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XXX.

Ein junges Mädchen, ein zärtliches Unschuldgesichtchen kam manchmal in den Garten des Nachbarhauses hinab. Sie flog ein wenig zwischen den Blumen unter den Bäumen umher und war nur durch das waldrebenumsponnene Gemäuer von mir getrennt. Ein tiefer Friede folgte ihren Schritten auf dem hellen, himmelsklaren Kies. Ich sah, daß sie kleine leichte Schuhe aus weißem Segeltuch hatte.

Anfangs sah ich sie nur mit Teilnahmslosigkeit durch die Sommerläden hindurch. Ich blieb ihr so verborgen, meinen ruhigen Blick koste das liebe Gewebe ihres Kleides, das wie ein lichtes Gewölk um die Gestalt ihrer zarten Brust lag. Jedes befleckende Bild war hinter mir, in der Stadt geblieben.

Ich hatte sie, da sie noch ein Kind war, gekannt; von der andern Seite der Mauer her. Damals spielte sie und lachte freimütig in ihrem kleinen frohen Tierleben. Auch andere Kinder kamen manchmal hinzu. Ich erblickte sie vor meinem Fenster durch die rosigen Blüten, mit denen sich im Sommer ein fremdländischer Strauch schmückte.

Wegen dieser schönen Pflanze hatten einst unsere Eltern uns entzweit. Ich durfte den Garten niemals betreten und der Baum wuchs dort geheimnisvoll, während gleichzeitig seine rosig besäten Äste immer dichter wurden. Und jetzt beschatteten diese mächtig meine Mauer. Ich sah das Kind zwischen den Blüten wandeln und hatte dafür erst dieselben Augen, die ich als Knabe gehabt hatte.

Welche Unruhe, auf die Dauer sich zu sagen, daß jenseits derselben Mauer ein jungfräuliches Wesen, ein Herz, das aufrichtig ist und sich nicht kennt, atmet und schläft. Mein Empfinden belebte sich leise und allmählich gegenüber dieser wiederkehrenden Erscheinung einer gleichen Stunde. Sie kam in den Garten und ging bis zu dem duftenden Hartriegel; sein Atmen verflüchtigte sich bis in mein Zimmer. Ich folgte ihren weißen Schritten auf dem lichten Wege. Sie warfen leicht wie ein Silberwellchen, wie eine zarte Schaumflocke den Saum ihres hellen Kleides auf. Und sie wußte nun bereits, daß dort in dem Nachbarhaus jemand lebte, den auch sie als Kind gekannt hatte. Manchmal flog eilends ihr Blick, ein perlender Morgentropfen, der Tau vor einem Blumenkelch, auf. Sie hatte schönes goldenes Haar, gleich einem Felde gereifter Saat, gleich einer Augusternte.

Da dachte ich: Es war einst ein junges Mädchen hinter ihrem Fenster. – Das war eine alte Erinnerung – als Aude mir noch nicht begegnet war. – Dies junge Mädchen hatte Haare von bleichem Gold und Silber, und die schmucke Wolle tanzte beständig in ihren Händen, der geheimnisvollen Weberin des Lebens! Doch eines Tages stieg sie, sich leicht in den Hüften wiegend, auf die Gasse hinab, und sie war ein Weib wie alle andern.

O, daß ich denken müßte, daß ich auch vor dieser, vor diesem keuschen Kinde der düstere, Unreines sinnende junge Mann wäre, der das Nackte der Frauen unter den Kleidern belauerte. Ich verließ das Fenster.

– War es gestern; war es heute? Ich weiß nicht mehr, wann sich jenes begab. Ein Mädchen stieg wie in weißen Legenden in den Garten hinab. –


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