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Fünfundzwanzigstes Kapitel

Es war ein Tag, der besonders langweilig zu werden versprach. Sam sah nur einem nicht vielversprechenden Dinner mit Kurt und einem Freund aus Wien entgegen, und da Kurt von diesem Freund nichts Überschwänglicheres gesagt hatte, als er sei »so ein guter Kerl, und er spricht sieben Sprachen und ist so komisch«, wußte Sam, daß nicht viel mit ihm los sein konnte. Am Nachmittag wollten sie zur Kolbe-Ausstellung bei Cassirer und zu den französischen Impressionisten in der Galerie Thannhauser, und Sam hoffte (nicht überaus optimistisch), es werde ihm gelingen, Fran nach Charlottenburg zu bringen und Fabriken und Arbeiterwohnungen anzusehen … Sie liebte es sehr, über das, was sie die Unteren Klassen nannte, mit allen möglichen Leuten zu sprechen, nur nicht mit den Mitgliedern der Unteren Klassen.

Er saß im Wohnzimmer, ziemlich unordentlich aussehend in Schlafrock und alten Pantoffeln, die Fran immer durch neue, elegante ersetzen wollte, ohne es jemals zu tun. Als er mit der Lektüre der Pariser amerikanischen Zeitungen fertig war und darüber gestaunt hatte, daß Mr. T. Q. Obelisk aus Zenith in Europa angelangt war und drei ganze Wochen in Paris verbringen wollte, hatte er nichts mehr zu tun. Er dachte daran, Henry Hazzards letzten Brief zu beantworten. Aber – zum Kuckuck, er hatte nichts zu erzählen – Er dachte daran, etwas zu trinken, und sagte sich, es sei noch viel zu früh am Tag. Er dachte daran, einen Spaziergang zu machen, aber – er war schon überall in der inneren Stadt spazieren gegangen.

Er wußte nicht, was er anfangen sollte. Er stöberte im Wohnzimmer herum und blätterte in Reiseprospekten über Java – das Nordkap – Rio de Janeiro.

Er warf einen Blick in das Schlafzimmer. Fran in Nachthemd und zierlichem rosa Strickjäckchen war noch im Bett, strengte sich aber bei ihrer Schokolade verzweifelt an, die Vossische Zeitung und das Tageblatt mit Hilfe eines Wörterbuches, ihrer Phantasie und heimlicher Auslassungen zu lesen. Er bewunderte ihre Gelehrsamkeit überaus, er sagte, es werde ein wunderbarer Tag werden, und ging ins Wohnzimmer zurück, um auf den Pariser Platz hinauszustarren und sich zu wünschen, daß er zu Hause wäre.

Es klopfte, und er sagte gleichgültig: »Herein!« Es konnte nur der Zimmerkellner sein, der abservieren wollte.

Es war ein Page mit einem Kabel.

Sam ließ sich zum Öffnen Zeit. Es war ein angenehmer Gedanke, daß er sogar in seiner Unbedeutsamkeit hier in Berlin ein Mann war, der Telegramme bekam. Dann las er:

»Gratuliert uns zu geburt von neunpfundsohn stop emily in ausgezeichneter Verfassung und vergnügt stop euer erster enkel harry mckee.«

Sam stand da und strahlte. Er ist also doch nicht fertig – etwas von ihm hat in diesem neuen Leben seine Fortsetzung gefunden! Und Emily wird so glücklich sein! Wie lieb er sie hat! Und jetzt wird Fran aber doch sicher nach Hause wollen! Sie werden den nächsten Dampfer nehmen und das Baby sehen, und Emily, Harry, Brent, Tub, Henry Hazzard – In vielleicht zwei Wochen –

Er stolzierte in das Schlafzimmer und versuchte Komödie zu spielen, versuchte ganz ungerührt zu wirken, als er sagte: »Hm, äh, Fran – ein kleines Kabel aus Zenith.«

»Ja?« ganz scharf. »Ist etwas passiert?«

»Also – Fran!« Er mußte sie küssen; er achtete nicht auf ihre Ungeduld. »Wir sind Großvater und Großmutter! Und diese Schufte haben nicht ein Wort davon verraten, daß ein Junge unterwegs war – wahrscheinlich damit wir uns nicht ängstigen. Emily hat einen Sohn! Neun Pfund!«

»Und wie –«

»Ausgezeichnet scheint es ihr zu gehen. So telegraphiert Harry.« Ihr rascher, glücklicher Blick machte ihn ganz selig, er fühlte sich sicherer, mehr verheiratet und wirklicher als seit Wochen. »Mein Gott, ich wollte, es gäbe auch hier schon das transatlantische Telephon wie in London. Wir würden sie anrufen, und wenn jede Minute hundert Dollars kosten sollte. Es wäre doch großartig, Emilys Stimme zu hören! Weißt du, was ich jetzt mache? Ich rufe Kurt Obersdorf an, und erzähle von unserem Enkel. Ich muß doch wenigstens einem Menschen –«

Ihre Miene verkrampfte sich. »Warte!«

»Warum denn?«

»Ich bin sehr glücklich. Natürlich. Die gute Emily! Sie wird ganz selig sein. Aber Sam, begreifst du denn nicht, daß Kurt – ach, ich meine natürlich nicht Kurt persönlich, ich meine alle unsere Freunde in Europa – Sie halten mich für jung. Jung! Und das bin ich auch, ich bin es wirklich! Und wenn sie erfahren, daß ich Großmutter bin – Mein Gott! Großmutter! Ach Sam, kannst du denn nicht verstehen? Es ist entsetzlich! Es ist das Ende für mich! Ach bitte, bitte, bitte, versuch doch zu begreifen! Bedenke doch! Ich war so jung, wie ich geheiratet habe. Es ist ungerecht, daß ich jetzt schon Großmutter sein soll, mit noch nicht ganz vierzig Jahren.« Rasch rechnete er aus, daß Fran jetzt dreiundvierzig war. »Großmutter! Spitzenhäubchen und Stricken und Rheumatismus! So versuch doch zu begreifen! Ich bin natürlich ganz selig für Emily, aber – Ich habe doch auch mein eigenes Leben! Du darfst Kurt nichts davon erzählen! Nie!«

Jetzt wußte er gut genug Bescheid.

Er war zu tief getroffen, um böse zu sein. »Ja, ich verstehe, was du meinst. Ja, ich – Also, ich gehe ein Telegramm an Emily und Harry aufgeben.«

 

Und an diesem Abend, bevor sie zum Dinner mit Kurt ausgingen, bemerkte er ihre neue Gewohnheit, sich den rechten Handrücken zu parfümieren, und dachte: »Ob das etwas damit zu tun hat, daß er ihr die Hand küßt? Ob? Gar kein ob, es ist so!«

Dann sah er, daß sie sich den Arm auf der Innenseite bis zum Ellenbogen parfümierte, und es war ihm nicht ganz wohl, als er in das Wohnzimmer hinüberstapfte und sich abzulenken suchte, indem er die Liste der Rundreisen in Großbritannien und Frankreich im »Europäischen Reiseführer« der American Express Company las, während er auf sie wartete. Es interessierte ihn durchaus nicht. Er sah sich im Zimmer um. Rosen waren da – geschickt von Kurt. Feuchtwangers »Jud Süß« war da – geschickt von Kurt.

Dann war Kurt selbst da, er klopfte an, kam fröhlich herein und rief: »Braucht Fran wieder zu lange? Sam, ich habe Ihnen eine Schachtel echte Havannas mitgebracht! Geschmuggelte! Ah, meine Rosen sind gekommen! Das freut mich. Sam, haben Sie eine Ahnung, wie dankbar ein einsamer armer Mann – und für einen Wiener wie mich ist Berlin genau so fremd wie für Sie! – Ich bin sehr dankbar, daß Fran und Sie mich dulden, so lange Sie hier sind! Sie sind so gut! … Fran! Sind Sie noch nicht angezogen? Sie lassen ihre armen Kinder wieder warten! Wenn ich Sam wäre, würde ich Sie durchhauen! Und mein Freund wartet wahrscheinlich schon in der Halle.«

»Ich komme, Kurt!« sang sie wie eine Lerche.

Und Kurt küßte ihren Handrücken. Und Sam Dodsworth sagte gar nichts.

 

Aber unten in der Bar, wo sie Cocktails tranken und auf Kurts Freund warteten, ertappte der neue und nahezu ganz ehrlich analytische Sam Dodsworth sich in einer Situation, die viel beschämender und niederdrückender war als alles, was oben im Appartement geschehen war. Ein amerikanischer Autohändler, den Sam beim Lunch im Amerikanischen Klub kennen gelernt hatte, blieb an ihrem Tisch stehen, um zu grüßen, und Sam erwischte sich dabei, daß er mit einem gewissen Stolz sagte: »Mr. Ashley, ich glaube, Sie kennen meine Frau noch nicht. Und das ist Graf Obersdorf.«

»Kolossal erfreut, Sie kennen zu lernen, Graf«, sagte der Autohändler, nachdem er Fran auf, wie er meinte, europäische Art die Hand geküßt hatte.

Sam unterzog sich einem scharfen Kreuzverhör. »Paß einmal auf, Sambo. Hat es dir geschmeichelt, daß du einen Grafen vorstellen kannst? Diesen Touristen Agentur-Menschen! Wie lange wird es noch dauern, bis du so ein erbärmliches Subjekt bist, das immer damit prahlt, daß seine Frau einen Grafen zum Geliebten hat? Nein! So schlimm ist es noch nicht mit mir, noch nicht. Aber ich bin ein bißchen durcheinander jetzt. Was ist denn das bloß mit mir? Ich verstehe nicht. Emily, mein Liebling, hat einen Sohn! Will Fran denn nicht –«

Kühl, ganz prosaisch unterbrach er Kurt, um Fran zu fragen: »Sag mal, äh, erinnerst du dich noch, was ich dir von der jungen Frau erzählt habe, dieser Kusine von mir – die ein Kind gekriegt hat? Möchtest du nicht nach Amerika zurück und sie sehen?«

»Ach ja, sehr gern. Aber ich glaube, wir werden sie nicht vor dem nächsten Herbst sehen«, antwortete Fran ganz ruhig.

»Da kommt mein Freund. So ein netter Kerl«, sagte Kurt.

 

Die zweite Botschaft aus Zenith, aus der Heimat, kam in Gestalt eines Briefes, der Sam drei Abende später, als sie mit Kurt essen gingen, vom Portier überreicht wurde.

»Von Tub!« freute er sich und steckte den Brief in die Tasche. Als sie am Tisch saßen, fragte er: »Ihr habt doch nichts dagegen, daß ich meinen Brief lese?«

Tub schrieb in seiner Schuljungenschrift:

 

Wie gehts Dir, und was machen alle die hübschen Weiberchen in Europa? Also, jetzt wirst Du sie nicht mehr lange alle für Dich alleine haben. Matey und ich haben beschlossen, es ist höchste Zeit, daß wir rüberkommen und uns das alte Land ansehen und was anständiges zu trinken kriegen. Sie ist eine großartige Frau und trinkt gern einen Tropfen. Wir fahren am 10. Mai mit der Olympic, in London sind wir wahrscheinlich am 16. und in Paris am 21. – wir steigen in London im Savoy ab und in Paris im Continental. In Paris wollen wir ungefähr eine Woche bleiben, dann Holland, Belgien, Schweiz, Italien, Südfrankreich, und am 20. Juni fahren wir von Cherbourg wieder zurück. Etwas rasch, nicht wahr, aber wir werden schon alles sehen, in Deiner letzten Karte schreibst Du, daß Du nach Deutschland willst, aber ich kann nicht begreifen, was Du dort suchst, da kriegt man doch bloß Bier, und die Sektperlen, die alle Leiden heilen, will ich wiedersehen, Du kennst ja das alte Lied vom Champagner.

Also, wenn Du nicht zu viel zu tun hast, um an alte Freunde zu denken, dann würden wir uns sehr freuen, wenn wir uns in London oder Paris treffen könnten, oder irgendwo unterwegs, schreib mir von Deinem Fahrplan c/o Equitable Trust, 23 rue de la Paix,

Laß Dir kein Holzgeld andrehen.

Bestens grüßend, Dein Freund
Thos. J. Pearson.

 

Der Brief war Sam von Paris nach Rom und Berlin nachgereist, Tub war bereits in London und würde in drei Tagen in Paris sein.

Es war einer der wenigen mit der Hand geschriebenen Briefe, die Sam von Tub bekommen hatte. Für gewöhnlich waren seine lakonischen Botschaften diktiert und auf einem Bankpapier getippt, das so steif und luxuriös lithographiert war wie eine Aktie. Sam glaubte in dem Brief etwas ungewohnt Drängendes zu spüren; Tub war bereit böse zu sein, sich mit Absicht vernachlässigt zu fühlen, wenn die Dodsworths sich nicht in Paris zeigten, um ihn und seine muntere Frau Mathilde, genannt Matey, zu begrüßen.

Er unterbrach Kurt – (»Verdammt noch einmal! Sieht ja so aus, als ob ich seit einiger Zeit den Kerl immer unterbrechen müßte, damit ich mit meiner eigenen Frau sprechen kann!«) Er sagte: »Was meinst du, wer in London ist und nach Paris fahren will? Tub und Matey!«

»Ach, wirklich?« antwortete sie höflich. Viel mehr Interesse zeigte sie, als sie Kurt erklärte: »Tub ist ein alter Freund von Sam – ein ziemlich wohlhabender Bankier. Wenn sie nach Berlin kommen, werden sie sich sehr freuen, Sie kennen zu lernen. Ach ja, Sie haben doch einmal gesagt, Sie würden gern in eine amerikanische Bank eintreten. Tub – er heißt Mr. Pearson – könnte vielleicht –«

»Aber wir werden ihn ja in Paris sehen«, unterbrach Sam wieder. »Er kommt nicht nach Berlin. Und wir müssen eigentlich sofort hinfahren, damit wir schon vor ihm dort sind und ihn empfangen können. Die beiden waren ja noch nie im Ausland. Ich telegraphiere ihm noch heute abend nach London – vielleicht probiere ich auch, ob ich ihn telephonisch erreichen kann – und wir werden sicher noch für morgen abend Platzkarten für den Pariser Zug bekommen.«

Sicherlich, wenn Fran die gute alte Matey von ihren Freunden erzählen hörte, wenn sie Zenith wieder roch – das Wunder war geschehen!

»Aber mein lieber Sam«, protestierte Fran, »ich kann wirklich gar keinen Grund finden, warum wir hinfahren sollten! Und wie wir von Paris abgereist sind, hast du doch darüber geklagt, daß du von der Stadt schon mehr als genug hast. Ich weiß, wie gern du deine Freunde hast, aber ich sehe nicht ein, warum du dich von ihnen ausnutzen lassen solltest!«

»Aber willst du denn Tub und Matey nicht sehen?«

»Sei doch nicht albern! Natürlich würde es mich sehr freuen, sie zu sehen. Aber die ganze Reise nach Paris machen –«

»Aber willst du denn nicht – ich kann mir wirklich nicht vorstellen, daß du nicht –«

»Also, wenn du es unbedingt wissen willst, dein guter Freund Mr. Tub Pearson ist meiner Ansicht nach ein ziemlich schwerer Bissen. Er strengt sich immer so an, komisch zu sein. Und du selbst hast auch schon gesagt, daß Matey fürchterlich uninteressant ist. Und dick! Mein Gott, ich habe sie zwanzig Jahre genossen. Nein, du kannst tun, was du willst, aber ich fahre nicht.«

»Aber ich könnte ihnen als Führer nicht viel nützen. Ich kann nicht Französisch.«

»Ganz richtig! Wozu also fahren? Sie können sich helfen, wie alle anderen.«

»Aber du könntest es viel angenehmer für sie machen –«

»Freundlich und so weiter zu sein, ist ja recht schön und gut, aber ich denke nicht daran, fünfzehn Stunden in einem verschmutzten Zug zu reisen, damit ich das Vergnügen haben kann, für Mr. und Mrs. Tub Pearson den unbezahlten Cookführer zu spielen!«

»Also gut. Dann fahre ich allein.«

»Wie du wünschst!«

Sie wandte sich eifrig zu Kurt und sprach mit übertriebener Liebenswürdigkeit von den Theaterverhältnissen in Mitteleuropa. Kurt warf Sam einen bekümmerten Blick zu und wollte etwas Besänftigendes sagen. Sam blieb den ganzen Abend über sehr still.

 

Sie war es, die das Gefecht wieder eröffnete, als sie allein im Hotel waren.

»Mir tut das mit Tub leid, und ich fahre mit – eine scheußliche Reise! – wenn du durchaus darauf bestehst –«

»Ich bestehe nie auf etwas.«

»– aber ich finde es wirklich zu lächerlich, den Führer spielen zu sollen – und natürlich wird dein geliebter Tub in die gewöhnlichsten und dümmsten und amerikanisiertesten Lokale in Paris gehen wollen –«

»Nein, ich bin zu der Ansicht gekommen, daß du besser nicht mitfährst. Tub wird sich wahrscheinlich auf dem Montmartre betrinken wollen.«

»Und bei dieser entzückenden Beschäftigung, fürchte ich, wirst du ein viel besserer Mitarbeiter sein als ich, mein lieber Samuel!«

»Hör einmal, Fran: ich weiß nicht, ob du eine Ahnung hast, wie gefährlich es noch einmal für dich werden könnte, wenn du immer so erhaben tust und mich beschimpfst. Ich habe –«

»Es ist aber wahr!«

»– mir genug gefallen lassen. Ich kann verstehen, daß du Tub für keinen Endicott Everett Atkins hältst, aber wieso es dir nicht Freude machen kann, einem Freund gefällig zu sein, den wir so lange und so gut kennen wie Tub – wieso du nicht, auch nicht ein einziges Mal, vergessen kannst, was du von einer Sache hast, und statt dessen daran denkst, was du geben kannst –«

»Ach, bring doch auch noch die Seligpreisungen an!«

»– ist mir einfach unbegreiflich! Ich habe immer geglaubt, daß du wirklich zu mir hältst!«

»Das tu ich auch! Ich habe nie auch nur die kleinste Kritik an dir geduldet –«

»Bitte, hör mich an! Sei nicht so verflucht vollkommen, ein einziges Mal! Ich habe immer geglaubt, daß du wirklich zu uns gehörst, aber einerseits diese Sache mit Tub, und andererseits dein Mangel an Interesse für Emilys Jungen –«

»Jetzt habe ich aber genug! Du hast durchaus zur Genüge zu verstehen gegeben, daß ich ein unmenschliches Ungeheuer bin! Was, nachdem wir die Nachricht über Emily bekommen haben, habe ich die halbe Nacht geweint, so habe ich mich danach gesehnt, sie und das Kind zu sehen. Aber – Ach, wenn ich es dir nur klar machen könnte!« Sie hatte ihr ganzes Getue abgelegt und war nackt und schutzlos in ihrer Ernsthaftigkeit. »Ich freue mich wirklich, daß sie ein Kind hat. Ich habe sie wirklich lieb. Aber – ach, ich habe mir das Hirn abgemartert, so viel ich eben habe, und ich gebe zu, daß das nicht sehr viel ist, abgesehen davon, daß ich einen ganz gesunden Hausverstand habe. Ich habe mich bemüht, nicht sentimental zu sein und mich zu ruinieren, ja, und dich auch, ohne daß Emily oder sonst jemand etwas davon hätte! Wozu könnte ich gut sein, wenn ich dort wäre? Könnte ich ihr helfen? Nein! Ich würde bloß im Wege sein. Himmel, jede ausgebildete Schwester hätte mehr Wert als zehnmal ich, und sie ist nur von zu viel Liebe und Sorgfalt umgeben. Ich wäre höchstens eine Last mehr, in einer Zeit, in der sie schon genug Lasten hat. Andererseits die Wirkung für mich –

Wenn die Welt das Wort ›Großmutter‹ hört, stellt sie sich ein altes Weib vor, ein verwelktes altes Weib, das ganz hors de combat ist. Das bin ich nicht, und werde ich auch weitere zwanzig Jahre nicht sein. Und doch, die meisten Leute denken so konventionell, daß sie, selbst wenn sie mich kennen, mich sehen, mit mir tanzen, sowie sie einmal hören, daß ich Großmutter bin, daß sie dann diesem Etikett mehr glauben als ihren eigenen Sinnen und mich sofort beiseite stellen. Das will ich nicht! Aber trotzdem liebe ich Emily, und –

»Ich muß dir sagen, junger Mann, wenn es auch nur das geringste gäbe, was ich für sie tun könnte, und für Brent, würde ich es tun! Ich werde es mir nicht eine Sekunde lang gefallen lassen, wenn du irgendwelche Andeutungen machst, daß ich keine gute Mutter bin. Zwanzig Jahre lang, oder mindestens bis Brent ins College gekommen ist, haben die Kinder nicht ein Stück getragen, das ich nicht gekauft hätte, sie haben nicht ein Stück gegessen, das ich nicht angeordnet hätte. Du, o ja, du bist großartig vom Bureau nach Hause gekommen und hast Em erlaubt auf deinen Schultern zu reiten, und hast gedacht, wunder was für ein Vater du bist, aber wer hat sie am selben Tag zum Zahnarzt gebracht? Ich! Wer hat an ihre Gesellschaft gedacht und die Einladungen geschrieben? Ich! Wer ist auf den Knieen gelegen und hat Ems Fußboden gescheuert, wenn die Mädchen krank waren und die Schwester Ausgang gehabt und sich amüsiert hat? Ich! Ich habe meine! Arbeit getan, ich habe mir das Recht verdient zu spielen, und ich werde es mir nicht rauben lassen, bloß weil du so langsam und phantasielos bist, daß du es ganz verlernt hast, dich zu amüsieren, und dir außer Autoverkaufen und Golfspiel keine Beschäftigung vorstellen kannst!«

»Ja. Ich glaube – ich glaube, es ist schon etwas an dem, was du sagst –« seufzte er. »Ich fahre also und begrüße Tub und komme dann zurück.«

»Ja, und wahrscheinlich wirst du auch mehr davon haben, wenn ich nicht dabei bin. Männer müssen manchmal allein sein, ohne die blödsinnigen Weiber. Befolg meinen Rat und sieh zu, daß du Matey los wirst, so oft du kannst – sieh zu, daß sie sich eine Menge Kleider kauft, und lauf mit Tub herum. Ihr werdet euch wahrscheinlich herrlich amüsieren. Siehst du jetzt ein, daß ich nicht bloß ekelhaft und egoistisch war, ja?«

Und sie küßte ihn flüchtig und lag auch schon im Bett.

Sogar von solchen Küssen hatte es nicht allzu viele gegeben, seit der Affäre mit Arnold Israel. Die Änderung in ihren ehelichen Beziehungen wurde nie ausgesprochen, aber sie war endgültig. Es lag nicht daran, daß Fran an Reiz für ihn verloren hätte; im Gegenteil, er bewunderte ihre schlanke Schönheit mehr denn je; aber sie war für ihn eine Nonne geworden, tabu, und sie zu berühren, war verboten. Ihr schien es lieb zu sein; und sie waren in eine melancholisch-geschwisterliche Beziehung geraten, die ihn verdrießlich und hoffnungslos machte.

Weder am Abend noch am nächsten Tag sagten sie etwas davon, daß Fran und Kurt von Obersdorf allein bleiben würden, wenn Sam nach Paris reiste. Und diese beiden, Fran und Kurt, brachten ihn sehr heiter und zärtlich an den Abendzug nach Paris, und Kurt schenkte ihm für die Reise ein Päckchen amerikanischer Zigaretten, einen Kaktus und eine Nummer der Nation, in der irrtümlichen Auffassung, sie sei eines der konservativsten amerikanischen Magazine und besonders für die Vorurteile eines millionenschweren Fabrikanten geeignet.

 

Sam hatte sein Schlafwagenkupee mit einem bescheidenen kleinen Deutschen zu teilen, der es sich nicht nehmen ließ, das unangenehme obere Bett, in das eigentlich Sam gehörte, zu nehmen. So konnte Sam, als der Deutsche das Licht brennen lassen wollte, nicht widersprechen, und starrte in seinem Bett zu der engen Wölbung hinauf, in dem bläulichen Grabeslicht, in dem die Unordnung des Kupees deutlich sichtbar wurde; die schrecklichen, lebendig aussehenden Hosen, die an der Wand schaukelten, die Reisetaschen unter dem kleinen Klapptisch am Fenster, das Durcheinander von Zeitungen und Zigarettenstummeln. Der Zug lärmte wild; er schleppte ihn fort; das Leben schleppte ihn fort. Ohne Fran kam er sich klein vor, unreif und schutzlos. Warum wagte er sich allein nach Paris? Er konnte wirklich nicht Französisch, er konnte überhaupt sehr wenig in Europa. Er war in der Verbannung.

Sie hatte ihn gleichgültig gehen lassen. Sollte er sie verlieren, sie, zu der er seit vierundzwanzig Jahren mit jedem Triumph und jedem Kummer kam, deren Hand immer dagewesen war, um gewärmt und beschützt zu werden, um ihn zu wärmen und zu schützen?

Oder hatte er sie schon verloren?

Was konnte er nur tun?

Der Zug schien mit abnormaler Geschwindigkeit vorwärts zu eilen. Noch nie hatte das zwanzigste Jahrhundert ein solches Tempo gehabt. Stimmte etwas nicht?

Es wäre nett, wenn Fran im oberen Bett läge, wenn ihre Hand herunterhinge, daß er sie sehen, vielleicht, ganz zufällig, berühren könnte –

Natürlich würde sie nicht im oberen Bett liegen, wenn sie zusammen wären!

 

Als er um drei erwachte, war seine erste Sehnsucht nach ihr verflogen, und er konnte sich in einen ganz tüchtigen Ärger hineinarbeiten.

Dieses »neue Abenteuerleben«, das sie finden wollten – Quatsch! Für sie vielleicht. Aber er hat sich noch nie so gelangweilt. Das kommt aber alles nur daher, weil er sich immer ihren Launen fügen will. Und sie dann noch verlieren, nach –

Was werden Kurt und sie tun, während er weg ist?

Und diese Geschichte, daß sie so eine liebevolle Mutter gewesen ist! Ist es überhaupt einmal vorgekommen, daß die Kinder nicht eine Schwester oder eine Erzieherin hatten, und außerdem noch eine Menge Dienstmädchen? Wenn sie überhaupt »auf den Knieen gelegen und den Fußboden gescheuert« hat, mehr als einmal ist das bestimmt nicht vorgekommen.

O ja, sie meint es ernst; sie glaubt wirklich, daß sie eine aufopfernde Mutter gewesen ist. Das ist ja das Hauptunglück mit ihr. Sie kann sich nie sehen, wie sie ist. Nie!

Ja, er muß gegen sie rebellieren – oder gegen seine Verehrung für sie. Es hat keinen Erfolg gehabt, wie er versucht hat, auf ihre Weise glücklich zu sein. Ein eigenes Leben muß er sich schaffen! Das wird in der ersten Zeit verflixt einsam für ihn sein. Freilich. Aber es ist nicht unmöglich, dieses neue Leben zu schaffen –

Es gibt noch andere Frauen, von Freunden gar nicht zu reden –

Mit einemmal brannte er vor Verlangen nach Minna von Escher. Er fühlte ihre Lippen; er sah sie nur zu deutlich.

Na, in Paris gibt es prächtige Mädchen – Verflucht noch einmal, er ist kein waschlappiger Sir Galahad, wie der bei Tennyson! Er ist geduldig und aufopfernd gewesen. Das hat ihm aber auch was genützt! Warum soll Fran die ganze Liebe haben? Er wird –

Dann Frans Gesicht, in dem blaßblauen Lichtschimmer schwebend, ein gekränktes, vorwurfsvolles Gesicht, sehr blaß, sehr rein. Er konnte ihr nicht weh tun, nicht einmal in Gedanken. Und so wälzte er sich hilflos im dahinjagenden Zug, einmal voll Verlangen Fran zu dienen, dann voll Verlangen nach Minnas warmen Armen, und immer wieder Fran … und immer wieder Minna.

 

Er frühstückte gut im Speisewagen, und wenn ihm Fran auch fehlte, so war es doch eine Wohltat, eine ordentliche Männerportion Speck und Eier zu verzehren, ohne sie nörgeln zu hören, daß echte Europäer nicht so schrecklich schwer frühstücken. Und als er sich seine Zigarre angezündet hatte, kostete Sam ein bißchen das schöne Vergnügen aus, allein zu reisen, tun zu können, was er wollte.

Er hörte eine Amerikanerin beim Frühstück zu ihrem Begleiter sagen: »Aber am besten von den Stücken hat mir ›Sie wußten, was sie wollten‹ gefallen.«

Mehr hörte er nicht. Er dachte: »Das ist mein Fehler gewesen, mein ganzes Leben lang. Es ist nicht ganz einfach so, daß ich nicht bekommen hätte, was ich wollte. Ich habe nie gewußt, was ich will. Es gibt Frauen, mit denen sich besser leben läßt, als mit Fran. Die nicht so egoistisch sind. Bei denen es friedlicher ist. Wenn ich so eine finde –

Es wäre schon komisch, wenn ich jetzt wirklich mit dem ›neuen Abenteurerleben‹ beginnen würde, über das wir so viel Mist geredet haben! Ja, ich habe gewußt, was ich will – Fran! Aber wahrscheinlich so, wie ein Kind den Mond haben will. (Und so ist sie auch – der Mond in einer stillen Novembernacht!) Und wenn ich sie nicht haben kann – also, dann werde ich hoffentlich so vernünftig sein, mir etwas anderes zu suchen, und es zu nehmen … Aber ich werde ja nicht!«


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