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III.

Gegen das Ende des zweiten Jahres brachte mir eines Morgens die Post ein Wort einer unserer Mägde. Das treue Mädchen unterrichtete mich, daß mein Vater auf der Straße von einem Schlaganfall getroffen worden wäre. Man hatte ihm ein ganzes Aderlaßbecken von Blut entziehen müssen, was ihn außer Gefahr gesetzt hatte. Dessenungeachtet hatte er, mich unverzüglich zu sehen begehrt. Obgleich unsere Beziehungen immer ziemlich kühl, wie zwischen einem Vater und Sohne der alten Schule, gewesen waren, empfand ich dennoch eine heftige Gemütserregung. Ich suchte allsogleich meine Reisetasche hervor.

Der Zug pfiff bereits, als plötzlich die Türe des Abteils, das ich mit einem braven Ehepaare teilte, heftig geöffnet wurde und ein Schaffner ein junges, vom Laufen atemloses Weib zwischen die Sitzreihen drängte. In dem Halbdunkel unter dem Eisendach des Wagens und der rauchverfinsterten Halle sah ich anfangs nur die lebhafte geschmeidige Bewegung, mit der sie sich in den Hüften drehte, um sich, noch zitternd, an der Seite mir gegenüber niederzulassen, und ihr kurzes Atmen unter dem beschleunigten Wogen der Brust.

Dann rüttelten die Wagen über die Stahlscheiben bei der Ausfahrt aus dem Bahnhof. Die vorbeifliegenden Häuser mit dem Rauch und dem matten Grün zwischen ihnen rauchten hinter den Scheiben in einem trübseligen regnerischen Nebel. Ich sah, daß die Dame ihren Schleier zur Hälfte zurückgeschlagen hatte, daß er schwarz wie ihr Kleid war, und daß der Rand ihrer Haarscheitel auf die bleichen Ohrlappen fiel. Das zarte gewebte Netz zog Striche über ihre Augen, die mir so verborgen blieben, und ich erblickte nur den unteren Teil eines Gesichtes, das durch die Plattheit einer aufgeworfenen, fast mopsartigen Nase verunschönt war.

Der Zufall eines weiblichen Gegenüber während einer Eisenbahnfahrt von längerer Dauer, diese von ungefähre und fast vertrauliche Annäherung zweier einander unbekannter Wesen zwischen den engen Wänden eines Wagenabteils hatte stets seltsam auf meine Nerven gewirkt. Die Anziehung, die sich meinem Blut sonst beim einfachen Streifen eines Kleides mitteilte, griff mich in solchen Augenblicken noch heftiger an und verwandelte sich auf die Dauer in ein unerträgliches Mißbehagen. Aber diesmal bewirkte meine Gleichgiltigkeit gegenüber diesem unschönen Antlitz, daß meine Augen, wie der Zug dahinstampfte, ohne sich zu unterbrechen, die trübselige Landschaft durchflogen, auf deren Hintergrund mir das Bild meines vielleicht tödlich getroffenen Vaters erschien.

Dunkle Besorgnisse machten trotz der beruhigenden Einschränkung des Briefes mein Herz erstarren. Ich fühlte angstvoll die Bande der Kindheit sich erneuern, die Anhänglichkeit an die alte Zeit in dem großen einsiedlerischen Hause, wo mir die mütterliche Zärtlichkeit kaum geleuchtet hatte, wo ein wortkarger, ernster, stets in schwarz gekleideter Mann mich vor dem kindlichen Straucheln bewahrt hatte. Und an mir vorbei donnerten rauh die Bahnhöfe mit ihrem Eisen- und Schienengerüste, mit den Lichtausschnitten kleiner Städte und Schranken, die von haltenden Fußgängern und Gespannen belagert waren – auch sie von Regengüssen und dem grauen Himmel betrübt, der in Nebelfetzen zerflatterte.

Ich weiß nicht an welchem innerlichen unvermuteten Auffahren ich bemerkte, daß mich die Dame mit dem Schleier ansah. Es war ein heftiger elektrischer Schlag, der meine Augen nach ihrer Seite hin zog, so daß unsere Blicke einander einen Augenblick begegneten; denn sie hatte jetzt den Schleier zur Gänze über den einfachen Hut, den sie ohne Federschmuck trug, geschlagen.

Ich hatte den plötzlichen Eindruck, sie schlecht beurteilt zu haben. Sie war ohne Zweifel mit ihrer erloschenen Gesichtsfarbe, mit der kecken aufgeworfenen Nase und den geschwellten Flügeln der Nase nicht schön. Doch ihre Augen strömten unterhalb der strengen Brauen ein tiefes in sich ruhiges Leben, das schwarze und stechende Licht eines wellenlosen Wassers aus.

Ich schuf mir sofort das Bild einer Schönheit wider die gewöhnliche Auffassung, die, in mir rätselhaft und in sich widerspruchsvoll, mit dem schmalen und langen Schnitt eines zunderroten Mundes, mit der Zweideutigkeit eines Gesichtsteiles, der einer Tierschnauze ähnelte, die verwirrte Vorstellung von der Nacktheit und dem eigenen Duft dieses Weibes hervorrief. Sie hielt, doch ganz schicklich, das eine Knie, das sie über das andere geschoben, in ihren schwarz behandschuhten Händen, sie hatte den Oberleib in die Kissen zurückgelehnt, und die Linie der Hüften zeichnete sich lebhaft unter dem eng ihre Gestalt umfließenden Kleide ab. Endlich wandte sie das Haupt und sah gleichgiltig, wie ich vordem, wie die Felder sich trüb hinter den Scheiben abrollten. Ich hingegen fuhr jetzt mit heimlichen Blicken, in einer seltsamen leidenden Unterwerfung meines Willens unter eine gebieterische Macht fort, sie verstohlen mit immer unruhiger werdender Aufmerksamkeit zu verfolgen. Ich wußte nicht, wo es hätte gewesen sein können; dennoch war ich des Glaubens, sie schon irgendwann im Leben gesehen zu haben. Diese zweideutige Larve mußte schon einmal in meinen Gedanken einen Platz eingenommen haben.

Die Ebene, die ich jetzt nicht mehr betrachtete, war für meine Augen nur eine kaum gefärbte, unter dem Regen sich verwischende Zeichnung, und ich dachte nicht mehr an meinen Vater und die Schatten, die mich soeben verdüstert hatten. Ich quälte mich in müder Anstrengung ab, mir, ohne sicheren Erfolg, in Erinnerung, wo und wann in meiner Jugend ich diesem Weib schon hatte begegnen können.

Nach einiger Zeit begann sie mich wieder zu betrachten und ich wiederum den Blick von ihr zu wenden. Ich empfand ein stumpfes körperliches Weh und wußte das peinliche Gefühl nahe, das mir in den Händen kribbelte und stets dem jähen Schrecken bei der Gegenwart eines Weibes voranging. Jetzt aber ruhten jene Augen hartnäckig auf mir. Auch sie schien sich über eine Ähnlichkeit zu beunruhigen und mich dunkel wiederzuerkennen. Dennoch verharrte sie, ganz in ihr schwarzes Geheimnis gehüllt, in Schweigen. Und endlich sahen wir einander beide frei an, unsere Blicke ergriffen sich wie Hände. Es schien, daß wir uns jetzt ein jedes deutlich an die Umstände unserer ersten Begegnung besinnen könnten. Doch dies dauerte nur eine Sekunde, eine kaum meßbar kurze Zeit. Ein Schatten tauchte zwischen uns auf, wir wurden wieder zu Fremden, die von entgegengesetzten Enden, ein jeder in seine unbekannte Heimat, reisen.

»Nein«, sagte ich mir, »ich habe diese Frau noch niemals gesehen, sonst hätte ich, als sich unsere Blicke begegneten, nicht diesen Schlag des Unbekannten gefühlt.« Jetzt quälte mich eine andere unabweisbare Vorstellung: Ich hatte sie vielleicht vor dieser Stunde in einem feinen Vorgefühl geahnt. Der unbestimmte Umriß eines Bildes hatte sich mir, in wunderbarer Weise von dem Spiegel der Zukunft zurückgeworfen, verkündigt und war das prophetische Urbild der Wirklichkeit geworden. Ein geheimnisvoller Wille mochte in diesem Falle die Zufälligkeiten des Lebens ergänzt haben; soferne in der unendlichen Berechnung des Weltalls der Zufall überhaupt Raum fand. Hätte doch eine Minute mehr verfließen, eine andere Türe ihr geöffnet werden können, und jene Frau wäre auf ewig meinem Leben oder wenigstens dieser Saite desselben, die sie jetzt anschlug, fern geblieben. Ein Geisterfinger schien ihr die Scheibe gewiesen zu haben, hinter der ich saß.

Jetzt glitten neuerlich ihre Augen über die meinen wie der Regen über die Fensterscheiben: so schienen sie mir nichts mehr zu sagen zu haben. Sie blieb ganz ruhig, unbeweglich in den gerüttelten Kissen und streifte nur selten die erhellte Ferne eines Landschaftsbildes mit ihren schwarzen Augen voll schlafenden Lebens. Ich merkte wohl, daß ich mit ihren Gedanken nichts zu tun hatte.

Ein Bahnhof tanzte im Ruß vorbei. Und sie zog die Spitzen wieder mit den behandschuhten Fingern hoch und versuchte den Namen der Stadt, die wir durcheilten, zu erkennen. Ich wußte denselben und hätte ihn ihr sagen können, dessenungeachtet öffnete ich nicht die Lippen. Meine Nerven wanden sich aufgelöst wie Strähne, denn ich erkannte neuerlich an inneren Zeichen, an der heftigen Art, die meine Erinnerung in Schwingungen versetzte, aufs Bestimmteste, daß ich ihr schon begegnet sein mußte, ohne daß es mir möglich war, mich auf Zeit oder Ort zu besinnen.

Die Pein wurde so übermächtig, daß ich plötzlich in die Höhe fuhr; ich verschob den beweglichen Laden, um frische Luft zu schöpfen, endlich ließ ich den Vorhang herab und alle diese Handlungen waren hastig und ungeordnet; ich hatte kein genaues Bewußtsein meiner Bewegungen mehr. Der alte Herr neben mir klagte leise über beginnenden Zug, ich mußte den Laden schließen. Und jetzt begann mich die Dame in anderer Weise als bisher, doch ohne spöttische Absicht zu betrachten, zu der meine seltsame Aufregung ihr wohl den Grund hätte abgeben können. Sie ließ einfach ihre ruhigen Augen in den meinigen ruhen, ohne den Anschein einer Empfindung für den kränklichen jungen Mann, der ihr, als er sich niedersetzte, die Hände zitternd, einen flehentlichen Blick zugeworfen hatte.

Gleichwohl war ihr Antlitz zur Stunde verändert, oder ich betrachtete es vielmehr mit veränderten Blicken. Es schien mir, daß sich ihre Augen unermeßlich erweitert hatten, gleich einem weiten Wasser, das man von einem erhöhten Punkte aus erblickt. Ich sah ihre absonderliche tierische Häßlichkeit, die kurze, aufgeworfene Nase, die sie einem Hund ähneln ließ, nicht mehr. Sondern ich ward wie ein Schwimmer in einem ungeheuren See von den mächtigen sanften Wogen, den Kreisen des Blickes getragen, den sie ruhig auf mich richtete. Ein seltsames Zittern erweiterte seine Wellen, gleich einer lichten Tiefe, in die ein Stein gefallen ist, und ich hatte allen meinen Willen eingebüßt; ich überließ mich wie in magnetischem Schlaf dem Wiegen dieser dunklen seidenweichen Fluten. Jetzt schwankte auch ein schöner Frauenleib, die nackte Brust einer Sirene gleich einer Schlingpflanze in den dunklen Wassern; ihr Kleid war von ihr gefallen; ich sah sie in der leuchtenden Vertraulichkeit ihres Fleisches.

– Der Zug bremste und stand mit einem Ruck still; die Schaffner schrieen von Wagen zu Wagen einen Namen; und ich hatte vergessen, daß es eine Stadt gab, wo ein todkranker Mann meiner harrte. –

Ich mußte einen Widerstand überwinden, um mich zum Sinn der Wirklichkeit zurückzubringen, doch endlich holte ich mein Gepäck aus dem Netz hervor und eilte hastig auf den Bahnsteig. Sogleich streckte sich eine Hand neben der meinigen nach dem Riemen aus, der um meinen Mantel geschnallt war. Ich erkannte das eine unserer Dienstmädchen. Sie teilte mir mit verweinten Augen mit, daß mein Vater am Morgen von einem zweiten Anfall gerührt worden und daß der Priester mit der Ölung gekommen sei. Ich schrie: »Sagen Sie mir alles, mein Vater ist tot!« Sie ließ traurig den Kopf sinken, und ich ward leichenblaß, ohne Tränen zu finden.


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