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Zehntes Kapitel

Zum Dinner kam nur ein Nachbar, der Alls oder Aldys oder Allis oder Hall oder Aw oder Hoss hieß, mit seiner Frau und seiner unverheirateten Schwester. Wegen der unumstößlichen englischen Regel, ohne nähere Kommentare vorzustellen, erfuhr Sam nie den Beruf von Mr. Alls (wenn er so hieß), und der Beruf eines Fremden ist natürlich für einen Amerikaner etwas noch viel Wichtigeres als sein Einkommen, seine Ansichten über Sozialismus und Prohibition und die Marke seines Automobils. Im Verlauf der Konversation hielt Sam Mr. Alls abwechselnd für einen Rechtsanwalt, einen Bankier, einen Theaterdirektor, einen Schriftsteller, einen Abgeordneten, einen Professor und für einen Kaufmann, der sich zur Ruhe gesetzt hat und seine Interessen jetzt zwischen römischen Altertümern und Rennplatzwetten teilt.

Denn Mr. Alls konnte über alles mögliche sprechen.

Und den ganzen Abend verwechselte Sam Mrs. und Miss Alls.

Sie glichen einander völlig. Sie waren beide groß, mager, schüchtern, freundlich und schweigsam, und beide hatten ganz lose schwarze Abendkleider an, die keinem Stil und keiner Mode angehörten. An der bescheidenen Langweiligkeit dieser beiden gemessen, wirkte Fran fast wie ein Bühnenstar in ihrem weißen Atlaskleid mit einer Perlenschnur am eifrig gestikulierenden rechten Arm, und sie war auch etwas zu lebhaft und anspruchsvoll.

Als Sam Mrs. Alls (oder vielleicht war es Miss Alls) vorgestellt wurde, fragte sie: »Sind sie zum erstenmal in England? Wollen Sie längere Zeit hier bleiben?«

Umgekehrt, als er Miss Alls (wenn es nicht Mrs. Alls war) vorgestellt wurde, murmelte sie: »Guten Abend. Wie lange wollen Sie in England bleiben? Sie sind wohl zum erstenmal hier?«

Wenn er sich recht erinnerte, sprachen die beiden Damen kein Wort mehr, bis sie nach Hause gingen.

Aber Herndon, Lockert, Fran und Mr. Alls redeten um so mehr. Der General hatte gern ein Publikum, und Fran schien ihm ein ausgezeichnetes zu sein. Wenn sie es jemandem zuliebe für der Mühe wert hielt, konnte sie Clown, große Dame und Kokette in einem sein. Sie war gerade respektlos genug, um Herndon ein wenig aus der Fassung zu bringen, doch stets verriet ihr ganzes Verhalten, daß sie ihn für größer als Napoleon und für galanter als Casanova halte. Er donnerte also seine höchst widerspruchsvollen Ansichten heraus, über Kaiser Wilhelm, die Silberfuchszucht, die Unwahrscheinlichkeiten in Michael Arlens »Grünem Hut«, über die höchst bedauerliche allgemeine Vernachlässigung des Backhandschlags beim Tennisspiel, die Fehler Winston Churchills, die Fehler Lloyd Georges, die Fehler Lord Kitcheners, die Fehler Ramsay Mac Donalds, die Fehler Lord Birkenheads, die Fehler der dänischen Butter und die Fehler in Lockerts Anschauungen über Auswanderung und Hundezucht. Sonst sagte der General kaum etwas.

»Das Malheur mit diesem Land«, bemerkte Herndon, »ist, daß zu viele Leute sich hinstellen und sagen: ›Das Malheur mit diesem Lande ist –‹ Und zu viele von uns, die das Land regieren sollten, werden abgespeist, indem man sie ›General‹ oder ›Oberst‹ oder ›Doktor‹ oder so etwas nennt. Sobald man einen Titel vor seinem Namen hat, muß man so nett und demokratisch sein, daß man den Pöbel nicht beherrschen kann.«

»Wenn Sie nach Amerika kommen, werden wir uns bemühen, Sie davon zu befreien«, sagte Fran. »Ich werde Sie als den Stiefmütterchenzüchter Mr. James Herndon vorstellen und meinem Hausmeister sagen, Sie wären ein so großer Freund des derben Gartenlebens, daß es eine Wonne für Sie wäre, wenn er Jimmy zu Ihnen sagt.«

»Muß ich jetzt sagen, daß mich selbstverständlich jeder Name entzücken würde, den Ihr Hausmeister mir verleiht? Selbstverständlich würde ich ihn bitten, nicht so zeremoniell zu sein, sondern mich Putzi zu nennen. Aber leider heiße ich nicht James.«

»Und leider haben wir gar keinen Hausmeister, sondern nur einen farbigen Gentleman, der sich herabläßt, uns, wenn wir Gesellschaften haben, bei den Cocktails behilflich zu sein, vorausgesetzt, daß ihn nicht eine seiner Predigten in den Negerkneipen davon abhält. Aber wirklich – ist es geschmacklos? Wenn nicht, so möchte ich fragen, ob es nicht wirklich ganz angenehm ist, als ›Seine Lordschaft‹ bekannt zu sein?«

»Ach – Ich erbte den Titel, als ich noch Subalternoffizier war – es war kein Tag großer Trauer um verlorene Liebe, wissen Sie – ich habe ihn von einem ekelhaften alten Onkel geerbt. Es war mir nie gelungen, meinem Oberst zu zeigen, daß ich sehr viel an ihm auszusetzen hatte – ich hatte es in meiner eifrigen Jungensart versucht, aber er hatte es nie beachtet. Als ich nun den Titel bekam, gab er sich die größte Mühe, an mir herumzumäkeln, und daran konnte ich sehen, daß es Eindruck auf ihn machte. Tatsächlich, er war so ekelhaft zu mir, daß ich in der Messe beliebt wurde. Aber Sie Yankees träumen natürlich nie von so kindlichen Triumphen, wenn Sie über Ihre unermeßlichen Steppen reiten.«

»Ganz richtig. Die Amerikaner haben zu viel mit dem Einfangen von wilden Mustangs zu tun«, sagte Mr. Alls.

»Meine wirkliche Stärke«, versicherte Fran, »ist Indianerschießen. Mit fünf Jahren hatte ich schon neun erschossen.«

»Ist es wahr«, erkundigte sich Lord Herndon, »daß die wirklich eleganten Frauen in Amerika Gürtel aus Skalpen haben?«

»Ja, selbstverständlich – es gehört ebenso zum guten Ton wie für eine Engländerin, bei Gartengesellschaften ein Bukett Rosenkohl zu tragen, oder –«

 

»Mein Gott, was für ein blödsinniges Gespräch!« dachte Sam Dodsworth. »Wenn sie nicht vernünftig reden können, sollten sie doch den Mund halten. Was hat es denn überhaupt für einen Sinn, mehr zu sagen als ›Darf ich Sie um das Salz bitten‹ oder ›Was kostet die Tonne?‹ Sind diese Leute denn nie ernst?«

 

Plötzlich wurden sie ernst, und das war ihm noch unangenehmer.

»Mr. Dodsworth«, fragte Mr. Alls oder Hoss, »warum hat Amerika Sowjetrußland nicht anerkannt?«

»Ja – äh – wir wollen ihre Propaganda nicht haben.«

»Aber wer ist in Wirklichkeit verantwortlich für die amerikanische Politik, der Kongreß oder das Auswärtige Amt?«

»Ich weiß es leider nicht mehr genau.«

Sam kam darauf, daß er nicht das geringste über die Beziehungen zwischen Amerika und Rußland wußte. Er hatte nur eine schwache Erinnerung an eine Konferenz über den Automobilexport nach Rußland. Ebenso verlegen um eine Antwort war er, als er gefragt wurde, was man in Amerika über die Kriegsschulden der Allierten und über Japan denke.

»Fange ich an alt zu werden?« überlegte er. »Früher wußte ich doch Bescheid. Es sieht wirklich so aus, als hätte ich in den letzten fünf Jahren nur an meine Automobile und ans Golfspielen gedacht.«

Er fühlte sich alt – und dieses Gefühl steigerte sich noch, als Fran und Herndon ein albernes Gespräch über Löwenjagd begannen. Er hatte nie gewußt, daß sie so phantastisch sein könnte. Sie erzählte eine ganz törichte Geschichte von einem netten alten Löwen, den sie einmal als Haustier hatten; daß Sam ihn einmal in einer kalten Nacht, als er schlechter Laune war, aus dem Haus gejagt hätte; der arme Löwe wäre auf der Straße von einer kriegerischen schwarzen Katze bedroht worden, hätte sich in den Zoo geflüchtet und vor einem Käfig um Einlaß gewinselt. (Und dabei gab es in Zenith gar keinen Zoo.)

Alt! Und nicht mehr auf der Höhe. Er konnte nicht mitreden, ob es nun Unsinn war oder die Debatte über die Nationalisierung der Bergwerke, in deren Verlauf Herndon sich ebenso eifrig zum Sozialismus bekannte wie zwanzig Minuten vorher zur Politik der Hoch-Torys. Es war seit Jahren fast die erste Unterhaltung, in der Sam nicht etwas Wichtiges, wenn nicht das Wichtigste, zu sagen hatte. Wenn er sich bei einem Dinner in Zenith nicht als Autorität fühlte, weil man gerade von Stravinski sprach, wußte er, daß die Konversation sich bald wieder um Automobile und das rätselhafte Etwas, das »Geschäftslage« hieß, drehen mußte, und daß er dann wieder das große Wort haben würde.

Er fühlte sich plötzlich unsicher.

 

Als sie am nächsten Vormittag zur Kirche gingen, empfand er für das Dörfchen eine zärtliche Zuneigung, wie für ein verhutzeltes, liebes altes Großmütterchen. Und als er in der Nähe der Kirche einen Revelationwagen stehen sah, war er wieder überzeugt davon, eine Persönlichkeit zu sein. Aber inmitten der höflich interessierten, eleganten frommen Gemeinde, die ihn während der Morgenandacht musterte, verspürte er wieder die Unsicherheit. Er wollte aus dieser traditionellen Stille in die Anonymität und den schützenden Lärm Londons fliehen.

 

In der Stunde zwischen der Kirche und dem Lunch machten sie einen Spazierritt auf unschönen, aber kräftigen Pferden aus dem Dorfstall. Fran hatte ein von Mrs. Alls geliehenes uraltes Reitkleid an und sah mit ihrer orangeroten Mütze sehr unelegant und lustig aus – lustiger als sonst in ihrer ein wenig starren Schlankheit. Sie ritten über Felder und durch kleine Gehölze zum Kamm der Norddünen. Seit Jahren ritt Fran zweimal wöchentlich mit einem englischen Groom aus, der in Amerika herrschaftlicher Reitlehrer und Trainer geworden war, und in Zenith hatte man seinen Cockneyakzent für ein Kennzeichen britischer Adeligkeit genommen. Schlank und gerade saß sie auf ihrem alten Klepper wie ein junger Kavallerieoffizier. Lockert und Lord Herndon bewunderten sie noch mehr als sonst und unterhielten sich munter mit ihr, als gehörte sie ganz zu ihnen.

Sam war nur einmal in seinem Leben geritten, als Junge in den Schulferien; er hatte zu einem Pferd ungefähr ebensoviel Zutrauen wie zu einem Aeroplan und konnte nie ganz das Gefühl unterdrücken, daß man auf einem Pferderücken erschreckend weit vom Erdboden entfernt ist. Herndon hatte ein schlimmes Bein, und so ritten er und Sam langsam. Plötzlich sprengten Lockert und Fran auf dem Hügelplateau davon.

»Wollen Sie nicht mit? Mit meinem Bein ist heute nicht viel anzufangen«, sagte Herndon.

»Nein, ich bleibe bei Ihnen«, seufzte Sam.

Nach einer Viertelstunde kamen Fran und Lockert in kurzem Galopp zurück. Sie lachten, sie hatte ihre Mütze abgenommen und ließ ihr Haar flattern.

»Entschuldigen Sie, daß wir durchgebrannt sind, aber die Luft war köstlich – ich mußte mich austoben!« rief sie, und zu Sam sagte sie: »Ach, war er ganz allein! Armer Junge!«

Während des ganzen Rückweges wollte sie es sich nicht nehmen lassen, neben ihm zu reiten und ihn zu trösten.

Vor einem Monat hatte er gemeint, sie beschützen zu müssen, weil sie so schwach sei. Jetzt merkte er, daß er kurzatmig war, daß er einen Bauch hatte … und daß er Fran, die sich eben umdrehte und Lockert etwas zurief, langweilte.

 

Am unsichersten aber war Sam am Nachmittag, als sie zum Tee nach Woughton Hall fuhren, dem Landsitz Sir Francis Oustons, der die neue Parlamentshoffnung der Liberalen war. Und hier sah Sam zu seinem Entsetzen eines jener großen Häuser, vor denen es ihm gebangt hatte. Über eine meilenlange Ulmenallee kamen sie zu einer Fassade, die so düster aussah wie ein altes Gerichtsgebäude und an der einen Seite einen Flügel aus unbehauenem Stein hatte. »Das hier ist der alte Teil – um 1480 erbaut«, erklärte Herndon.

An der Vorderfront lag eine große Terrasse, eingerahmt von alten italienischen Weinkrügen und Zypressen, die zu Hähnen, Halbmonden und Pyramiden gestutzt waren. Rechts, hinter zwei Tennisplätzen, zog sich eine halbe Meile winterlich blaßgrünen Rasens hin, der an eine wilde Wiese grenzte; die Stallungen links waren ein ganzes Dorf aus roten Ziegelgebäuden. Rings um den ganzen ungeheueren Palastkomplex herrschte Stille, nur ab und zu unterbrochen von Sperlingen und Krähen. In diesem Augenblick galten Sam die Millionärslandhäuser, die er auf Long Island und am Nordufer oberhalb Chicagos gesehen hatte – Tudorschlösser, italienische Villen, französische Châteaus, die er alle mit einiger Sehnsucht bewundert hatte – so häßlich wie neue Fabriken am Rande freundlichen alten Weidelandes.

Durch eine ungeheure Halle mit gewirkten Tapeten an den Wänden und hohen italienischen Kerzenleuchtern am Fuß einer schönen Holztreppe wurden sie in einen getäfelten Salon geführt, der so hoch war wie eine Kirche, aber viel lärmender. Und von diesem Augenblick an blieb nichts außer einem wirren Durcheinanderschwätzen in Sams Erinnerung. Etwa fünfzig Leute mußten zum Tee gekommen sein, Leute mit stolzen Titeln, die so liebenswürdig zu ihm waren, daß er sie nicht so hassen konnte, wie er wollte. Worüber sie eigentlich sprachen, dahinter konnte er nie kommen. Sie redeten von einer Sybil, die Schauspielerin zu sein schien, und von Politikern (er vermutete, daß es sich um Politiker handelte), die sie nur Nancy und F. E. und Jix und Winston nannten. Ein Herr erwähnte etwas, das er Grand National nannte, und Sam wußte nicht recht, ob das der Name einer Bank, einer Versicherungsgesellschaft oder eines Hotels war.

Was sollte er tun, als eine ihm völlig unbekannte Dame ihn fragte: »Kennen Sie schon das Neueste von H. G.?«

»Noch nicht«, antwortete er intelligent, aber wer oder was H. G. sein mochte, erfuhr er nie.

Und während sein Herz sich vor Einsamkeit zusammenzog, sah er, wie vergnügt, selbstverständlich und männererobernd Fran sich durch diesen bunten Wirbel von Menschen bewegte. Sie alle waren eine Familie; sie nahmen sie auf; aber er, wie er da hineinkommen sollte, davon hatte er keine Ahnung. Er hatte bei Bankiersversammlungen Ansprachen gehalten; er hatte tausend tanzende Menschen bei Bällen im Union Club dirigiert; aber hier – diese Leute waren einander so eng verbunden, so voll Heiterkeit selbstsicher, daß er außerhalb stand.

Er entrann der Dame, die über H. G. informiert war; er wand sich durch die Unzahl in der Luft schwebender Teetassen und kämpfte sich an Frans Seite durch. Sie vertraute (nicht ganz der Wahrheit entsprechend) einem Mann mit Monokel an, daß sie sich leidenschaftlich für Polo interessiere.

Bei der ersten Gelegenheit, die sich bot, seufzte Sam ihr zu: »Gehen wir. Viel zu viel Menschen für mich!«

»Es sind reizende Leute. Und ich habe einen kolossalen Erfolg bei Lady Ouston gehabt. Sie möchte, daß wir einmal bei ihr in der Stadt essen.«

»Ja – ich möchte bloß – ich dachte, wir könnten vor dem Essen noch etwas Luft schnappen. Ich fühle mich gar nicht wohl hier. Die Leute reden alle so schnell.«

»Du scheinst dich aber ganz gut gehalten zu haben. Ich habe dich mit der Gräfin Baliol sprechen sehen.«

»Ja? Welche war das? Alle Frauen, mit denen ich gesprochen habe, haben wie gewöhnliche Frauen ausgesehen. Warum tragen sie denn nicht ihre Grafenkronen? Wirklich Fran, das ist zu viel für einen einfachen Mann wie mich. Ich kann noch damit fertig werden, ein paar hundert Menschen auf einmal kennenzulernen, aber nicht die ganze britische Aristokratie. Sie –«

»Mein lieber Sam, du redest genau wie Mr. A. B. Hurd.«

»Ich komme mir auch genau so vor wie Mr. A. B. Hurd!«

»Willst du vielleicht verlangen, daß wir überall, wo wir hinkommen, Zenith mitnehmen? Willst du alles ablehnen, was sich auch nur im geringsten von einer Pokerpartie bei Tub Pearson unterscheidet? Und willst du vielleicht durchaus verlangen, daß ich auch Angst haben soll, und alt sein, und auf das große Leben verzichten, das ich mir erobern kann – o ja, ich kann es, ich kann es! Ich bin schon dabei! Muß ich jetzt mit dir zurückgehen und mich in Lord Herndons Villa setzen und Zeitung lesen, wenn ich nicht mit deiner schlechten Laune bestraft werden soll?«

 

Aber sie war es, die schlechte Laune hatte, obgleich er sie sehr gedrängt hatte, so lange zu bleiben, wie sie mochte – oder wie Herndon mochte. Sie war den ganzen Abend über sehr brummig, aber nicht gegen Herndon und ganz entschieden nicht gegen Lockert. Sie aßen, ohne weitere Gäste, ein frugales Abendbrot, kalten Schinken und Rindfleisch, und offiziell war Fran überaus munter. Sie spielte Klavier, hörte gar nicht auf zu spielen, und da Herndon mit Sam ein passioniertes Automobilgespräch führte, blieb Lockert beim Klavier. Herndon und Sam saßen am Kamin am anderen Ende des Wohnzimmers mit dem Rücken zum Klavier, aber in dem venezianischen Spiegel über dem Kamin konnte Sam die anderen beobachten, und das tat er, voll Unruhe.

Erst jetzt wurde es ihm gewiß, daß Lockert bedeutend mehr erstrebte als eine höflich freundschaftliche Beziehung zu Fran.

Lockert blätterte ihr die Noten um und flüsterte ihr liebenswürdige Beleidigungen zu, die anscheinend viel besser wirkten als Schmeicheleien. Seine Hand streifte ihren Ärmel, blieb einmal auf ihrer Schulter liegen. Sie machte eine Bewegung, die ihn zwang, die Hand wieder fortzunehmen, und schüttelte den Kopf, aber sie war nicht böse. Einmal hörte Sam sie sagen: »– ich weiß nicht, warum Sie mir eigentlich sympathisch sind – Ihre einfach unerträgliche Selbstanbetung –«

Sam kam sich vor wie ein würdiger Vater, der seine Tochter und einen Freier beobachtet. Dann begann er ärgerlich zu werden.

»Verdammt noch einmal, hat Lockert uns deshalb hier herausgebracht, damit er mit Fran flirten kann? Meint er, ich gehöre zu den Leuten, die sich so etwas gefallen lassen? Und sie?«

Als sie zu Bett gingen, machte sein zurückgestauter Ärger sich Luft. »Paß einmal auf, mein Kind! Das Ganze da mit Lords und Grafen und Old England und Palästen ist sehr schön – es hat mir Spaß gemacht – aber du läßt dich davon blenden. Du erlaubst Lockert viel zu viel. Du bist nicht ganz bei dir. Zu Hause würdest du wissen, daß er dir nicht bloß ein paar hübsche kleine Komplimente machen will –«

»Mein lieber Mr. Dodsworth, willst du damit andeuten –«

»Nein, ich sage es gerade heraus!«

»Willst du damit vielleicht andeuten, daß ich Major Lockert, oder überhaupt irgend jemand, mir auch nur eine Idee näherkommen lassen könnte, als sich gehört? Ich, die so streng beim Tanzen zu Hause gewesen ist, die nie in ihrem Leben in einem Auto sich nur bei der Hand hat halten lassen? Ich, die – ach, es ist wirklich die reinste Ironie! – der du tatsächlich immer wieder den Vorwurf gemacht hast, ich bin nicht erotisch genug, um deinen männlichen Gluten genügen zu können! Nein, das ist zu viel!«

»Ja, zu Hause war es so. Obwohl ich dir nie so etwas vorgeworfen habe, selbst wenn ich darunter zu leiden hatte! Ich bin geduldig gewesen. Ich habe gewartet, gehörig lange gewartet. Das macht es jetzt ja um so schlimmer, wenn ich sehn muß, daß du dich, nachdem ich so wenig Glück bei dir hatte, in diesen Mann verliebst oder zum mindesten für ihn interessierst, bloß weil er –«

»Ja, sag es nur! ›Bloß weil er der Vetter eines Lords ist!‹ Sag es doch! Sag doch, daß ich so lächerlich und gemein bin wie eine kleine Dorfgans!«

»Ich wollte gar nichts derartiges sagen. Ich wollte sagen: Bloß weil er genug herumgekommen ist, um zu wissen, wie man Frauen durch Prügel kirre macht. Ich kann das nicht. Ich könnte dich nicht schlagen. Selbst wenn ich es könnte, würde ich es nicht tun … Ach, lassen wir es. Ich meine ja nichts Ernsthaftes. Ich meine nur – Obwohl du natürlich manches Europäische hast, darfst du nie vergessen, daß wir hier in einem ziemlich gescheiten und gefährlichen alten Land sind. Aber dazu bist du natürlich viel zu vernünftig. Es tut mir leid, daß ich überhaupt davon angefangen habe.«

Gestrafft stand sie in ihrem tiefausgeschnittenen gelben Pyjama mit dem Spitzenbesatz da. Er ging mit ausgestreckten Armen auf sie zu und sagte verlegen: »Verzeih mir! Gib mir einen Kuß!«

Sie schauderte und antwortete: »Nein, faß mich nicht an! Und sag nie wieder so etwas! Lockert? Ich habe nicht das mindeste Interesse für ihn! Ich schäme mich für dich! Du solltest dich selbst schämen!«

Sie sprach entschlossen kein Wort mehr, bevor sie schlafen gingen; und am nächsten Morgen war sie absonderlich still und hatte müde aussehende Augen.

Lord Herndon, der zu den wenigen Menschen gehörte, die schon beim Frühstück heiter sind und Einfälle haben, schien durch ihr abweisendes Benehmen ein wenig verletzt zu sein, aber Lockert war neugierig und etwas amüsiert, und am Bahnhof suchte er Frans Augen, fragend … und überaus hoffnungsvoll.

Sam war froh, als der Zug sich in Bewegung gesetzt hatte, und sie gab sich Mühe, ein freundliches Lächeln für ihn zustande zu bringen. Aber er war ganz zerknirscht, voll wilder Selbstverachtung, weil er imstande gewesen war, seinem Kind die ganze Freude durch seine plumpen Verdächtigungen zu verderben.

Er nahm ihre Hand, aber die war schlaff – alle Kraft war aus der Hand gewichen, die gestern noch so fest die Zügel gehalten hatte.


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