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III.

In den Ferien nach meinem fünften Schuljahre gab es ein Ereignis. Mein Vater hatte mich unserem Gärtner anvertraut und auf einen Monat in das Forsthaus gesandt. Ich befand mich eigentlich allein, da der Gärtner mit seiner Familie ein Nebenhaus bewohnte. Oft vergingen ganze Tage, ehe wir einen Menschen zu Gesicht bekamen.

Einst an einem Junimorgen, da ein leiser Regen zur Erde fiel, ging ich durch den dichten Wald bis zum Flusse und schritt langsam, um nicht zu bald ans Ziel zu gelangen, unter den hohen Bäumen hin. Ach, der Duft des Regens und der jungen Rinde, eins mit dem Atem der nassen Blumen! Die Vögel flogen mit müdem Schrei ganz niedrig und stäubten sich im Laub. Am Ende des Weges sah ich endlich die grauen Wellen. Sie wälzten sich träge, von feinen Tropfen gekräuselt, der Ebene zu und nach den Dörfern, die aus den violetten Weidenzügen hervorblickten. Der Himmel war bleiern und süßer Schwermut voll. Und ich strich die Weiden am Ufer entlang: auch ich war krank am Sommerfieber.

Es war so lange her, daß ich in kein verwandtes Antlitz geblickt hatte. Wie sehnte ich ein solches herbei! Ich weiß nicht, was ich zu einem Freund gesprochen hätte. Vielleicht kein Wort; ich wäre erfreut gewesen, ihn einfach neben mir zu haben, zu zweien mit ihm in die frische Regenluft zu schreiten. Da ich traurig das jenseitige Ufer betrachtete, erhob sich in der Ebene ein Greis, in dem ich meinen Großvater erkennen wollte. Er trat wie ein Riese die Blumen nieder, er hatte jenes Aussehen eines Büffels und jetzt bückte er sich, schnitt ein Rohr ab und schnitzte mit seinem Taschenmesser daraus eine Pfeife. Der Wind schaukelte leicht die blühenden Zweige. Doch mußte ich denken: »der Alte schläft lange unter den Zypressen.« Jetzt ging drüben nur ein zorniger Bauer.

Da überkam mich tiefe Traurigkeit. Jener hatte oft meine Kindheit mit seiner Pfeife entzückt, seine Hände liebkosten mich mit warmer und sanfter Zärtlichkeit. Die Frauen, die sich einmal von diesen Händen gefangen fühlten, blieben geschmeichelt wie Vögelchen darin. Die Mägde hatten mich in dieses Liebesleben des Alten blicken lassen.

So gelangte ich an ein Knie des Flusses. Die Ebene hatte hierher eine Gruppe von Weiden entsendet. Und ich erblickte zwischen diesen Bäumen zwei weidende Kühe, die ohne Hut schienen. Indessen weinte eine Stimme leise im Gestrüpp wie eine abtropfende Quelle. Und als ich einen Schritt hinzutrat, gewahrte ich ein langes schmächtiges Mädchen auf dem Bauche liegend, das den Kopf in die Hände preßte. Sie hatte lichte silberbleiche Haare und ihre Beine sahen aus dem zu kurzen Rock hervor. Jetzt sah ich nur das Haar und ihre Schenkel, erst als ich ihr nahekam, richtete sie sich auf den Händen auf und blickte mich mit dem Ausdruck eines bösen Tieres an.

»O!« zürnte sie. »Der Mann hat mich schon wieder geschlagen!« Ich wußte nicht, ob sie den alten Bauer meinte, der in der Ebene ausschritt. Sie war zurück in das nasse Gras gesunken und schlug zornig mit den Händen auf den Boden. Erst als ich nach einem Worte suchte, stellte sie ihre Klagen ein und begann mich rauh durch die lichten Strähne ihres Haars zu betrachten.

Sie sagte mir: »Ich erkenne dich: du bist der Sohn des Besitzers; aber ich hasse dich.«

»Und doch habe ich dir nichts getan.«

Mir war die Sprache wiedergekommen; ich richtete entschlossene Blicke auf sie. Auch ich glaubte diesen Haß zu erwidern. So verharrten wir einige Augenblicke. Nein, die war nicht hübsch: dieses Mädchen mit den kalten, spitzigen Augen; ihre Blicke warfen mir den Handschuh hin. Ich hatte niemals diesen wilden Ausdruck von Haß und Verschlagenheit gesehen. Sie las Steine auf und warf sie in den Fluß.

»Dein Großvater aber«, entgegnete sie endlich. – »Ich heiße Elise.« Und schon leuchtete ihr Blick freundlicher. Auch ich war nicht mehr böse. Sie hatte sich wieder, wie, da sie allein gewesen war, auf den Leib gelegt, die magere Brust in das feuchte Gras verborgen und schlenkerte abwechselnd mit den freien Beinen nach rückwärts. Sie waren hager und braun wie ein Strauch; dieses junge Weib kannte die Scham nicht. Jetzt forschte ich mit unruhigen Blicken nach ihrem Vorhaben.

»– Meinst du, daß der Alte …«

»Das weiß doch jedermann in den Dörfern. Manchmal brachte er etwas Geld und setzte mich auf sein Knie und nannte mich lachend ›sein liebes Kind‹. Und eines Tages starb er. Da sagte meine weinende Mutter zu mir: ›Siehst du, das war ein lieber Mann trotz seines Alters; ich liebte ihn sehr. Jetzt, wo er nicht mehr ist, tätest auch du am besten, zu gehen.‹ Und seither prügelt mich mein zweiter Vater immer.«

Ich liebte den Alten nicht mehr so sehr. Dennoch war ich unzufrieden, daß jemand den Mann tadeln wollte, der mich als Kind mit Pfeifenschneiden erfreut hatte. Es entstand ein verlegenes Schweigen, bis sie laut nach ihren Kühen rief. Sie fluchte wie ein Junge. Darauf kam sie zurück, spreizte sich auf die Hüften und sprach ruhig, indem sie ihr blondes Haar um die Finger wand:

»Du und ich sind verwandt. Und doch bist du viel schöner als ich.« Ich hätte sie beschimpfen mögen. Ich war der Sohn eines reichen Mannes und trug neue Kleider. Ich konnte nicht hinnehmen, daß zwischen mir und dieser Hirtin etwas Gemeinsames bestünde. Sie sah meinen Ärger und sagte demütig:

»Mein' Seel', ich wollte dich nicht kränken.«

Und da der Nebel fein rieselte, zeigte sie mir zwischen den Stämmen ein kaum betautes Moospolster.

»Siehst du, da ist's schöner.«

So fanden wir uns nebeneinander. Ich hatte meinen Groll vergessen und sie zog jetzt von Zeit zu Zeit ihren Rock über die Knie, als ob ihr mit einem Male die Scham wiedergekehrt wäre.

»Sind das deine Kühe?« sagte ich.

»Ja, und die schwarze gibt uns drei Eimer Milch, doch darf man der roten nicht zu sehr trauen!«

Sie hatte die Hand auf mein Knie gelegt und eine seltsame Glut machte mich kraftlos. Ich sagte mir: du mußt wie sie tun und ebenfalls deine Hand auf ihre Knie legen. Dann nahm sie meine Haare zwischen die Finger und spielte wie ein Kind mit deren Locken.

»Troll hatte wie du solche Haare, wie Vogelfedern«, sagte sie ein wenig wunderlich. Ich wußte nicht, wer Troll war. Und sie sah mich entzückt aus einfachen Augen an. Es war das erste Mal, daß ich das Fleisch der Mädchen fühlte. Ihre Haut brannte wie der Sommer an der meinigen. Meine Lippen waren kalt, ich fand kein Wort der Erwiderung mehr, von Zeit zu Zeit begann sie wieder ihren Rock lang zu ziehen. Und plötzlich schlug ihre Stimme um, sie rieb sich an meiner Schulter und flüsterte mir mit heißem Atem zu:

»Ich möchte mich ganz ruhig von meinem Liebhaber schlagen lassen.« Da dachte ich ganz klar, daß sie schon bei Knaben gesessen sein müsse und fühlte mich sehr unglücklich. Ich empfand einen wollüstigen Schmerz, dessen Wesen ich nicht kannte. Ich sah immer auf ihre sonnenverbrannten nackten Beine. Sie lachte leise in mein Ohr und sprach jetzt kein Wort mehr. Ihre Brüste richteten spitz die grobe Leinwand ihres Hemdes auf. Diese hier vernahm einfältig die Stimme der Natur; der große Strom, ihr mächtiger sinnlicher Erguß, schäumte durch ihre Zähne. Die Schlichten sind dem Leben viel näher als die anderen. Ihr Mund suchte den meinen, ihr Lächeln hechelte meine Schläfe. Plötzlich kam eine solche Furcht über mich, daß ich mich schreiend auf sie warf. Dennoch war ich nicht zornig, ich hätte weit eher geweint. Der kleine, linkische und ungebändigte Mann erwachte, wild, von Liebe und Haß geschaukelt, ein Neugeborener. Sie, unter meinen Händen, lachte durchdringend mit geschlossenen Augen und kurzem Atem, ganz hingegeben in Wollust. Am Ende lief auch mir eine herbe Wonne durch die Fingerspitzen, meine Hände wurden weich, ich wußte nicht, daß ich ihre kleine Brust liebkoste. Da stieß sie einen Schrei aus und sog an meinen Lippen und biß, ihren Mund um den meinen schließend, mir kleinen wütenden Zügen hinein. Meine Besinnung entfloh, ich lag wie tot. Da lachte sie rauh und gekränkt auf und warf sich ins Gras: ich wußte nicht, wodurch ich sie beleidigt hatte.

»Liebe Elise«.

Meine Stimme hatte den listigen Ton des Verführers. Sie aber rannte hinter die Stämme und rief mir von weitem zu:

»Sieh, daß du fortkommst. Ich hasse dich wie alle!«

Ich war tief beschämt und entfernte mich, leise durch die Zähne pfeifend, im Regen die blühenden Weiden entlang. Ich dachte mir: du warst also feig und sie verachtet dich; und weinte, heimgekehrt, vor Zorn.


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