Dobbs, hörte:

»Ach ja, wir werden die meiste Zeit in Florenz bleiben.«

»Werden Sie ancora una volta in der Stella Rossa absteigen?«

»Nein, ich glaube, wir werden doch in der Pension von Mrs. Brown-Bloater absteigen. Sie wissen ja, wir sind immer in der Stella Rossa abgestiegen, aber es ist wirklich schändlich. Voriges Jahr haben die Leute angefangen, den Tee extra zu berechnen!«

»Extra? Den Tee

»Ja. Es war sonst immer sehr nett dort! Die Gäste hat man alle gekannt. Aber jetzt kommen lauter Juden und Amerikaner und unverheiratete Paare und sogar Deutsche hin!«

»Fürchterlich! Aber Florenz ist so reizend!«

»Entzückend!«

»So künstlerisch!«

»Ja, so künstlerisch. Und Sir William nimmt eine Villa für die ganze Saison.«

»Ach, das wird aber nett für Sie sein.«

» Si, si! Sara una cosa veramente – äh – es wird wirklich reizend sein. Sir William ist so ein Kunstfreund. Es wird ganz wie zu Hause sein, wenn wir ihn dort haben. Und von Mrs. Brown-Bloater habe ich positiv gehört, daß sie den Tee nicht extra berechnet

 

Sam vergaß, daß ihm vielleicht ein Kontinent voller Frauen wie Mrs. Illingworth-Dobbs bevorstand; in seiner Freude über die Geschwindigkeit des Dampfers vergaß er sogar Frans Ärger darüber, daß das Boot gehörig stampfte, wofür, wie sie zu meinen schien, er verantwortlich zu machen war. Der Steven hieb auf die Wogen ein wie eine gepanzerte Faust. Es war gerade genug Bewegung, um ihm zu zeigen, daß er wirklich auf dem Meer war, und als sie die englische Küste hinter sich ließen und in den frischen Wind hinauskamen, eilten sie an ausländischen Fahrzeugen vorüber: ein französischer Fischdampfer mit kräftigen kleinen Matrosen in gestreiften Trikots, die ihnen zuwinkten, kam den Kanal herauf, ein deutsches Küstenboot und ein holländischer Ostindienfahrer rollten auf dem sonnenbeschienenen Wasser.

Die Matrosen, die an ihren Deckstühlen vorüberkamen, die Offiziere auf der Brücke, alle waren so kräftig, so zuverlässig, so britisch.

Ein Mann mit langem blonden Schnurrbart und Monokel schlenderte vorbei. Fran behauptete, es sei Thomas Cook, von den Söhnen. Dann überlegte sie, wie Karl Baedeker aussehen mochte. Kurz, untersetzt, mit kurzem, eckigem braunen Bart und doppelt starker Brille, durch die er auf Speisekarten, Tempelruinen und Schilder »Roma 3 chilometri« starrte.

»Ja, und wie sieht Mr. Bass aus? Und die Gebrüder Haig? Vielleicht so wie die Gebrüder Smith«, sagte Sam.

Dann sah er eine verschwommene Linie, die Küste Frankreichs.

 

Aber er ging nach achtern, um auf England zurückzublicken. Er bildete sich ein, die Schatten der Küstenklippen sehen zu können. Was er sah, war sicherlich eine ferne Wolkenbank, aber er dachte an die kühnen, schönen Hügel, die freundlichen, gekrümmten Straßen, die gesunden Gesichter.

»England! Vielleicht sehe ich es nie wieder … Fran und Lockert haben es mir weggenommen … Aber ich liebe es. Amerika ist meine Frau und meine Tochter, England ist meine Mutter. Und diese Narren sprechen von der Möglichkeit eines Krieges zwischen England und Amerika! Wenn es dazu kommen sollte – Ich habe es für eine Dummheit von Debs gehalten, daß er ins Gefängnis gegangen ist, um gegen den Krieg zu protestieren, aber jetzt, glaube ich, kann ich ihn besser verstehen. Na. Lieber als Amerika könnte mir England nie sein. Aber gleich nach Amerika – Herrgott, wie gern wäre ich dort geblieben! Die Dodsworths waren vielleicht dreitausend Jahre in England, und in Amerika nur dreihundert.

England!«

Dann wandte er sich voll Eifer Frankreich zu.

Sie krochen in den Hafen, an dem Wellenbrecher mit seinen kleinen Leuchttürmchen vorüber, kamen an ein holperiges Steinpier, sahen Plakate fremder Getränke in einer fremden Sprache und wurden von kleinen kreischenden Trägern mit blauen Blusen überlaufen; sie hörten Kinder französisch sprechen, als wäre es eine natürliche Sprache; und zum erstenmal in seinem Leben war Sam Dodsworth in der Gewalt eines wirklich fremden Landes.


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