Robert Kraft
Die Vestalinnen, Band 2
Robert Kraft

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40.

In der Höhle des Wahnsinnigen.

Schon am frühen Morgen brach die kleine Gesellschaft auf; der Hausherr ward gebunden auf den Boden des Wagens gelegt und der ganz besonderen Aufsicht von Hannes empfohlen, welcher mit Hope und den beiden anderen Damen die Rücksitze einnahmen, während Sharp die Zügel führte.

Des Detektiven Absicht war, nicht die Fahrstraße nach Scha-tou einzuschlagen, sondern diese auf einem Seitenwege zu verlassen und ein Städtchen aufzusuchen, in welchem sich eine Station der Eisenbahn zwischen Scha-tou und Schanghai befand. Den Wagen wollte er durch eine sichere Person zurückschicken, während die Eisenbahn die Gesellschaft, wie auch den Chinesen nach dieser Stadt bringen sollte, wo man letzteren wegen verübten Mädchenraubes den Behörden auszuliefern beschloß.

Munter trabten die flinken Ponys durch den taufrischen Morgen; kleine Wälder, Büsche und Felder flogen an den Fahrgästen nur so vorüber, und nach Sharps Meinung, der sich über den Weg auf einer genauen Karte orientierte, mußte man die Station schon gegen Mittag erreichen.

Der bisher sehr gut erhaltene Weg wurde mit einem Male schlechter, die Gegend war hügelig geworden, überall zur Seite der Straße lagen große Steine, welche aus dem Wege geräumt worden waren, schließlich aber kam man an eine Strecke, welche von großen und kleinen Steinen selbst dicht besät war. Die hier wohnenden, chinesischen Bauern hatten es nicht für der Mühe wert gehalten, die Hindernisse wegzuräumen.

Ein langsam fahrendes Fuhrwerk hielten diese Steine nicht auf, sie waren weit voneinander entfernt, als wären sie von einem ausbrechenden Vulkan hierhergeschleudert worden; man konnte bei einiger Vorsicht also vermeiden, daß die Räder über sie hinweggingen. Schwieriger war es für einen schnell dahinjagenden Wagen, die Räder nicht anstoßen zu lassen. Nick Sharp wußte die Zügel gut zu führen; ohne den Lauf der Pferde zu mäßigen, lenkte er geschickt zwischen den Steinen hindurch, die Zügel bald links, bald rechts anziehend und so die Tiere fortwährend im Zickzack laufen lassend.

Schon war diese steinige Straße bald passiert, als plötzlich eins der Pferde, durch einen scharfen Ruck des Zügels scheugemacht, sich emporbäumte, da aber das andere weiterlief, so stieß der Wagen an das erste, es wurde zu Boden gerissen und, an dem Ledergeschirr und der Deichsel hängend, einige Sekunden geschleift.

Im Nu war der Detektiv von seinem Sitze herab, hatte es wieder emporgerissen und überzeugte sich sofort, daß das Pony außer einigen leichten Schürfungen keinen Schaden davongetragen hatte, dagegen war durch den Fall die Deichsel mitten durchgebrochen.

Sharp suchte sie erst mit Stricken zusammenzubinden, aber es wollte ihm nicht recht gelingen – ein schnelles Fahren hätte er nicht mehr riskieren dürfen.

»Ich könnte auch ohne Deichsel fahren,« meinte er, »aber der Weg wird jetzt abschüssig, eine Bremse befindet sich nicht an dem Wagen, und so würde ich den Pferden zu viel zumuten, sollten sie den Abhang in Karriere zurücklegen, damit ihnen die Räder nicht zwischen die Beine kommen.«

Er blickte sich hilfesuchend um.

Nicht weit entfernt, hinter einem Reisfelde, begann ein Wald, welcher sich, dem Anscheine nach, sehr weit ausdehnen mußte. Hannes wurde beauftragt, nach diesem zu gehen und zwei Stämmchen abzuschneiden, mit deren Hilfe Sharp die Deichsel wieder brauchbar zu machen gedachte.

»Es ist fatal,« sagte er, »daß die Deichsel nicht noch eine Viertelstunde gehalten hat, denn in dieser Zeit hätten wir die Station sicher erreicht. Na, Hannes, mach' schnell, daß du bald wieder hier bist.«

Hannes folgte eiligst dieser Aufforderung. Er sprang über den Graben, der die Landstraße von dem Reisfelde schied, hatte aber noch keine zehn Schritte gemacht, als er sich jemanden nacheilen hörte.

Er hatte sich nicht getäuscht, als er in der Person, die ihn begleiten wollte, Hope vermutete.

»Nimm mich mit!« rief das junge Mädchen, das noch immer wie ein Seemann gekleidet war, »zwei haben die Stämmchen schneller abgeschnitten als nur einer.«

»Hat Mister Sharp erlaubt, daß du mitkommst?« fragte Hannes.

»Ich habe ihn nicht erst gefragt. Er zog zwar ein schiefes Gesicht, wie er meine Absicht merkte, und ich vom Wagen herunterkletterte, aber gesagt hat er nichts.«

Die beiden schritten über das Reisfeld, dessen Halme erst knöchelhoch standen, und hatten in zehn Minuten den Wald erreicht. Aber am Saume fanden sich keine jungen, schwachen Stämmchen, wie sie der Detektiv gewünscht hatte, und so drangen sie weiter vor.

»Merke dir die Richtung, Hope,« ermahnte Hannes seine Begleiterin, »damit wir uns wieder zurückfinden!«

Sie orientierten sich über den Stand der Sonne und gingen tiefer in den pfadlosen Wald hinein, hoffend, bald geeignete junge Bäume zu finden.

Nach einigem Suchen kamen sie auf eine Lichtung, auf welcher sich Bäumchen von der gewünschten Sorte vorfanden. Sie wählten zwei davon aus und begannen mit ihren Schiffsmessern, die Stämme dicht über dem Erdboden abzuschneiden.

»Sechsfacher Millionär und Holzfäller,« meinte Hannes bei seiner Arbeit, »wie reimt sich das zusammen?«

»Fahren wir Vestalinnen nicht auch als Matrosen?« lachte Hope. »Und ich dächte doch, wir hätten es alle nicht nötig.«

»Das ist etwas anderes, zum Dienst auf einem Segelschiffe gehören Mut und Ueberlegung, aber Holzfällen – mit einer solch geistlosen Beschäftigung wird sich wohl kein Mensch abgeben, der es nicht nötig hat.«

»Da irrst du dich,« entgegnete Hope und wetzte ihr Messer an einem Steine, »Gladstone, der mehrmals Premierminister von England war, beschäftigt sich täglich einige Stunden in seinem Park zu Hawarden nur zum Vergnügen mit Holzfällen.«

»Weil er sich hungrig machen will, das kennen wir schon. Ich aber habe solche Beschäftigung nicht nötig, mein Appetit ist immer ein vorzüglicher.«

»Du brauchst ja auch nicht dein Leben lang Bäume zu fällen, Not kennt kein Gebot.«

Unter diesem Gespräch waren endlich die Messer durch das feste Holz gedrungen; beide entlaubten die Bäume noch und machten sich auf den Rückweg.

Noch hatten sie den Waldessaum nicht erreicht, als Hannes plötzlich stehen blieb und lauschte.

»Hörst du nichts?« fragte er.

Jetzt konnte auch Hope ein Pferdestampfen vernehmen, und gleich darauf ertönte ein scharfer, gellender Pfiff, Hannes wußte, was das zu bedeuten hatte. Er war von Sharp ausgestoßen worden und ein Signal, schleunigst nach dem Wagen zu kommen.

Beide rannten, so schnell sie konnten, dem Ausgange zu, das Geräusch der Pferdehufe wurde immer deutlicher, und noch hatten sie die Waldesgrenze nicht erreicht, als einige Schüsse fielen.

Sie kannten den Knall, die Schüsse waren aus den Revolvern ihrer Gefährten abgegeben worden, sie stürzten mehr, als sie liefen, dem Reisfelde zu, und als sie endlich einen freien Ueberblick bekamen, sahen sie die Pferde ihres Wagens schon in rasendem Laufe die Straße hinabfliegen, von der Peitsche des Detektiven immer und immer wieder angetrieben, während sich die zwei Damen mit der einen Hand an der Lehne festhielten und mit den Revolvern in der anderen die Reiter bedrohten, welche ihnen nachsetzten.

Wohl dreißig Chinesen waren es, welche ihre Rosse anspornten, um den Wagen einzuholen. Zwei Pferde lagen schon, von den Kugeln der Mädchen niedergestreckt auf dem Boden, ein Chinese daneben, und ein anderer hinkte eben aus dem Graben, dann blitzte es noch einmal aus den Revolverläufen, und wieder wälzten sich zwei Pferde mit ihren Reitern im Staube der Landstraße.

Die Verfolger zügelten jetzt die Tiere, sie schienen entweder keine Schußwaffen zu besitzen, um die Flüchtigen, deren Wagen von zwei Pferden gezogen, ihnen an Schnelligkeit nichts nachgab, Kugeln nachsenden zu können, oder sie wollten sich ihrer lebendig bemächtigen, oder, was das Wahrscheinlichste war, sie wollten sich nicht der Gefahr aussetzen, gleich den anderen sich das Pferd unter dem Leibe wegschießen zu lassen und dabei das Genick zu brechen.

Noch immer standen Hope und Hannes am Waldrand und blickten sprachlos auf die Szene, welche sich in wenigen Sekunden abgespielt hatte.

Und was war da geschehen?

»Sie sind von Straßenräubern überfallen worden,« sagte Hope endlich.

»Das glaube ich nicht,« entgegnete Hannes. »Meiner Meinung nach haben die Chinesen den Versuch gemacht, Schao-tschin aus den Händen Sharps zu befreien. Er selbst sagte mir diese Nacht, er fürchte etwas Aehnliches, denn er hätte gesehen, wie mehrere Chinesen das Haus heimlich verließen, wahrscheinlich um Nachbarn zur Hilfeleistung aufzufordern.

»Aber wir?« fragte Hope etwas erregt. »Was sollen wir nun hier allein beginnen?«

»Sharp laßt uns nicht im Stich,« tröstete der Matrose. »Ich schlage vor, vorläufig hier im Walde zu bleiben. Komm schnell, Hope, damit uns die beiden Chinesen dort, die sich ihr Schienbein reiben, nicht erst erblicken.«

Sie gingen wenigstens so weit in den Wald, daß sie nicht zu befürchten brauchten, von Menschen auf der Landstraße gesehen zu werden, während sie selbst alles beobachten konnten.

»Siehst du,« fuhr er dann fort, »die chinesischen Reiter geben die Verfolgung schon auf, Sharp ist ihnen entschlüpft, wie es gar nicht anders möglich sein konnte. Jetzt gehen wir in diesem Walde, der sich längs der Landstraße hinzieht, fort, halten uns aber versteckt, und ich will nicht Hannes Vogel heißen, wenn Sharp nicht, sobald er sich seinen Plan zurechtgelegt hat, uns wieder aufsucht.«

Hope hatte sich bald über ihre Verlassenheit getröstet, sie hatte nach und nach ein ebensolches Vertrauen zu dem Detektiven gefaßt, wie Hannes schon besaß, und so begannen beide, den Weg nach Süden aufzunehmen, zwischen sich und der Landstraße immer Büsche und Baume behaltend, damit sie nicht von den Reitern gesehen würden, welche sich jetzt mit den gestürzten Pferden beschäftigten.

Der Wagen mit den Geretteten war nicht mehr zu sehen, ein Hügel hatte ihn ihren Augen entzogen.

Da schrak Hannes plötzlich zusammen, und auch Hope hatte sofort den Schrecken ihres Begleiters verstanden.

Einer der abgeworfenen Chinesen, der bis jetzt wahrscheinlich bewußtlos dagelegen hatte, war von den anderen aufgehoben worden, er mußte wieder zu sich gekommen sein, er sprach lange zu den Reitern, deutete nach dem Walde, ebendahin, wo die beiden vorhin gestanden hatten, und mit einem Male drehten sich die Kopfe aller dieser Richtung zu.

Es war kein Zweifel, dieser Mann hatte vorhin Hope und Hannes am Waldrand stehen sehen und machte jetzt seinen Genossen davon Mitteilung.

»Tiefer in den Wald!« flüsterte Hannes, als fürchte er, gehört zu werden, obgleich die Entfernung eine ziemlich große war. »Wir sind gesehen worden, und sie ahnen natürlich, daß wir zu dem Wagen gehören.«

Er zog das Mädchen mit sich, immer tiefer in das Unterholz vordringend, und als er sich umblickte, konnte er zwischen den Bäumen eben noch sehen, wie die Chinesen wirklich über das Reisfeld ritten.

Es war kein Zweifel, man wollte sie verfolgen und sich ihrer bemächtigen, um Rache für die Entführung Schao-tschins zu nehmen. Hope begriff noch gar nicht, welche furchtbare Gefahr sie bedrohte, Hannes aber stieg das Blut heiß in den Kopf, er griff nach dem Revolver in der Tasche und überzeugte sich, daß er noch so viele Patronen bei sich trug, um ihn zweimal laden zu können. Ebenso war auch Hope ausgerüstet.

»Wir werden wirklich verfolgt?« fragte Hope ängstlich, sich umblickend.

»Es ist so,« bestätigte der Matrose, »aber wir haben Aussicht, ihnen zu entgehen. Dieser Wald ist groß und so dicht, daß sie mit den Pferden nicht durchdringen können, sie haben also keinen Vorteil uns gegenüber, und wir beginnen einfach ein Versteckspielen. Nur Mut, Hope, dein Name bedeutet ja Hoffnung, und hat er sich bis jetzt immer bewahrheitet, so wollen wir auch diesmal an einem glücklichen Ausgang nicht zweifeln.«

Stimmen unterbrachen seine Rede, sie klangen ganz dicht in der Nähe. Die Chinesen mußten sich verteilt haben und diese Gegend des Waldes absuchen, Rufe erschollen aus allen Richtungen, Pfiffe und andere Signale, es war also kein Zweifel mehr, daß sie eine regelrechte Verfolgung beabsichtigten.

»Hier hinein,« flüsterte Hannes und schob das Mädchen in einen dichten Busch. »Ich glaube, wir sind bereits umzingelt. Es ist zu traurig, daß keins von uns auch nur eine Ahnung hat, was sie sich immer zurufen, sonst könnten wir uns danach richten.«

Beide krochen so tief wie möglich in das Buschwerk, kauerten dicht nebeneinander nieder und erwarteten das Weitere.

Als Hope sah, daß Hannes seinen Revolver hervorgezogen hatte, tat sie das Gleiche, das junge Mädchen atmete schwer, die Stimmen erklangen immer näher und zwar von mehreren Seiten, bald mußte es sich entscheiden, ob sie hier entdeckt würden oder nicht.

»Wir schießen nur im höchsten Notfall,« zischelte Hannes.

Da trat der erste Chinese aus dem Unterholz heraus, und gleich darauf an der entgegengesetzten Seite einige andere. Sie riefen sich etwas zu, deuteten nach rechts und schlugen dann diese Richtung ein.

»Gott sei Dank,« sagte Hannes, »daß sie nicht daran gedacht haben, dieses Gebüsch zu untersuchen.«

»Wollen wir hier versteckt bleiben?« fragte Hope.

»Nein,« entgegnete der Matrose nach kurzem Ueberlegen, »ich vermute, daß, wenn sie uns hier nicht finden, sie diese Gegend nachher noch einmal genauer untersuchen werden. Diese Männer waren jedenfalls die ersten der Schar, die anderen kommen sicher noch nach. Das beste ist, wir gehen diesen dreien nach, ganz vorsichtig, womöglich sie im Auge behaltend, und drehen sie dann um, um sich zu ihren Gefährten zurückzubegeben, so verstecken wir uns und lassen sie an uns vorübergehen. Dann ist der Weg frei.«

Hope war mit diesem Plane einverstanden, wenn sie auch anfangs etwas über die Kühnheit desselben erschrak, den drei Verfolgern direkt nachzugehen. Aber sie sah ein, daß es so besser war, als den anderen gerade in die Hände zu laufen.

Sie lauschten erst eine Weile, ob nichts zu hören war, und krochen dann vorsichtig, immer horchend und um sich spähend, aus dem Gebüsch und schlugen den Weg ein, den vorhin die drei Verfolger genommen hatten.

Es dauerte nicht lange, so erblickten sie diese drei Männer, wie sie, schwatzend und lachend, vorwärtsdrangen, einzelne Gebüsche, welche sie nicht durchblicken konnten, untersuchten, sich aber im übrigen nicht sehr viele Mühe mit dem Finden der gesuchten beiden Personen zu geben schienen.

Hannes schloß ganz richtig, warum diese Chinesen so nachlässig waren.

»Es werden bezahlte Diener sein,« meinte er, »die den Schao-tschin zu befreien suchen. Nur einer von ihnen wird wahrscheinlich ein Interesse daran haben, etwa ein Freund dieses Mannes, und der hat jedenfalls den Leuten aufgetragen, unserer habhaft zu werden, damit er für die Sicherheit Schao-tschins Geißeln besitzt. Aber den Dienern ist alles gleichgültig, sind sie ihren: Herrn aus dem Auge, so fällt es ihnen gar nicht ein, ernstlich an eine Verfolgung zu denken.

Ab und zu verschwanden die Chinesen hinter Bäumen oder Sträuchern, kamen aber bald wieder zum Vorschein, und die beiden jungen Leute, wie Indianer von Busch zu Busch hüpfend, hinter jedem Baumstamm Deckung suchend, waren ängstlich bemüht, nicht gesehen zu werden.

Da blieben die Chinesen plötzlich stehen, besprachen sich, lachten, wiesen mit den Daumen über die Schulter zurück und drehten um.

Sofort als die Chinesen ihre Schritte gehemmt hatten, waren Hannes, wie Hope hinter einen Busch gesunken und krochen in denselben hinein. Es war anzunehmen, daß dieser, der schon vorher untersucht worden war, nicht wieder revidiert werden würde. Unglücklicherweise aber, noch im letzten Moment, fiel es Hope ein, fürchtend, der kleine Busch könne beide nicht verbergen und einen größeren bemerkend, noch etwas seitwärts zu kriechen und in dem anderen Zuflucht zu nehmen.

Wohl war ihr dieses Manöver gelungen, ohne gesehen zu werden, aber in diesem Moment streifte gerade das Auge eines Chinesen den betreffenden Busch. Er mußte die Zweige desselben noch sich bewegen gesehen haben, er stutzte und machte seine Gefährten darauf aufmerksam.

Alle begaben sich dorthin, noch aber hatten sie ihn nicht erreicht, als schon aus dem Busche, wo Hannes lag, ein Schuß krachte, der eine Antwort aus dem anderen fand, dann noch ein dritter, und alle drei Chinesen lagen röchelnd im Gras.

»Schnell fort,« schrie Hannes, »der Weg ist frei.«

Er faßte Hope bei der Hand und rannte, so schnell es ihm seine Beine erlaubten, in der ersten Richtung weiter. Ein Glück war es, daß Hope keine Mädchenkleider trug, sonst hätte sie mit dem leichtfüßigen Hannes wohl nicht gleichen Schritt halten können, so aber gelang es ihm, das Mädchen an der Hand mit gleicher Schnelligkeit fortzureißen.

Die Richtung, welche sie verfolgten, war eine günstige, sie führte nicht so sehr weit von der Landstraße ab und zugleich dahin, wohin sie zuerst gewollt hatten.

Hinter ihnen wurde es lebendig, Ueberall erscholl schreiendes Rufen, Pfiffe gellten, und einige der Verfolger waren ihnen so nahe, daß man das Knacken des Buschwerkes hören konnte, durch welches sie brachen. Ob sie schneller liefen, als die Verfolger, konnten sie jetzt noch nicht beurteilen, sie sahen noch niemanden. Nur immer vorwärts, vorwärts – das war ihr einziger Gedanke, darin lag ihre Rettung, denn mit den Revolvern hätten sie wohl die ersten sich vom Leibe halten können, wären aber der Ueberzahl doch bald erlegen.

Atemlos, mit keuchender Brust und glühenden Wangen, Hand in Hand, so rannten sie vorwärts, brachen durch die Büsche, rissen sich mit Gewalt von Schlingpflanzen los, die sie umgarnen wollten, sprangen über umgestürzte Baumstämme, und wollte einer von ihnen straucheln, so hinderte ihn der andere mit festem Griff daran.

Aber es schien doch nicht, als sollte ihnen auf diese Weise, nur mit Hilfe ihrer Schnelligkeit, die Flucht gelingen, denn immer deutlicher schallten die Rufe ihrer Verfolger, immer näher kam das Knacken und Brechen der Büsche, und jetzt hörten sie auch auf der Landstraße das Galoppieren von Pferden.

Einige Chinesen waren aufgesessen, sie wollten ihnen einen Vorsprung abgewinnen und dann entgegenkommen.

»Rechts hinein,« keuchte Hannes und lenkte von der Landstraße ab.

Er zog den Revolver, ebenso Hope. Lange konnten sie diesen Lauf doch nicht mehr aufhalten, er nützte ihnen auch nichts, denn diese Chinesen, hier geboren, waren mehr gewöhnt, als sie, in den Wäldern ihres Landes vorzudringen. Sie hatten nicht nötig, einmal umzukehren, wenn der Weg von Schlingpflanzen unterbrochen ward, sie wußten schon vorher, ob dieses Gewirr durchdringbar war oder nicht, und vermieden in letzterem Falle einen solchen Weg.

»Ich kann nicht mehr,« flüsterte Hope, preßte beide Hände gegen die wogende Brust und blieb stehen, »wir wollen uns lieber fangen lassen.«

Hannes drehte sich um, eben sah er einen der Chinesen zwischen den Bäumen auftauchen. Kurz entschlossen hob er den Revolver, zielte und schoß – der Mann fiel.

»Wir haben nicht so viele hinter uns, wie wir glaubten,« stieß er kurz hervor. »Nur einige Minuten, Hope, halte aus, wir wollen doch noch versuchen, ihnen durch Laufen zu entkommen!« Schon wurden wieder andere Stimmen und neues Knacken laut. Hannes entsicherte wieder seinen Revolver, blieb stehen und schaute zurück, um einen etwa sichtbaren Verfolger niederzuschießen, als plötzlich Hope einen lauten Schrei ausstieß und mit der Hand zur Seite deutete.

Auch Hannes ließ den schon erhobenen Revolver sinken und starrte die Erscheinung an, die vor seinen Augen auftauchte.

Mit fliegendem Haar kam ein in Lumpen gehülltes Weib auf sie zugestürzt, auf den ersten Blick sahen beide, daß sie keine Chinesin, sondern eine Engländerin war, und ehe sie sich versahen, hatte dieses Weib sie erreicht und Hope mit den Armen umschlungen.

»Endlich, endlich,« flüsterte sie angstvoll, »wie lange habe ich schon auf euch gewartet! Kommt schnell, ehe uns die bösen Chinesen erreicht haben, sie zücken schon ihr Schwert. Reynold, mein Kind,« schrie sie plötzlich auf, »schnell, schnell hinein, oder ihr seid verloren!«

Sie faßte Hope krampfhaft bei der Hand und riß sie mit sich fort, etwas nach der Seite hin, und Hannes, welcher nicht wußte, was er denken sollte, aber doch froh war, wenigstens eine Europäerin, wahrscheinlich eine Engländerin, getroffen zu haben, folgte mechanisch.

Keiner von den Chinesen konnte diese Begegnung bemerkt haben, gerade hier stand sehr dichtes und hohes Gebüsch.

Das Weib eilte flüchtigen Laufes davon, die bestürzte Hope immer festhaltend, bis sie einen sehr dicken Baumstamm erreichte. Um diesen ging sie herum, und jetzt bemerkten die beiden jungen Leute, daß dieser Stamm, den sechs Männer wohl schwerlich umspannen konnten, hohl sein mußte, denn an der Erde befand sich eine große Oeffnung, die ins Innere führte.

Die Frau kniete nieder, schlüpfte durchs Loch und war sofort verschwunden, nur ihre Hand streckte sie heraus, mit der sie Hope festhielt und nach sich zog.

Ohne Besinnen kroch auch Hannes nach und fand zu seinem Erstaunen, daß sich das Loch, in dem er sich jetzt befand, weniger in dem Baumstamm selbst befand, als vielmehr unter demselben, und sich noch wohl drei Meter unter der Erde hinzog. Es war etwa einen Meter hoch und vier Meter breit und lang, so daß sich drei Personen bequem darin aufhalten konnten.

Beleuchtet wurde diese Erdhöhle einzig von dem Tageslicht, welches durch die Oeffnung im Baum hereinfiel, sie war völlig leer, nicht einmal ein Lager oder ein Gefäß verrieten, daß diese Höhle einem menschlichen Wesen als Wohnort diente.

Das Weib, welches englisch sprach, hatte sich in einen Winkel niedergekauert und hielt Hope innig umschlungen.

»Endlich, Reynold,« flüsterte sie mit zärtlicher Stimme, »ich wußte es ja, daß wir uns vor den Chinesen retten könnten. Was kümmert mich alles, was wir verloren haben, wenn ich nur dich gerettet habe! Nicht wahr, Lionel?« wandte sie sich an Hannes, der erstaunt diesen Worten gelauscht hatte.

Jetzt wurde es oben laut, man hörte Stimmen und Schritte, aber die Rufer eilten weiter, keiner sah das Loch im Baum, oder wer es sah, dachte nicht daran, es zu untersuchen. Schnell entfernten sich alle wieder, bald herrschte vollkommene Stille.

Hope begann sich zu ängstigen, das Weib, mager, schmutzig und zerlumpt gekleidet, überschüttete sie mit Liebkosungen, küßte bald ihr Antlitz und streichelte dann wieder ihre Hände.

»So sprich doch,« begann das Weib wieder, »fürchtest du dich auch nicht, Reynold? Wir sind ja im Kloster, ganz sicher aufgehoben. Ach, Lionel,« wandte sie sich wieder zu Hannes, »es war doch zu schrecklich in den letzten Tagen.«

Hannes rutschte auf den Knieen zu ihr – das Aufstehen erlaubte diese Erdhöhle nicht.

Eben wollte er den Mund auftun, um zu fragen, wer sie eigentlich sei, als ihm Hope unmerklich zunickte und ein Zeichen machte, was er sofort verstand. Sie hatte recht, man hatte es hier mit einer Wahnsinnigen zu tun.

Aber wer war sie? Wie kam diese Engländerin, wenn sie eine solche war, in diesen Wald, und noch dazu in diesem Zustande? Ihrem Aussehen nach mußte sie schon jahrelang jedes Kleiderwechsels entbehrt haben, nur Fetzen hingen an ihrem Körper, und Gesicht und Hände sahen aus, als wären sie schon seit Wochen nicht mehr mit Wasser in Berührung gekommen.

Lebte sie hier in dieser Höhle? Woher kam sie? Was schwatzte sie da für dummes Zeug?

Diese Fragen beschäftigten die Gedanken unserer beiden Freunde, als das Lärmen der Verfolger verstummt war, als sie sich in Sicherheit zu fühlen begannen. Da plötzlich umarmte das Weib den völlig verdutzten Hannes, der zu ihr gekrochen war oder vielmehr zu Hope, um diese im Fall der Not vor dem Weibe zu schützen, und sagte:

»Mein Lionel, wir sind geborgen! Folge nun meinem Rate, verlaß mit uns China, wo wir nichts als Sorge und Elend auszustehen gehabt haben. Was nützt uns der Reichtum, wenn wir nicht in Ruhe leben können! Weißt du noch, wie oft du mir in England, ach, in meinem schönen England, dein Lieblingslied vorgesungen hast? Willst du es noch einmal hören?«

Und leise begann sie zu singen:

»Ich wäre froh, ich wär' behend,
Ich wollt' mich mühen spät und früh',
Wär' mir zu schaffen nur vergönnt,
Für dich, Marie, für dich, Marie!«

»Du hast ja nun auch für mich, für deine Marie, gearbeitet,« fuhr sie fort, und ihre in wahnwitzigem Fieber glühenden Augen waren voll des zärtlichsten Ausdrucks auf Hannes gerichtet, »wirklich spät und früh, bis du dich aus deiner früheren Armut gerungen hast! Aber nun höre auf, laß uns zusammen nach England zurückkehren! Was wollen wir mehr? Wir sind glücklich, wir haben das Geld gerettet, und siehe unser Kindchen, unsern Reynold, wie er vor Gesundheit strahlt. Mein Lionel, singe mir noch einmal das Lied vor, mit dem du mich früher so oft entzückt hast! Weißt du noch, als ich, das reiche Mädchen, aus dem Hause meiner Eltern floh, um dir, dem armen Manne, für immer anzugehören? Kennst du es wirklich nicht mehr?« fragte sie traurig, als Hannes wie geistesabwesend mit dem Kopfe schüttelte.

»Das Lied war schöner als alle die anderen,« fuhr sie fort, »du bezaubertest damals mein Herz damit. Kannst du es wirklich nicht mehr? Es war so schön, du sagtest mir mehr darin, als alle deine Worte vermocht hätten. Höre, so ging es.«

Wieder umschlang sie fester den Hals des Matrosen und sang leise in dessen Ohr:

»O, ständest du in Sturm und Kält',
Auf off'nem Feld, auf off'nem Feld.
Ich schlüge mein Gewand um dich,
Und wärmte dich und wärmte dich!«

Also war diese arme Wahnsinnige wirklich eine Engländerin, beide Lieder, die sie eben gesungen hatte, waren beliebte, schottische Volkslieder.

Jetzt wandte die Frau ihre Aufmerksamkeit wieder dem Mädchen zu, welches sie für einen Knaben, wahrscheinlich für ihren Sohn hielt, aber in ihrem von Wahnsinn verdunkelten Geiste glaubte sie in ihm noch ein kleines Kind zu sehen.

»Reynold, mein herziges Baby,« flüsterte sie, »sei nicht furchtsam! Bist du auch nicht in Marienlust, in diesem Kloster brauchst du nichts zu fürchten.«

»Marienlust?« rief Hannes erstaunt, zum ersten Mal sein Schweigen brechend, »War das nicht der Name der Villa, die wir eben verließen?«

Hope nickte mit dem Kopfe, sie getraute sich nicht, sich aus der Umarmung dieser Frau zu befreien, einer solchen Situation gegenüber fühlte sie ihren Mut nicht gewachsen.

»Ist hier auch nicht alles so glänzend eingerichtet wie in Marienlust,« fuhr das irrsinnige Weib fort, »so ist doch die Mutter bei dir, und Mutterliebe soll dir alles ersetzen. Warte nur noch einige Stunden, dann gehen wir auf ein schönes Dampfschiff, das bringt uns schnell nach England. Und dort ist es schön, ach, so schön, dort kann man ruhig schlafen; keine heulenden Chinesen stören dich, mein Liebling, sie werfen keine Brandfackeln, klirren nicht mit den Schwertern. Aber in meinem Arme kannst du schon hier ruhig schlafen. Schlaf nur, mein Baby, ich wache für dich. Niemand darf dir etwas tun, ich und dein Vater wollen dich hüten!«

Sie begann ein altes Wiegenlied zu singen und wiegte Hope, sie mit den Armen an ihre Brust drückend, hin und her. »Pst,« flüsterte sie dann zu Hannes hinüber, »er schläft. Ach, mein Lionel, was bin ich froh, daß wir gerettet sind. Nicht meinetwegen, aber wegen Reynold! Ich habe so schreckliche Träume gehabt in letzter Zeit. Mir war es immer, als würde ich von den Chinesen ermordet, ich sah förmlich, wie sie Reynold aus meinen Armen rissen und ihm das blonde Lockenköpfchen mit dem schrecklichen Schwert abschlugen, und wachte ich dann auf, so peinigten mich die furchtbarsten Kopfschmerzen, in meinem Gehirn stach es, als würde mit glühenden Nadeln darin herumgewühlt. Gott sei Dank, daß alles nur ein Traum gewesen ist. Nicht wahr, Lionel, es war nur ein Traum, daß dem Reynold der Kopf abgeschlagen worden ist? Nicht wahr, Lionel? So sprich doch nur, mein Schatz, es war nur ein häßlicher Traum?«

Des Weibes Worte wurden immer heftiger, ihre Augen glühten, sie ließ Hope los und umschlang dafür Hannes, und immer aufgeregter klang ihre unaufhörliche Frage:

»Nicht wahr, Lionel, es war nur ein Traum?«

»Ja, es war nur ein Traum, gewiß, wie sollte es anders sein,« entgegnete endlich Hannes. Ihm wurde es in der Nähe dieses wahnsinnigen Weibes unheimlich, er hätte lieber den Kampf mit den verfolgenden Chinesen da draußen aufgenommen, als hier Zeuge eines Unglücks zu werden, welches das grausame Schicksal einem Menschen zugefügt hatte. Jedes Wort dieses Weibes schnitt ihm ins Herz.

Aber was sollte er denn nun beginnen? Er und Hope konnten zwar jetzt gehen, der Weg war jedenfalls frei, doch diese Wahnsinnige? Sollte er sie hier hilflos zurücklassen? Nein, das durfte, das konnte er gar nicht tun.

»Lionel, hast du auch noch das Geld bei dir?« fragte jetzt das Weib wieder. »Tue es in die Schatulle, es ist doch sicherer, wenn du es immer in der Hand –«

»Mein Gott!« schrie plötzlich Hope auf und machte sich gewaltsam von der Brust des Weibes frei, »Hannes, mir geht eine furchtbare Ahnung auf, Lionel, das Kloster, die Flucht vor den Chinesen, das getötete Kind und endlich die Schatulle mit dem Geld, das Weib ist niemand anders, als Lionel Congraves Gattin, dessen Geld und Testament wir gefunden haben.«

Mit offenem Munde hatte Hannes diesen Worten gelauscht, er hätte sich fast den Kopf eingerannt, mit solcher Heftigkeit war er in dem niedrigen Loch aufgesprungen.

»Bei Gott, Hope!« rief er. »Du hast recht, Mistreß Congrave,« fuhr er zu der Frau gewendet fort. »Heißen Sie Mistreß Congrave?«

Das Weib blickte ihn erstaunt an.

»Aber, Lionel,« sagte sie langsam. »Was fehlt dir denn? Bist du krank? Du weißt doch recht gut, daß ich deine Frau bin. Treibe doch nicht solchen Scherz mit mir!«

»Sind Sie Mistreß Congrave?« beharrte Hannes auf seiner Frage, der mit Irrsinnigen umzugehen noch niemals Gelegenheit gehabt hatte, ebensowenig wie Hope.

Die Antwort blieb aus.

Plötzlich hörten die in der Erdhöhle Hockenden Schüsse fallen, der Knall kam immer näher, flüchtige Rosseshufe stampften den Erdboden, und dann jubelte Hannes mit einem Male auf:

»Sharp,« rief er, »ich habe seine Stimme erkannt. »Hurrah, er treibt die Halunken zu Paaren. Komm, Hope, da müssen wir dabei sein!«

Er wollte sich dem nach außen führenden Loche zuwenden, aber mit einem Sprunge war das Weib davor.

»Lionel,« schrie sie auf und umschlang krampfhaft seinen Hals mit den Armen, »bleibe hier, gehe nicht hinaus, man will dich morden, wie man mein Kind gemordet hat! Bleibe bei mir!«

»Laß mich los!« keuchte Hannes und wollte sich mit Gewalt freimachen,

»Er kommt,« rief da Hope und drängte sich oder kroch vielmehr an ihnen vorbei, dem Eingange zu, »ich höre, Mister Sharp, wie er seinen Leuten befiehlt, uns zu suchen.«

Es gelang ihr an dem Weibe vorbeizukommen, das noch immer mit Hannes rang. Als sie den Kopf zu dem Loche heraussteckte, sah sie zu ihrer unaussprechlichen Freude Sharp wirklich vor sich stehen; ganz in der Nähe wie er eben einem Chinesen auf englisch das Aussehen der beiden Vermißten beschrieb. Noch mehrere Chinesen standen um ihn herum, wahrscheinlich gehörten sie zu der Polizei.

»Und wenn ihr noch einige von den Schurken im Busch herumkrauchen seht,« fügte der Detektiv hinzu, »so schont sie nicht, schickt ihnen nur ruhig eine blaue Bohne in den Bauch, die Kerls haben es nicht besser verdient. Ich verantworte alles.«

»Mister Sharp,« erklang da dicht neben ihm eine helle Mädchenstimme.

»Halloh!« rief Sharp und blickte erstaunt auf den Kopf, der lächelnd aus dem Baumloch an der Erde heraussah.

»Es ist gut,« rief er dann den Leuten zu, »sie sind schon gefunden! Wie zum Teufel kommt ihr denn in diesen Fuchsbau? Ihr habt wohl eine Sommerwohnung hier aufgeschlagen?«

Eiligst kletterte Hope aus der Höhle heraus und teilte in kurzen Worten dem Detektiven alles mit, was sich ereignet hatte, ihre Flucht, die seltsame Rettung durch das wahnsinnige Weib, und schließlich auch, daß aller Wahrscheinlichkeit nach eben diese Frau die Gattin des verbrannten Mister Congrave sei, die sie von den Chinesen ermordet gewähnt hatten.

Des Detektiven Gesicht veränderte sich bei allen diesen Mitteilungen nicht im geringsten.

»Ich werde mich selbst davon überzeugen,« sagte er und stieg in die Höhle hinein. Hope folgte ihm.

Hannes hatte das Gespräch zwischen Hope und Sharp gehört und erwartend, daß letzterer ihn aufsuchen würde, das Ringen mit dem Weibe aufgegeben und sich wieder in die Ecke zurückgezogen.

Sofort setzte sie sich neben ihn und überhäufte ihn mit Liebkosungen, Hope dabei gar nicht vermissend, sie achtete auch nicht mehr auf diese, als sie mit dem Detektiven eintrat. Ihre Aufmerksamkeit war jetzt nur noch Hannes zugeteilt.

»Mein Lionel,« sagte sie eben, »und ist auch Reynold mir genommen, wenn ich nur dich habe, du ersetzest mir alles, du bist meine Sonne, mein Leben, mein Glück.

»Ja, wehte auch des Unglücks Wind
Um dich mein Kind, um dich mein Kind,
Nu fänd'st bei mir am Herzen Schutz,
Dem Tod zum Trutz,
dem Tod zum Trutz.«

sang sie leise.

»Nicht wahr, es ist kein Traum? Das hast du mir vorgesungen? Drüben im schönen England?«

Sie brach kurz ab und fuhr wütend nach dem Baumloch, an dem sich eben das Gesicht eines neugierigen Chinesen sehen ließ.

»Mörder!« schrie sie mit heiserer Stimme und streckte die Arme nach dem erschrocken Zurückfahrenden aus, »wo ist mein Kind, wo ist mein Mann, wo ist Mister Congrave? Du, du hast sie ermordet, du mußt sie mir wiedergeben.«

Sie machte den Versuch hinauszukriechen, aber ihre Kraft verließ sie plötzlich, sie stürzte zu Boden.

»Hannes,« sagte Sharp ernst, »dieses Weib, welches hier liegt, ist Mistreß Congrave, die Gattin desjenigen, der dich zum Erben seines Vermögens eingesetzt hat.«

Hannes, wie Hope, blieben stumm.

»Das Weib ist wahnsinnig,« fuhr der Detektiv fort, »der Tod ihres Kindes und vielleicht auch ihr eigenes Schicksal haben ihre Sinne umnachtet, und so brauchst du also, Hannes, dich nicht darum zu sorgen, daß sie dir dein Erbe streitig machen könnte. Und überdies bist du im Besitze des Testamentes; wir, Miß Staunton und ich, sind Zeugen seiner Echtheit, und, was die Hauptsache ist, du bist im Besitze des Geldes. Wir können ganz offen sprechen, diese Frau versteht doch nichts davon. Ueberlaß sie ihrem Schicksal, oder übergib sie einer Irrenanstalt oder sonst in Pflege, da ist sie am besten aufgehoben, und du hast weiter keine Scherereien mit ihr.«

Sharp hatte in gleichgültigem Tone gesprochen, aber der Eindruck, den diese Worte auf Hannes hervorbrachten, war ein wunderbarer.

Langsam, Zoll für Zoll, war er näher zu Sharp gekrochen, seine Miene wurde immer finsterer, nein, immer trauriger, und als der Detektiv geendet hatte, da lag Hannes vor ihm auf den Knieen und schaute ihm mit einem unbeschreiblichen Ausdruck ins Gesicht.

»Was fehlt dir, Hannes?« fragte der Detektiv. »Bist du nicht einverstanden mit dem, was ich dir sagte? Mein Gott, rücksichtsvoll darf man heute nicht mehr sein, sonst kommt man nicht vorwärts. Und überdies, diesem Weibe ist es ganz egal, ob sie das Geld hat oder nicht. Wenn sie eine Person hätscheln kann, die sie für ihren Mann oder ihr Kind hält, so ist sie am glücklichsten, und dafür muß gesorgt werden.«

Er sah dem vor ihm Knieenden in die Augen.

»Nick Sharp,« brachte endlich Hannes tonlos hervor, seine Stimme zitterte, »ich habe mich schon oft in Ihnen getäuscht, wenn ich aber wüßte, daß das, was Sie eben gesagt haben, Ihre aufrichtige Meinung ist, daß Sie mich für einen solchen Menschen halten, der –«

Hannes konnte nicht weiter, die Worte wollten nicht heraus, die Kehle war ihm wie zugeschnürt.

»Was denn, mein Junge?«

»Dann wäre es mit unserer Freundschaft aus,« platzte Hannes jetzt heraus, und heftig fuhr er fort: »Glauben Sie etwa, ich bin so ein Lump, der mit kaltem Herzen ansehen kann, wie jemand um sein Geld geprellt wird? Und denken sie wohl gar, ich selbst würde nur einen Pfennig anrühren, von dem ich weiß, daß er jemandem anders gehört? Nein Sharp, da haben Sie sich gewaltig in mir getäuscht, zum Schurken können mich die paar Papierschnitzel, die Sie jetzt bei sich tragen, nicht machen. Geben Sie mir sie her, ich werde sie für die Frau in Verwahrung nehmen, sie lebt von jetzt ab unter meinem Schutze.«

»Und unter meinem,« fügte Hope hinzu, die sich neben Hannes begeben und bei dessen Worten immer beistimmend und bestätigend mit dem Kopfe genickt hatte.

»Ihr seid Kindsköpfe,« sagte der Detektiv lächelnd, »ich dächte doch Hannes, du solltest mich genug kennen.«

Er sprach nichts weiter, aber Hannes, wie auch Hope, hatten ihn verstanden. Er hatte den Matrosen nur auf seine Ehrlichkeit prüfen wollen.

»Wo sind Miß Sargent und Miß Nikkerson?« fragte Hope, die sich um das Schicksal ihrer Freundinnen bekümmerte.

»Beide gesund und wohlbehalten, sie warten bereits auf der Station auf uns, desgleichen Mister Schao-tschin, wenn auch letzterer nicht gerade sehnsüchtig.«

»So sind Sie den Chinesen glücklich entkommen?«

»Natürlich, es waren ja alles nur berittene Diener und Bauern, die niemals eine andere Waffe, als die Mistgabel in der Hand gehabt haben und auch gar nicht reiten konnten. Doch davon erzähle ich euch nachher, jetzt gilt es, diese Frau von hier fortzubringen!«

»Ja, aber auf welche Weise?«

»Einen Wagen habe ich nicht mitgenommen, aber Pferde, und auf ein solches muß Mistreß Congrave gebunden werden.«

Diese hatte sich während dieser Unterredung in eine Ecke niedergekauert, ohne das Gespräch weiter zu beachten, aber kein Auge von Hannes, ihrem vermeintlichen Manne, gewendet. Als dieser sie jetzt wieder ansah, flog sie sofort auf ihn zu und begann ihn wieder zu liebkosen.

»Hannes,« sagte Sharp, »da fällt mir etwas ein. Gib mir einmal das Medaillon her, ich bin doch neugierig, was sie sagt, wenn sie das Bildnis ihres Mannes und das ihrige zu sehen bekommt. Aus ihrem Benehmen können wir uns vielleicht auch völlig überzeugen, ob sie Mistreß Congrave ist oder nicht.«

Nur mit Mühe vermochte Hannes das Bild aus seiner Brusttasche zu ziehen, so fest umklammerte ihn die Frau. Der Detektiv öffnete die Kapsel, verglich erst prüfend die Photographie, eine junge, schöne Dame vorstellend, mit den Gesichtszügen dieser Person und nickte befriedigt mit dem Kopfe.

Waren die Gesichter sich jetzt auch nicht mehr so ähnlich, hatten auch der Wahnsinn, Kummer und Elend, vielleicht auch Hunger, die Züge sehr verändert, das scharfe Auge des Detektiven fand doch sofort heraus, daß es ein Bild von ihr aus jungen Jahren war; dieses Weib war wirklich Mistreß Congrave.

Er hieß Hannes, die Frau mehr nach der Baumöffuung zu bringen, damit sie die beiden Bilder erkennen könnte, und kaum traf ihr Blick die Photographie, so geschah etwas Unerwartetes.

»Lionel!« schrie sie gellend auf, ihre Augen nahmen einen starren Ausdruck an, sie erweiterten sich und hefteten sich voll des größten Entzückens auf den Kopf, der ihr entgegensah. »Lionel, kommst du endlich?«

»Fort, fort, du Ungeheuer,« fuhr sie dann fort und stieß Hannes, den sie bis jetzt noch immer fest umklammert gehalten hatte, so heftig von sich, daß dieser hintenüber zu Boden stürzte. »Was willst du von mir, du bist nicht mein Gatte, du hast mich belogen. Aber dieser hier,« sie entriß dem Detektiven das Medaillon und küßte wieder und wieder das kleine Bildnis, »dieser hier ist es. O, mein Lionel, habe ich dich endlich wieder!«

Plötzlich ließ sie die goldene Kapsel fallen, richtete sich hoch auf, streckte die Hände weit von sich und brach in ein schauerliches Gelächter aus, so schrill, daß es allen durch Mark und Bein ging. Sie wollte nicht wieder aufhören, fort und fort lachte sie, den Mund weit geöffnet, die Augen starr ins Leere gerichtet; es war, als könne sie die Kinnladen nicht wieder schließen, so weit standen sie auf, und dann nahmen ihre Züge einen schrecklichen Ausdruck von Schmerz an, ohne daß sie mit Lachen aufgehört hätte.

Der Detektiv umfaßte sie und wollte sie beruhigen, aber er wurde mit solcher Kraft zurückgestoßen, daß er das Gleichgewicht fast verloren hätte.

»Sie bekommt die Krämpfe,« schrie Sharp, und da sank auch schon das Weib um, das Lachen klang nur noch wie ein Röcheln. In furchtbaren Zuckungen lag sie am Boden, aus dem noch immer weltgeöffneten Munde drang Schaum, und mit den Fingern suchte sie sich in den Erdboden einzukrallen.

»Sie stirbt,« schrie Hannes.

»Entweder sie stirbt, oder es tritt eine Aenderung in ihrem Geisteszustände ein,« meinte Sharp, »der Anblick des Bildes ihres Mannes hat sie zu sehr erregt. Jetzt schnell mit ihr durch das Loch, wir nehmen sie vorläufig mit auf die Station.«

Das Weib hatte sich etwas beruhigt, die Zuckungen hatten wenigstens etwas nachgelassen, auch das Lachen war verstummt, nur die Kinnladen waren noch wie vom Krampf geöffnet.

Sharp schloß sie mit Gewalt und schaffte dann mit Hilfe der beiden anderen den bewegungslosen Körper der Frau durch die Oeffnung, wo sie von einigen Chinesen in Empfang genommen wurde.

»Das ist Marys Delight,« rief sofort einer von ihnen in gebrochenem Englisch, »sie ist von bösen Geistern besessen.«

»Wer ist es?« fragte Sharp.

»Ihrem Manne gehörte früher die Villa Schao-tschins, er mußte wegen eines Aufstandes der Chinesen fliehen. Von dem Manne und dem mitgenommenen Kinde hat man nie wieder etwas gehört.«

Jetzt wußte man, wo sie geblieben waren. Das Kind war jedenfalls wirklich von den Chinesen ermordet worden, der Mann im Kloster verbrannt, und nur sie allein war durch irgend einen Zufall dem Gemetzel entflohen, ihr Geist hatte diese Schicksalsschläge nicht ertragen können, hatte sich umnachtet, und so war die Unglückliche nach Villa Marienlust zurückgekehrt, in der Meinung, noch in derselben als Herrin auftreten zu können.

»Wohnt sie denn in dieser Erdhöhle?« fragte Sharp. »Sie ist ja völlig leer.«

»Nein,« antwortete der Chinese, »ihre eigentliche Wohnung ist dicht bei der Villa, eine elende Hütte, aber auch in dieser ist nichts weiter, als ein Lager aus Baumblättern und ein Topf zum Trinken. Sie lebte von dem, was sie auf der Villa von Mitleidigen erhielt, viel mag das aber nicht gewesen sein.«

Sharp selbst nahm die Unglückliche, welche wie bewußtlos dalag, obgleich sie es nicht war, denn die Augen rollten hin und her, auf seine Arme und trug sie durch den Wald nach der Landstraße. Doch plötzlich hielt er an.

»Ich wollte sie vor mir aufs Pferd nehmen,« sagte er, »aber es geht nicht, das Traben des Tieres könnte ihr schon so krankes Gehirn noch mehr erschüttern. Schnell, ihr Kerls, schafft eine Bahre, auf die wir sie legen können! Unsere Reise geht zwar dadurch etwas langsamer von statten,« wandte er sich an unsere beiden jungen Freunde, »aber es hilft nichts, wir müssen die von Chinesen getragene Bahre eben begleiten.«

In kurzem war die Bahre aus Zweigen und Aesten hergestellt, die Frau wurde daraufgelegt, und der Zug bewegte sich durch den Wald nach der Landstraße.

Auf dieser hielten ungefähr zehn Mann mit doppelt so vielen Pferden.

»Sie haben ja aber keinen Damensattel mitgebracht,« sagte Hope zu dem Detektiven, die Pferde musternd.

Noch ehe Sharp Gelegenheit fand, nach seiner gewöhnlichen, trockenen Art eine Antwort zu geben, brach schon Hannes in ein schallendes Gelächter aus, und die Folge davon war, daß Hope sofort tief errötete.

»Getraust du dir nicht, als Herr zu reiten?« fragte Hannes, noch immer lachend. »Das wäre zu komisch, wolltest du in deiner jetzigen Kleidung auf einem Damensattel sitzen.«

»Spotte nicht über mich,« sagte Hope etwas erzürnt, »ich kann es nicht leiden, wenn ich ausgelacht werde. Aber wir wollen einmal sehen, wer eher auf dem Pferde sitzt, ich oder du.«

Mit einem Sprunge saß sie im Sattel, und jetzt war die Reihe des Lachens an ihr, als sie zusah, wie der im Reiten nicht sehr bewanderte Hannes unbehilflich erst den verkehrten Fuß in den Steigbügel setzte, das Pferd an der Mähne packte und sich hoch zog.

»Lache nur nicht!« sagte er zu Hope, als er glücklich oben saß. »Bin ich erst einmal im Sattel, dann bin ich auch nicht so leicht herunterzukriegen. Aber das Aufsteigen wird mir immer höllisch sauer.«

Sie ließen sich jetzt erst kurz von dem Detektiven erzählen, wie der Angriff der Chinesen, welche Schao-tschin befreien wollten, abgelaufen war. Es waren jedenfalls Leute von benachbarten Besitzungen und auch von Villa Marienlust selbst, von letzteren zur Hilfe aufgefordert.

Sharp war in Karriere nach der nur noch eine Viertelstunde entfernten Bahnstation gefahren, hatte dort eine zufällig anwesende Patrouille chinesischer Polizei angetroffen, durch Vorzeigen der ihm vom Stadt-Oberhaupt von Scha-tou ausgestellten Papiere den Anführer bewogen, seine Leute ihm zur Verfügung zu stellen, und war sofort nach dem Walde zurückgeeilt, die beiden Damen und Schao-tschin zurücklassend.

Im Walde fand er die Chinesen noch vor, welche die beiden Flüchtlinge suchten. Das Erscheinen der Polizei erschreckte sie, jetzt wurden sie die Flüchtigen, aber die gewandten Polizeisoldaten verfolgten sie und fingen viele von ihnen, und wessen sie nicht habhaft werden konnten, dem schickten sie eine Pistolenkugel nach.

Die gefangenen Straßenräuber wurden vorn auf die Pferde genommen, und in langsamem Tempo ging es der Station zu, in der Mitte die Bahre mit dem ruhig daliegenden Weibe.

Plötzlich brach Hannes, welcher neben Hope ritt, in ein lautes Lachen aus.

»Was hast du?« fragte das junge Mädchen.

»O, Hope,« rief der Gefragte, »jetzt eben fiel mir der Traum ein, den du mir bei Beginn dieser Expedition erzähltest. Erinnerst du dich noch?«

»Siehst du, daß Träume keine Schäume sind?« versetzte Hope. »Den Schatz hast du gefunden, aber er ist dir wieder genommen worden.«

»Meine Tasche hat eben Löcher,« sagte Hannes, noch immer lachend.

»Armer Hannes!« das Mädchen legte seine Hand auf die ihres Begleiters. »Nimm es dir nicht zu Herzen, daß du das Geld wieder verloren hast. Ich kann recht gut begreifen, wie unangenehm es sein muß, wenn man sich als reicher Mann gefühlt hat und dann alles plötzlich wieder hergeben muß.«

»Ich mir so etwas zu Herzen nehmen?« wiederholte der Matrose erstaunt. »Nein, Hope, da kennst du mich schlecht. Mir ist förmlich ein Stein vom Herzen gefallen, seit ich weiß, daß ich das Geld los bin. Ich passe nicht zum reichen Manne, ich glaube, mir schmeckte weder Essen, noch Trinken, wenn ich es mir nicht selbst verdienen kann. Und schließlich, der schönste Schatz ist mir doch geblieben.«

»Was für einen Schatz meinst du?« fragte ihn Hope schelmisch.

»Dich meine ich!«


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