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XXIV.

Ich nähere mich einer Krise, die mich für einige Zeit befreite. Sie rüttelte an meinen Wurzeln, schlug an die Quellen. Sie ließ die Flut am höchsten aufschäumen, daß sie ebbte. In meiner Nacht, da alles Geistige gerann, schlummerten Teile meines Lebens, verschonte Energien in mir, die ich nicht kannte. Ich bewundere die helfenden Mächte, die im Grunde des Geschöpfes wohnen, und deren Erscheinung ein verdunkeltes Leben wieder zu erleuchten vermag. Ein seltsames Mißtrauen gegen unsere eigene Kraft, unser Bedürfnis, uns auf Symbole zu stützen, läßt uns die Helfer in das Reich des Übernatürlichen versetzen. Sie sind dennoch in uns; sie keimen selbst in unserem verfaulten Dünger. Die ›Heiligen Engel‹ der Barmherzigkeit tragen die müden Züge unserer eigenen Schwäche und falten die Hände unserer Hoffnung auf Besserung. Auch ich suchte sie ehedem zu den Füßen Gottes, während sie verwundet und schlafend auf meinem Lotterbette harrten und vielleicht nicht die Kraft zu dem Schwertstoß gegen mich hatten, der sie selbst getroffen hätte.

Wir sind selbst die Wärter unseres Leids und unserer Gebrechlichkeit. Gott ist um so größer, da er uns das Heil durch Mittel gewährte, die er in uns legte, ohne daß er notwendig hatte, die Schar seiner Seraphim in Bewegung zu setzen. Und seht, es ist nicht einmal der feste Vorsatz erforderlich, dessen so wenige fähig sind. Schon das wäre von der menschlichen Schwachheit zu viel verlangt. Es genügt, einzig um Stillstand eintreten zu lassen, daß die Natur ihre geheimen Quellen aus der Ermüdung und der Einförmigkeit des Bösen schöpft. Die Wunde schreit, daß sie zu schleichend ist, um zu verwachsen, sie hat Lippen, die endlich geschlossen werden wollen. Und wir empfinden die Mattigkeit der Wiedergenesung. Mit klaren feuchten Blicken sehen wir von neuem am Ende des dunklen Pfades das Lächeln der wiederversöhnten guten Engel. Doch wir sind es nur selbst, die wir Schönheit und Hoffnung wiedergefunden haben.

Mein zweimal abtrünniges elendes Leben raffte sich also wieder auf. Es war ein letztes Taumeln meiner Vernunft. Wenn nachher betrübende Versuchungen, die allzu deutlichen Zeichen meiner sittlichen Verfallenheit, neuerliche jähe Rückfälle beschleunigten, so konnte ich von diesen letzteren nicht mehr geheilt werden. Aude, die mit Erfolg die Kraft listiger Mittel erprobt hatte, ersann ein neues, noch gewaltsameres, das alles starr machte. Sie besaß die Teufelskunst, mich durch Reizungen anzuspornen, die mich nur zurückgestoßen hätten, wenn ich nicht schon früher meinen verständigen Blick verloren gehabt hätte. Diesesmal wagte sie, frech gleich der tollkühnsten Lokuste, das Maß so zu vervielfältigen, daß es erschöpft war.

Keine Rücksicht auf Menschliches soll hier mein Geständnis aufhalten, mag für mich welches Leid immer daraus erwachsen. Es war während der Ausgelassenheiten des Karnevals. – Diese allein würden genügen, um die Barbarei unserer bürgerlichen Gesellschaft zu beweisen, so frei, daß sie die Abirrungen von einer sinnigen Freude nicht begreift. –

Der gesittete Mensch verkommt zu jener Zeit zu Zerrbildern und ausschweifenden Schatten. Dennoch, wer wollte, o Sittenrichter, behaupten, daß das Geschöpf der Tränen und Sünde, von der leichten Gunst Gebrauch machend, nicht einem dunklen, doch unwandelbaren Gefühle der Aufrichtigkeit folgt, das in seinem Wesen schlummernd, nur durch die Verderbtheit des bürgerlichen Gesetzes selbst verderbt wurde? Dieses stempelte den Reiz der Geschlechter zu einem Unrecht, selbst im reinen Kindlichen; die größte Torheit, aus der alle anderen entsprangen. Die Faschingstage, die Genugtuung der Fasten des Fleisches, sind vielleicht nur die Krise des gesunden sinnlichen Verstandes, in den Mysterien der Gasse entartet und parodiert. – Doch dies alles nimmt nichts von der Häßlichkeit dieser Tage des ›Tieres‹ weg; und wenn man sich selbst vorstellen wollte, daß sie Gott stillschweigend den bösen Engeln einräumt, so müßte man über das Blut der ›guten‹ weinen, das während dieser Zeit die Erde rötet.

Aude wandelte die Lust an, sich unter die Tollen zu mengen. Scharen von Masken strichen in der Nacht umher. Zerzauste, unter ihrem Mantel halbnackte Weiber betäuben die Luft wie Korybanten mit ihrem unzüchtigen Geschrei. Ihre Brüste und Schenkel sind das Eigentum geiler Blicke und stehen der Betastung frei. Ich sah hier, wie leicht das ›Unsträfliche‹ einer leichten Pappe vor dem Gesicht und eines Flittergoldes um den Leib über die Sittlichkeit Jener Herr wird, die aus Gewohnheit die Züchtigsten sind. Die Maske scheint sich viel eher mit ihrer Seele als mit ihrem Antlitz zu verbinden; sie geben heimlich dem lockeren Drängen nach und wissen nichts von sich. Aude zog mich also, als der Tag sank, mit sich fort. Ein langer schwarzer Domino verhüllte sie, und sie hatte das Antlitz mit einer Maske bedeckt, deren enge Ausschnitte ihre Augen klein und sie klugerweise unkenntlich machten. Ich wußte noch nichts von ihrem Vorhaben; ihre Verkleidung, die sie vor mir selbst verbarg, trug noch mehr Dunkel in ihre beabsichtigten Unternehmungen. Dennoch schien sie mir durch dieses schwarze Geheimnis hindurch noch gebieterisch schöner, als ob dies Kleid ihre Bestimmung und die natürliche Wohnung ihrer Seele gewesen wäre.

Sie verwickelte uns endlich in eine jener Begegnungen von Schalksnarren und Pierrots, in denen die schnell gemachte Bekanntschaft darauf fußt, daß man einander nicht kennt und sich bloß eine flüchtige grillenhafte Erscheinung ist. Aude hatte mir die lächerliche, in einem Laden geliehene Vermummung eines Schwarzkünstlers aufgenötigt. Meine müde Fühllosigkeit für die öffentliche Belästigung fing bald an dem Rufen und Lachen, das diese bunten Gestalten toll machte, Feuer. Ich nahm an ihren Konfettischlachten, an ihrer Pöbelhaftigkeit, am Mummenschanz teil. Aude preßte meinen Arm und sagte mit dem dunklen Lachen aus ihrer Maske: »O, mein Lieber, man sieht einander nicht. Man weiß nicht mehr, ob man nicht der Narr eines anderen ist. Und das ist im Grunde so traurig wie komisch. Erinnere dich an die Clowngesichter.« Sie sprach da eine Wahrheit aus, die mich einen Augenblick seltsam traf. Ich sagte: »Du hast recht. Dieser Mummenschanz ist gleich dem düsteren und leichtfertigen Spiel des Lebens. Es ist, als schöbe uns eine Hand hier vor sich. Man weiß nicht mehr was man im Augenblicke tun wird, und wir sind einer für den anderen Nacht.« Ich hätte indessen nicht entscheiden können, ob sie dieses derbe Vergnügen wirklich erfreute; sie wahrte ihre kalte Zurückhaltung in dem Durcheinander, als ob uns nichts Außergewöhnliches mit dieser prunkenden Herde vermengt hätte. Ich indessen hatte aus dem, was sie sagte, einen vernünftigen Schluß gezogen und sorgte, in welches schmutzige Zerrbild mich jene ›Hand‹ verwandeln würde.

Nachdem wir das Charivari der Straße ausgekostet hatten, drangen wir in wogender Reihe in einen öffentlichen Ball ein; es war die Stunde, da die Besten des Drängens und der Wortgefechte müde waren. Gelber Schweiß trat aus den Achselhöhlen, und schon schlugen die Masken in den betrunkenen Stumpfsinn der Gesichter um. Meine kurze Tollheit scheiterte, ich fühlte mich in diesem strömenden Fleische, das im Grunde seines Herzens gleich mir betrübt war, von grenzenloser Traurigkeit umfangen. Ein seltenes, doch starkes Gesicht trug mich, ohne daß ein Äußeres meine Gedanken dahin gelenkt hätte, in eine Landschaft an einem Flusse fort. Ein Sommerregen näßte das Gras, ich ging Weiden entlang. Ich sah, wie der liebe Schatten Elisens unter den Bäumen aufstand, es war so lange Zeit her, daß ihr Bild in meinen Träumen ausgelöscht war.

Sie schien mir fern und doch nahe und machte mir ein Zeichen, das ich nicht verstand, doch das sie mir schon gegeben hatte. Ich wußte nicht, ob sie nach dem Wasser zeigte; sie war bleich und betrübt und ihre Lippen regten sich nicht. Dennoch sprach sie zu mir von dem Tode. Es war so süß, als ob ich selbst nicht mehr lebte, als ob sie mir an einem Orte jenseits der Zeit voranschreite, weder ihr Bild noch jenes der Landschaft war während dieser Dauer trüb, ich hatte beide niemals deutlicher gesehen. Dann nebelte es mir vor den Augen, ich fand mich mit dem Schweiß der Aufregung allein in dem Getöse des Bacchanals. Aude hatte mich verlassen, ich war zwischen die Arme dieser Menge gepreßt, die die heftige Angst, die Sucht, sich selbst zu fliehen, fortzureißen schien, und ich war selbst in ihren Wirbel wie bei einem Gewitter am Strande gerollt.

Ich fühlte mich plötzlich so schwach, daß ich Aude in meinem Innern in meiner ganzen Verzweiflung wie die einzige Stütze, die meiner Verlassenheit blieb, herbeirief. Nach kurzer Zeit warf sie eine Welle vor mich; sie drehte sich am Arme einer Athletenmaske, er preßte sie an seine Brust und hob sie in seinen nervigen Armen. Sie warf mir, als sie an mir vorbei kam, durch die Augenöffnungen einen seltsamen Blick zu. Zweimal drehte der Walzerring ihr nächtliches, über die glühende Mauer der Tanzenden erhobenes Gesicht nach meiner Seite, und zweimal heftete sich der gleiche schwere anziehungskräftige Blick auf den meinen, dann verschwand er in dem ungeheuren lächerlichen Hüpfen, als ob diese Menge auf glühendem Eisen tanzte.

Meine Erschlaffung hatte seit langem keine so heftige Erregung gekannt. Ich war wie von einem Bruch, einem Raub, der sie dreist aus meinem Leben riß, einer Entsetzung aus dem Besitze ihrer barbarischen herrlichen Liebe erstarrt. Klingen, glühende Spitzen drangen in meine Seiten; Schleim von Reif und Phosphor würgte meine Kehle.

Ich sollte erst später den Stachel wahnsinniger Eifersucht empfinden. Dieses Auftauchen Audens am Arm des lächerlichen Herkules war mir gleichwohl eine Warnung. Ich führte mir mit plötzlicher Bestimmtheit wie ein Vorzeichen des Verrates ihre Vorliebe für die Kämpen des Marktes, die fetten Ringer, die krause Totenverzerrung der tätowierten Klowne vor. Schon murrte das Tier, schnüffelte, meine Nasenlöcher schwollen vom Most ihres Lebens, von dem Jod- und Tangduft, der ihre Achselhöhlen würzte und so oft meine erstorbenen Begierden elektrisierte, wie die scharfe Losung des Fuchses die Hunde aufjagt. Ich hätte gewünscht, sie unter mir zu haben und mich einzubeißen, meine mörderischen Zähne in ihren strahlenden Leib zu schlagen, und gleichzeitig in einem tobenden Kampf von Schmerz und Zorn schluchzend ihren Mund zu küssen.

– Sie wiederfinden! Sie diesem eitlen, stumpfsinnigen Narren zu entführen! Ich strengte mich bis zur Erschöpfung an, diese menschliche Masse zu durchbohren. Meine Augen traten aus den Höhlen, glotzten wie Zwiebeln über all dieser fetten und tanzenden Nacktheit, dem knisternden Flitter unter den Gasflammen. Alle meine Wunden öffneten sich wie die einer Krankheit bei Anwendung eines Brennmittels. Niemals war ich so sehr auf das arge Wild erpicht gewesen. Meine rasenden Hände wandten, um mir einen Durchgang zu verschaffen, Schultern um, tasteten über die weiche Masse von Brüsten und Rücken, wühlten im Fleische. In dem Gewühl hing sich ein Arm in den meinen, und Aude ging jetzt neben mir, Aude blickte mich aus den Löchern ihrer Maske, wie aus den Bogenhöhlen eines Amphitheaters an. »Komm!« besänftigte sie mich. Meine Mut verschwand bei der Berührung ihrer seidenweichen sich biegenden Hüften: »Aude! Aude! sage mir –« Sie zog mich, glühend und zugleich kalt, nach sich, indem sie mit gebieterischer gedämpfter Stimme sprach: »Komm!« Und ich wußte nur, daß ich sie wieder hatte.


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