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XXII.

Dies Buch ist ein schmerzlicher Krampf. Es ist nackt und traurig wie die Not, wie ein Krankensaal, wie eine Studie nach einer Muskelfigur. Ich habe es aus Bitterkeit niedergeschrieben, damit es mit Bitterkeit gelesen werde. Ihr, die ihr darin nur das Vergnügen gesucht habet, leset nicht weiter. Schließet es noch zur Zeit: es enthält nichts, das euch befriedigen könnte. Und vielleicht ist alles, was hier geschrieben steht, nichts gegenüber dem, was es noch zu sagen gibt. –

Aude und ich beschlossen eines Tages unsern Wohnort zu wechseln. Ihr war der Gedanke zuerst gekommen. Sie hielt so viel auf die Meinung der Leute und fürchtete, daß unsere Beziehungen bekannt würden. Mich band keine Verpflichtung; ich besuchte die Vorlesungen seit einem Jahre nicht mehr; ich hatte die Laufbahn der Rechte, die die Hoffnungen meines Vaters erfüllt hätte, aufgegeben. Zuweilen kam mein Freund, der junge Arzt, mich noch besuchen; er hatte Zuneigung zu mir gefaßt; ich trug den betrübten Blick, mit dem er meine ausweichenden Antworten entgegennahm, schwer. Mir fehlte der Mut, ihm die Wahrheit einzugestehen; ich sah, daß er sie kannte und mir meine Lüge verzieh. Doch seine bloße Anwesenheit erniedrigte mich wie ein Vorwurf meiner Unwürdigkeit. Das war ein zweiter Grund, der mir die Wahl eines andern Wohnsitzes wünschenswert machte. Ich bemerkte nicht, daß ich mich bereits gegen die schmerzliche Rückkehr meines Gewissens wappnen wollte.

Aude offenbarte hier ihre wunderbare Selbstbeherrschung. Sie ließ sich niemals von einer Leidenschaft zur Unvernunft hinreißen. Kalte genaue Berechnung regelte alle ihre Entschlüsse. Ich hatte sie gebeten, in einen gemeinsamen Haushalt einzuwilligen; wir hätten so in einer Art wilder Ehe gelebt. Sie entschloß sich anders und mietete für sich ein Zimmer unfern dem meinigen. Ich kannte niemals die Quellen ihres Einkommens, ich hatte umsonst in sie gedrungen, die Einkünfte meines väterlichen Vermögens mit mir zu genießen. Sie behielt sich also volle Freiheit vor und richtete sich ein, als ob ich in ihrem Leben keinen Raum einnähme. Es war abgemacht, daß sie wie früher zu mir käme; sie hatte einen Schlüssel, der ihr den Eintritt nach ihrem Belieben ermöglichte.

Wir führten also im Hunger unser früheres Leben weiter, doch in der größeren Sicherheit, die ein bevölkertes Viertel einer großen Stadt gewährt. Nichts schien sich in ihrer Festigkeit und meiner Nachgiebigkeit geändert zu haben. Sie wahrte ihr Geheimnis weiter. Sie schien immer ein Etwas ihres Lebens verbergen zu wollen oder, wie ich glaubte, sich selbst nicht zu kennen. Sie war verstellt wie die feine heimliche Katze, wie die listigen Arten, die des Nachts im Walde ein Netz mit ihren Tritten weben. Ein Wort, das sie mir eines Tages sagte, offenbarte ihre ganze Doppelseitigkeit: »Wovon man in einem bestimmten Augenblicke nichts weiß, ist keine Sünde.« Sie versäumte nicht, zu beichten und das Abendmahl mit Zeichen von Frömmigkeit zu den kirchlichen Zeiten entgegenzunehmen: an diesen Tagen kam sie nicht zu mir. Ich stelle mir vor, daß sie sich auf diese Art auf einmal von ihren ›Sünden in Unwissenheit‹ zu befreien gedachte, obzwar wir wissentlich alle Unzucht getrieben hatten. Ihre Gläubigkeit schien wie ihre Verstellung eingestanden, gerade. Sie selbst war nicht sehr verwickelt und folgte vielleicht nur ihrer Bestimmung der Entartung. Dessenungeachtet ist es möglich, daß die Mißachtung des Sakramentes für sie, ohne daß sie sich darüber Rechenschaft gab, der Zügellosigkeit noch eine Würze verlieh.

Ich genoß niemals die düstere Lust an der eigenen Erniedrigung vollkommener, als in jenen immer neuen Unternehmungen, die sie ersann. Die Duldsamkeit einer Großstadt mit leichtfertigen Sitten legte uns keinen Zwang mehr auf. Wir gingen bei Nacht aus, und als die schönen Sommerstunden kamen, saßen wir manchmal unter den Kastanienbäumen eines öffentlichen Platzes, in einem Viertel, das früher als die andern vereinsamt war.

Aude bereitete mir dort eine Überraschung vor, die eine alte teuere Erinnerung aufstachelnd erneuerte. Sie hatte, ohne mir davon zu sagen, die Kleider unter ihrem langen, bis zu den Füßen hinabfallenden Mantel abgelegt. Die letzten Glocken verstummten im Abend, Schweigen umgab uns: da öffnete sie den Mantel und bot mir ihren nackten Leib an. Er war mir in der Gefahr, überrascht zu werden, wegen der tollen grundlosen Beleidigung der bürgerlichen Scham um so kostbarer. Ich kann nicht sagen, welch unerhörtes Feuer eine solche Entweihung des Liebesgeheimnisses in mir weckte. Diese Glut vor der Öffentlichkeit war ein schätzbares Mittel, unsere Wonne zu erhöhen. Es brachte mich außer mir, es machte mein Blut wild. Ich empfand den vollen Wahnsinn der Entartung. Aude konnte so ihre ausgedehnte Macht über mich bezeugen und erwies sich als wahrhaftes Werkzeug der Seelenvernichtung und der Zerstörung. Ein Stachel der Eifersucht kam zu dieser Verzückung noch hinzu: ich hatte die Empfindung, sie all den zusammengerotteten Spaziergängern, einer lüsternen Menge abzustreiten. Die Nacht und ein leichter Wind umschmeichelten ihren in Frische zitternden Leib.

Dies sind gewiß abscheuliche Verbrechen an der Schönheit. Sie riefen ein grausames Fieber in mir wach, an das die fast edle Erscheinung im nächtlichen Walde nicht heranreichte. Denn diese opferte die Liebe, beleidigte ihren Sinn nicht. Sie paßte sich der feierlichen Nacht, den Winken der Schatten, dem ewigen Leben der Arten an. Kein Unrecht befleckte ihren einsamen Glanz. Doch hier war plötzlich ein Orgiendienst erstanden, die Liebe und die Schönheit in gleicher Weise mit Füßen getreten. Ich beichte meine späte Reue und Scham. Aude ist tot; ich entkam ihren verabscheuungswürdigen Künsten so nur zu spät. Wenn ich mich selbst nur zum Teile gebessert habe, so möchte ich nur durch diese erniedrigenden Geständnisse die jungen Leute, die eine unselige Erziehung und ihre frühreife Empfindungsqual mir ähnlich gemacht hat, gegen ihre Aude wappnen. –

Ich war bald von dem Bedürfnis nach Wiederholung besessen. Die Kupferstiche, die mir die Unnatur offenbart hatten, hatten mich früh dem unverzagten Weibe zugesprochen, das ihre Erinnerung in meinen Sinnen wieder zu wecken verstehen würde, hätte ich sie nicht zu Gesicht bekommen, so hätte das Verbot, mit dem die Organe meines Lebens belegt wurden, indem es mir dieselben zugleich übermäßig verhaßt und ersehnt machte, mich nicht minder der Herrschaft des in der Sünde schönen Weibes bis zu ihren äußersten Geboten unterworfen.

Die ganze Frage ist folgende: Frommt es, unwissend zu sein oder zu erkennen? Und darf die Natur mißachtet werden? Ich bin ein Beispiel der Verirrungen, die für einen sinnlichen jungen Mann aus der Qual, sich nicht zu kennen, entspringen. Die vorliegenden Bekenntnisse haben keinen anderen Zweck, als zu zeigen, wie ich wegen mir fremder Ursachen unglücklich und gestraft bin. Jawohl, der Wille der Natur geht dahin, in ihrer ganzen Offenbarung, ebensowohl in ihren geheimen Quellen wie in dem Adel des Antlitzes, in der Unmut der Hände und in der Schönheit alles dessen gepriesen zu werden, das unbekleidet ist. Und das Übel kommt nur daher, daß jene Quellen geheim und tadelnswert für den jungen Mann und das junge Weib bleiben, die in ihrer Unkenntnis von der Sehnsucht, sie kennen zu lernen, gepeinigt werden; oder, wenn sie sie durch einen Zufall entdecken, gegen gefährliche Verirrungen unbeschirmt dastehen.

Man hat zu ihnen gesprochen: Denket das Häßliche eures Leibes fort – und sie denken um so mehr daran, sie stehen immer auf dem Punkte, ihm nachzugeben. Nachher sind die üppige Mannbarkeit, die eine Lebensweise von Wein- und Fleischnahrung, wie sie bei den ärgsten Wilden nicht barbarischer sein kann, noch üppiger macht und die untergeordnete Stellung, die verderbte Nichtsnutzigkeit der kleinen Abgöttin, der Königin des Bettes doch sonst geschmeidigen Dienerin, nur beständige günstige Bedingungen der Versuchung. Das Fleisch der Völker, die nackt im Tageslichte schreiten, bleibt rein; Entartung in der Liebe gibt es nur bei den »Gebildeten«, die sich in ihren Kleidern suchen. Auch auf dem Lande kennt man sich besser als in der Stadt. Spiele an den Bächen haben hier die Geschlechter vom zarten Alter an vereint. Die bräutlichen Wonnen sind hier schlicht und der Natur näher.

Ich glaube, daß ein Tag in den Zeiten kommen wird, wo sich die kleinen Kinder in Reinheit nackt sehen werden. Sie werden unter dem häuslichen Dache in ihrer unschuldigen Schönheit erzogen werden, und der gute Lehrer in der Schule wird ihnen sagen, was sie eines gegen das andere sind. Der menschliche Leib wird ihnen allmählich als mit dem Geschlechte der Arten den Gesetzen des Einklanges im All übereinstimmend enthüllt werden. Es besteht kein Unterschied zwischen dem Kelch einer Blüte und der Mannbarkeit einer Jungfrau, das Innere eines Apfels gleicht den Eierstöcken einer Ehegattin, und das Pfropfreis hat die Schönheit eines Symbols der Zeugung. Gleichwohl sündigen die Blüte und der Apfel nicht, auch der Gärtner errötet nicht beim Anblick des gepfropften Zweiges. So wird die Erkenntnis der Welt durch die Erkenntnis des Selbst vollständig werden; die Dinge um uns sind nur ein Gleichnis des Menschen und umgekehrt, alle Wahrheit ist in dem herrlichen Garten des Lebens eingeschlossen. Glaubt nur, daß die Kinder auf reinen Wegen hinschreiten und nicht davor zittern werden, nebeneinander zu reifen! Doch ich, zu dem man gesprochen hatte, »daß es besser wäre, daß meine Mannbarkeit verschnitten«, als daß sie mir zum Gegenstand der Lust würde, ich bin dem Tier gefolgt, ich habe die Unschuld erst erkannt, nachdem ich sie verloren hatte, und das Paradies war für mich eine von brüllenden Tieren bevölkerte Einöde. Aude, deren Schoß so schön war, flößte mir noch Grauen ein, als ich seine Tiefen bereits kannte. Ich habe sie niemals nackt betrachten können, ohne die Schrecken eines unnatürlichen listenreichen Geheimnisses zu fühlen. Und ich glaube, daß selbst die reine Nähe eines Mädchens aus meinem Fleische diese kochenden Blasen gezogen hätte.


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