Robert Kraft
Die Vestalinnen, Band 2
Robert Kraft

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26.

Der Amokläufer.

Das Dorf der Indrargarris hatte sich vergrößert, noch acht Leinewandzelte erhoben sich auf der Lichtung, in die sich unsere Gesellschaft zum Schlafen für die Nacht verteilt hatte.

Die Sonne neigte sich noch nicht zum Untergange, aber schon waren die Herren und Mädchen von einem Jagdausflug zurückgekehrt, den sie unter Führung und in Begleitung der Eingeborenen unternommen hatten. Letztere hatten noch mehr Ehrfurcht vor den weißen Fremdlingen bekommen, deren energisches Eintreten für Buwenna, welche ihr Glück im Innern der Hütte verbarg, das Wiedererwecken des toten Kriegers schon hatte ihnen gesagt, wie mächtig diese Fremdlinge sein mußten, und nun gar auf der Jagd hatte sich die Bewunderung für sie bis ins Grenzenlose gesteigert.

Die Umgebung des Dorfes war reichlich mit Wild gesegnet, aber es war doch nicht so leicht, den schnellen Hirsch mitten im Laufe mit dem Pfeile zu treffen, daß er nicht erst weiterfloh, der Kampf mit dem Spieße um das Wildschein blieb immer sehr gefährlich, und den größeren Raubtieren gingen die Eingeborenen stets lieber aus dem Wege; diese Fremden dagegen schienen den Tod in den Rohren ihrer Büchsen zu führen. Was ihnen vor die Augen kam, das fiel, von der sicheren Kugel getroffen, der Hirsch sowohl, wie der Tiger.

Die Tiere waren abgehäutet, die Weißen hatten die besten Stücke Fleisch und die Felle für sich behalten, und alles übrige den Eingeborenen überlassen, welche die saftigen Hirschkeulen an mächtigen Feuern brieten, und auch die Gäste bereiteten sich aus dem erlegten Wilde ihre Abend- und Hauptmahlzeit, nicht viel anders, als die Indrargarris, nur daß sie das Fleisch nicht aus Gier noch halb roh verschlangen.

»Es ist ganz idyllisch, so im Freien am Boden zu sitzen, das Fleisch am Spieße zu braten, anstatt von Porzellantellern von Baumrinden zu speisen, und als Eßgerät das Jagdmesser und die Hand zu gebrauchen,« meinte Charles zu seiner Nachbarin, »es erinnert mich an die Picknicks, welche Lord Hastings und ich immer in Richmond arrangierten, nur daß es dabei an Bier nicht fehlte. Es ist jammerschade, daß wir dieses mitzunehmen unterlassen haben. Das Flußwasser hier schmeckt mir nicht.«

»Nicht?« fragte Hendricks erstaunt. »Mir schmeckt es sehr gut, es hat einen so lieblichen Beigeschmack nach Kaimans und Fröschen.«

»Kräftig ist es jedenfalls,« versicherte Charles, »vorhin bekam ich beim Trinken etwas zwischen die Zähne, und was war das? Eine eben aus dem Ei gekrochene Schildkröte.«

»Seien Sie still,« lachte Miß Thomson, »Sie verderben mir den ganzen Appetit. Es schmeckt mir schon nicht mehr, wenn ich dort die gefräßigen Indrargarris ansehe, wie sie in das halbrohe Fleisch beißen, daß ihnen das Blut an der Seite herunterläuft. Brrr!«

»Ländlich, sittlich,« entgegnete Chaushilm, »meine Leibspeise sind zum Beispiel Austern und Schnecken, und wir schlucken diese Tiere doch auch noch lebend hinunter.«

»Und der Käse ist verfaulter Quark,« stimmte Lord Hastings bei, der an einem großen Knochen herumarbeitete.

»Kennen Sie die Geschichte von den Austern, denen es nirgends gefiel?« fragte Charles Miß Thomson.

»Ich will sie gar nicht hören,« lachte diese, »ihre Geschichten sind immer ganz gräßlicher Art. Aber sagen Sie, was macht denn Lord Harrlington für ein verstimmtes Gesicht?«

Derselbe saß an einem anderen Feuer, an dem sich auch Miß Petersen und Miß Morgan niedergelassen hatten, und zog eine sehr ernste Miene. Er schien seine ganze Aufmerksamkeit auf den vor ihm stehenden Rindenteller mit Fleischstücken zu konzentrieren.

»Lord Harrlington geniert sich,« meinte Charles. »Er ist ein Gentleman durch und durch und vergeht fast vor Scham, in Damengesellschaft mit den Fingern essen zu müssen. Ich bin da anders, ich liebe überhaupt die mohammedanischen Sitten sehr.«

»Lassen Sie die Späße! Mir ist es wirklich aufgefallen, daß Lord Harrlington sich seit einiger Zeit geändert hat. Er war zwar immer ernster, als Sie, Sir Williams, konnte aber doch auch heiter sein. Jetzt dagegen ist er so still und zurückhaltend, als hätte er etwas auf dem Herzen. Ich fühle wirklich Mitleid mit ihm.«

»Der glückliche Harrlington!« seufzte Charles. »Ich werde niemals bedauert, und auch dann nicht, wenn ich statt dieses Hirschrückens am Spieße gedreht würde.«

Die Mahlzeit wurde sobald als möglich aufgehoben; die Herren und Damen standen auf, gingen auf der Lichtung spazieren und besichtigten die Hütten und elenden Gerätschaften der Eingeborenen, die noch lange an den Feuern sitzen blieben und sich der Völlerei hingaben. Die Malayen hatten sich ebenfalls versammelt, hockten am Boden nieder und begannen ein Spiel mit kleinen Steinchen, welches unter ihnen sehr beliebt ist.

Die als Führer mitgenommenen Malayen waren Eingeborene von der Westküste, zu dem Stamme der Orang-Maluja gehörend.

Die Orang-Maluja, was auf deutsch etwa soviel als Herumschwärmer bedeutet, und als welche früher einmal alle Malayen, jetzt aber nur noch ein Stamm auf Malakka bezeichnet wird, sind die heißblütigsten Malayen.

Nur wer selbst Gelegenheit gehabt hat, mit solchen zusammenzukommen, hat einen Begriff davon, welcher Wildheit, welcher Wut diese Menschen fähig sind. Schon die kleinste Beleidigung, ein mißverstandenes Wort, veranlaßt sie, zum Dolche zu greifen, und sie geben nicht eher nach, als bis sie die Waffe dem Beleidiger ins Herz gestoßen haben oder selbst getötet worden sind.

Und die Orang-Maluja übertreffen alle ihre Stammesgefährten an Jähzorn.

Mehrere der Herren und Damen hatten sich um die Gruppe der Spieler geschart, von denen je zwei sich gegenüber saßen und ihr gewöhnliches Spiel abwechselnd trieben.

Es ist dasselbe, welches auch bei uns die Kinder spielen: Der eine nimmt einen Stein, legt die Hände auf den Rücken, bringt in eine derselben den Stein, zieht die Hände wieder vor und fragt nun: Rechts oder links?

Ratet der andere die Hand, in welcher der Stein ist, so hat er gewonnen, im anderen Falle verloren.

Zwei der Spieler erregten die besondere Aufmerksamkeit der Zuschauer, es waren der Anführer und ein großer, starker Malaye, welche beide mit einer ganz besonderen Leidenschaft spielten.

Jeder hatte vor sich einen Haufen Silber- und Kupfermünzen liegen, ihr ganzes Vermögen, das sie immer bei sich in dem um den Leib gewickelten Tuche trugen. Der Anführer hatte ein pfiffiges Gesicht, welches sich immer vollkommen gleich blieb, während der Große, obgleich er offenere Züge besaß, mit der größten Leidenschaft spielte. Bei jedem Gewinn strahlte er vor Vergnügen, bei jedem Verluste wurde er finster, und seine Augen blitzten unheimlich auf.

Der Anführer verlor mehr, als er gewann, sein Geldhaufen schmolz immer mehr zusammen, dennoch aber behielt er sein schlaues Lächeln bei; der andere dagegen war so gierig, daß er, wenn er doch einmal falsch riet und einige Kupfermünzen bezahlen mußte oder gar ein schon gewonnenes Silberstück wieder wechseln ließ, in Verwünschungen und Klagen über sein Unglück ausbrach.

»Links,« sagte der Große wieder.

Des Anführers letzte Kupfermünze ging in des anderen Besitz über, sein Geld schien erschöpft.

»Hast du nichts mehr?« fragte der Große.

»Nein. Wollen wir um die Kleider spielen?«

Die spielenden Malayen hören nicht eher auf, als bis sie das Letzte, ja, bis sie ihre Frau, Kinder und schließlich sich selbst verloren haben.

»Hast du wirklich nichts mehr?« fragte der Große und blickte seinen Gefährten mißtrauisch an, der doch von den Fremden mit Goldstücken bezahlt worden war.

Der Malaye mit den schlauen Augen zog ein Goldstück hervor und wog es nachdenkend in der Hand.

»Ein Goldstück habe ich noch,« sagte er, »aber darum spiele ich nicht, ich könnte es verlieren.«

»Ich will es dir wechseln, wenn du verlierst,« sagte der andere schnell, die Augen gierig auf das Goldstück geheftet.

»Das kannst du nicht, deine Münzen langen nicht zum Wechseln. Zähle sie!«

Er hatte recht, es fehlten noch einige Silbermünzen an dem Geldhaufen des Großen, um den Wert des Goldstückes zu erreichen.

Nachdenklich blickte der Große vor sich hin, dann griff er zögernd an seine Brust, drehte sich mit dem Oberkörper um und brachte ein Beutelchen zum Vorschein, dem er ein Goldstück entnahm.

Da er dem Anführer den Rücken wandte, um seinen eigentlichen Schatz nicht sehen zu lassen, so bemerkte er nicht, wie dessen Augen heiß aufflammten.

»Hier ist ein Goldstück,« sagte der Große, »es ist ebensoviel wert wie dies. Links oder rechts?«

»Rechts!« antwortete der Anführer sofort und hatte verloren.

Aber wieder griff er in den Leibgurt und brachte diesmal zwei Goldmünzen hervor.

»Zwei gegen zwei, willst du?« fragte er.

»Ich will,« entgegnete der Große, vor Aufregung zitternd, »links!«

Der Stein war rechts gewesen, er hatte beide Goldstücke verloren, darunter auch sein eigenes, den Verdienst von einigen Wochen. !

Schnell aber wandte er sich wieder um, und als er sich zurückdrehte, hatte er vier Goldstücke in der Hand.

»Noch einmal,« rief er mit heiserer Stimme, »alle vier.«

Jetzt kam der Anführer dran, er hatte bis jetzt immer schlecht geraten, aber absichtlich. Er war ein besserer Spieler, weil er ruhiger als sein Genosse blieb, denn zu diesem Spiel gehört auch eine gewisse Aufmerksamkeit, es ist nicht nur ein bloßes Raten, sondern aus der Gewohnheit, ob der andere den Stein immer wechselt oder immer in einer Hand behält, aus seinem Mienenspiel, aus dem Zittern der betreffenden Hand kann der geschickte und geübte Spieler erraten, wo er sich befindet.

Der Anführer wollte seinen Gefährten nur erst in Aufregung bringen, ihn gewinnen lassen, um ihn immer gieriger zu machen, und dann erst beginnen, ihm ein Goldstück nach dem anderen abzunehmen.

»Links oder rechts?«

Der Anführer blieb lange die Antwort schuldig, er blickte dem Gegenüber starr in die Augen, musterte dessen Züge und betrachtete sorgfältig die vorgehaltenen, krampfhaft geballten Hände.

»Rechts.«

Ein Wutschrei entrang sich den Lippen des Verlierers, heftig warf er dem Gewinner die vier Goldstücke vor die Füße, hatte aber sofort wieder fünf Goldstücke in der Hand, und jetzt scheute er sich nicht mehr, das Beutelchen zu zeigen.

Es war leer. Der Malaye gab das letzte Geld in der Hoffnung hin, mit diesem Einsatz nach und nach alles zurückzugewinnen, sonst war er ein armer Mann.

Der Anführer hielt seine Hände lange auf dem Rücken, ohne von dem anderen aus dem Auge gelassen zu werden, dann streckte er die Fäuste schnell vor und fragte:

»Links oder rechts?«

Lange war der Große unschlüssig, er sah kein Zeichen, das ihm die betreffende Hand verriet. Die Züge des Malayen waren, wie immer, pfiffig, aber bewegungslos, und die Fäuste ganz gleichmäßig geschlossen.

»Links,« stieß endlich der Große hervor, vor Aufregung an allen Gliedern zitternd.

Der Malaye öffnete nicht die linke Hand, sondern die rechte – die andere ließ er geschlossen zu Boden sinken – und zeigte triumphierend die rechte Hand, in welcher der Stein lag.

»Verloren!« rief er, »her mit dem Geld! Um was spielen wir jetzt, oder willst du nicht mehr?«

Der Gefragte antwortete keine Silbe, stier blickte er auf des anderen linke Hand, die noch immer geschlossen am Boden lag.

»Zeige mir diese Hand her,« flüsterte er heiser.

»Warum?« fragte der Anführer kalt.

»Zeige sie her!« schrie der Malaye jetzt wild auf.

Der Anführer ließ mit einer geschickten Bewegung einen Stein aus der Hand gleiten und zeigte sie so jetzt dem anderen.

Aber so unmerklich dieses Manöver auch ausgeführt worden war, dem scharfen Auge des Großen war es doch nicht entgangen.

»Sohn einer Hündin,« brüllte er auf und griff nach dem Dolch, »du hast falsch gespielt!«

Alle anderen Malayen waren erschrocken emporgesprungen und eilten auf den Wütenden zu, welcher sich allem Anschein nach im nächsten Augenblick auf den Falschspieler stürzen mußte, um ihn für seine Gaunerei mit dem Dolch zu bestrafen; plötzlich nahmen aber die Züge des Wütenden einen seltsamen Ausdruck an, die Augen wurden starr, die Lippen preßten sich fest zusammen, und ehe die umstehenden Herren und Damen eine Ahnung davon hatten, was vorging, schnellte er vom Boden auf, den blitzenden Dolch in der erhobenen Hand, Schaum vor dem Munde, und – stürzte sich nicht auf sein Opfer, sondern eilte in rasendem Lauf zur Seite, über die Lichtung, gerade nach den Zelten zu.

»Amok!« schrieen die Malayen und sprangen mit allen Zeichen des Entsetzens auf. »Schießt ihn nieder!«

Niemand von der Gesellschaft wußte, was dieser Ausruf zu bedeuten hatte, sie hörten ihn zum ersten Male. Sprachlos vor Staunen blickten sie dem Manne nach, der in großen Sätzen an ihnen vorübergeflogen war und jetzt die Zelte erreicht hatte, immer noch den Dolch hoch erhoben.

Amok ist ein malayisches Wort und bedeutet eine Krankheit, welche unter den Malayen, aber nur unter diesem Volk, auftritt und so eigentümlich ist, daß sie selbst von den Gelehrten als eine ganz besondere Art des Wahnsinns aufgefaßt worden ist.

Es ist eine Tollwut, sie tritt ein, wenn das Gemüt des Malayen ungeheuer erregt wird; nicht eine wilde Leidenschaft selbst ist es, sondern nur die Folge einer solchen. Der Malaye kann, wie schon gesagt wurde, sehr leicht erregt werden, und je nachdem er leidenschaftlicher oder ruhiger angelegt ist, desto mehr oder weniger ist er zu dieser Krankheit, dem Amok, disponiert.

Bei dem einen genügt schon ein beleidigendes Wort, um ihn zum Amok zu reizen, der andere muß sich erst stundenlang in Aufregung befunden haben, ehe sich seine Gedanken verdunkeln, ehe er nichts mehr von sich und seiner Umgebung weiß, dann aber erwacht in ihm eine furchtbare Art von Mordlust, die sich aber nicht gerade auf denjenigen erstreckt, der die Veranlassung dazu gegeben hat.

Er springt auf, faßt seinen Dolch und beginnt zu laufen, alles ihm Begegnende mordend, ohne in seinem Rennen einzuhalten und ohne selbst auf seine Sicherheit bedacht zu sein. Der Amokläufer ist vollständig blind, er rennt ebenso in die ihm vorgehaltenen Bajonette hinein, wie er auch seinen Fuß nicht vor einem Abgrund hemmt, und infolgedessen geht der, welcher vom Amok befallen wird, regelmäßig zu Grunde. Entweder zerschmettert er seinen Kopf an irgend etwas, oder er zerschellt in der Tiefe, oder aber er läuft auf freiem Felde so lange, bis er zusammenbricht und an den Folgen der furchtbaren Aufregung, an einem Gehirnschlag stirbt.

Die Holländer haben wegen dieser Amokläufer auf Java förmliche Gesetze aufgestellt, sie sind nicht nur vogelfrei, das heißt, ein jeder ist nicht nur berechtigt, den Amokläufer zu töten, sondern ist sogar verpflichtet, auf den an ihm vorüberrennenden Amokläufer zu schießen. Das Merkwürdigste ist, daß der Amokläufer nicht auf eine Person zurennt und sie tötet, sondern seinen Weg immer geradeaus nimmt und nur den mordet, mit dem er zusammenstößt.

Was für Unheil ein solcher Malaye anrichten kann, ist beispiellos. Den Dolch in der erhobenen Hand, die Augen stier geradeaus gerichtet, Schaum vor dem Munde, so fliegt er durch die Straßen und teilt links und rechts Stiche aus und hält nicht eher ein, als bis er erschöpft zusammenbricht oder seinem Leben gewaltsam ein Ende gemacht worden ist.

Interessant ist es vielleicht auch, zu wissen, daß nach deutschen Seegesetzen alle Vertreter der Völker auf Erden an Bord eines deutschen Schiffes als Matrosen fahren dürfen, seien es Neger, Eingeborene von Australien, Indier oder Chinesen, nur der Malaye ist davon ausgeschlossen, und zwar eben wegen dieser Tobsucht. Es ist schon vorgekommen, daß ein Malaye, der als Matrose fuhr, wegen eines kleinen Streites plötzlich vom Amok befallen wurde, und ehe nur jemand an Abwehr denken konnte, die ganze, ahnungslose Schiffsbesatzung abgeschlachtet hat. –

Zwischen den Zelten standen die englischen Lords und die Damen in Gruppen umher und plauderten.

Die Nacht begann anzubrechen, der Mond war aufgegangen und warf einen gelben Schein auf die Landschaft, der Wald rauschte eine leise Melodie, und süßer Duft drang aus den dichten Büschen hervor, fast zu berauschend für die Sinne der weißen Fremdlinge, welche die würzige Luft kaum einzuatmen wagten. Die Eingeborenen waren an den Zauber dieser Abende gewöhnt, sie lagen vor ihren Hütten und rauchten den geschenkten Tabak; sonst würden sie sich sicher schon zurückgezogen haben, um wenigstens einigermaßen vor dem hungernden Tiger sicher zu sein, aber in der Gegenwart solcher Gäste, deren Treffsicherheit sie heute kennen gelernt hatten, fühlten sie sich vollkommen sicher.

Lord Harrlington stand etwas abseits von den Zelten unter einem Baume, dessen dichtbelaubte Zweige so weit herabhingen, daß sie eine Art von Laube bildeten, lehnte mit dem Rücken an dem Stamm und lauschte dem Zirpen einer Grille, die oben in den Aesten ihr Nachtliedchen sang.

»Eine wunderschöne Nacht, Lord,« sagte plötzlich hinter ihm eine weiche Stimme, »ist es hier nicht gerade wie im Paradies?« Harrlington hatte sich hastig umgewandt, er blickte in die träumerischen Augen von Miß Sarah Morgan, die, unbemerkt von ihm, ebenfalls unter den Baum getreten war.

Er hatte bis jetzt vermieden, mit ihr zu sprechen; nur die nötigsten Worte, welche der Anstand erforderte, waren zwischen ihnen gewechselt worden, und Harrlington hatte immer versucht, der neuen Vestalin aus dem Wege zu gehen, ohne daß sich Miß Morgan bemüht hätte, ihn aufzusuchen.

Das war das erste Mal, daß beide sich allein gegenüberstanden.

Als Harrlington schwieg, fuhr sie mit weicher, schmelzender Stimme fort:

»Warum sind doch die Gaben der Natur auf der Erde so ungleich verteilt? Hier atmet alles Wärme, Duft, Liebe und Schönheit, was bietet dagegen unser kalter Norden?«

»Er ist mir in vieler Beziehung lieber,« sagte Lord Harrlington ruhig, »und vor allen Dingen, an Schönheiten ist er reicher. Diese üppigen Bilder bekommt man, glaube ich wenigstens für meinen Teil, leicht überdrüssig, und tritt hier erst die Regenzeit ein, hat sich alles in Sumpf und Morast verwandelt, so würden auch Sie anders denken. Bei uns dagegen hat der Sommer, wie auch der Winter seine Schönheiten, und was ist lieblicher, als der Uebergang zwischen beiden? Der Frühling, wenn das neue Leben überall an den Bäumen und Büschen hervorbricht, und der Herbst, wenn der Wald sein buntes Kleid anzieht, welches an Farbenpracht es mit jeder tropischen Flora aufnehmen kann.«

Beide schwiegen längere Zeit. Miß Morgan hatte gar nicht beabsichtigt, ein Gespräch über dieses Thema anzufangen, ihre Frage sollte nur die Einleitung zu einem Gespräch werden, und sie war über die Antwort des Lords unwillig, welche sie ganz anders erwartet hatte.

»So lieben Sie den Norden mehr, als den Süden?« begann sie wieder und stellte sich so dicht neben Harrlington, daß ihr Gewand diesen streifte.

»Allerdings,« entgegnete er, »ich liebe sogar den Winter und die Kälte, sie gibt mir mehr Lebensmut als die Wärme, welche den Menschen nur zu leicht entnervt und energielos macht.«

»Aber warum haben Sie denn diese Reise unternommen, welche Sie doch fast nur in tropische Gegenden führt? Warum sind Sie denn nicht in Ihrem kalten England geblieben?«

Harrlington sah sinnend vor sich nieder, ihm wurde mit einem Male klar, wohinaus die Fragerin wollte.

»Warum?« erwiderte er. »Es dürfte Ihnen als Vestalin doch nicht unbekannt sein, aus welchem Grunde wir diese Reise angetreten haben. Unser Entschluß damals beim Antritt der Fahrt war, den Mädchen, welche sich übermütig auf das Meer hinausbegaben, in Gefahren beizustehen. Sie waren uns ja alle nicht fremd, wir hatten schon Gelegenheit gehabt, sie kennen zu lernen, und als die erste Nachricht von ihrem Unternehmen zu uns drang, da waren wir uns sofort darüber einig, sie zu begleiten. Wir haben bis jetzt alles getan, was in unseren Kräften stand, und werden es auch noch fernerhin zu tun suchen.«

Es klang etwas spöttisch, als Miß Morgan zu dem Lord sagte:

»So wären Sie alle nur einem ritterlichen Gefühl gefolgt, als Sie sich zu Beschützern der ›Vesta‹ aufschwangen? Ich glaube, Lord, Sie sprechen doch nicht ganz offen.«

»Wohinaus will sie?« dachte Harrlington. »Weiß sie nicht, wie es zwischen Ellen und mir steht? Warum stellt sie solche Fragen, welche mir unangenehm sind, und die sie selbst am besten beantworten könnte?«

Und laut sagte er:

»Warum soll ich es Ihnen verhehlen, Miß Morgan? Ja, es gibt einige unter uns, welche nicht nur aus bloßem Zeitvertreib oder nur aus Galanterie dem Damenschiff folgen. Eine tiefere Neigung zwingt uns, über das Leben der Damen zu wachen.«

»Ich wußte es,« lächelte das Mädchen, »ich wollte es nur aus Ihrem eigenen Munde hören. Wem soll es auch nicht auffallen, wie seltsam das Betragen einiger der Herren und Damen ist, wie sie einander suchen, wie sich ihr Benehmen ändert, wenn sie sich gefunden haben, und sie plötzlich still oder gesprächig werden, das ganze Gegenteil von dem, was sie sonst zur Schau tragen.«

Harrlington hatte gefürchtet, dieses Weib, welches einst seine Sinne zu umstricken gewußt und das er wirklich geliebt hatte, bis er aus dem Taumel erwachte, würde ihn abermals zu verführen suchen, und er war fest entschlossen, beim ersten Versuch mit kalten Worten zu erklären, zwischen ihnen könne keine Freundschaft mehr existieren, ihr Umgang müsse sich immer nur in den Grenzen der Höflichkeit bewegen. Miß Morgan zeigte nicht, daß sie einen solchen Versuch zu machen gewillt war, sie sprach leicht, ohne Erregung, und das Thema, welches sie anschlug, war gewiß kein verfängliches.

»Haben Sie das wirklich gefunden?« sagte Harrlington etwas spöttisch, weil er sich getroffen fühlte und dies nicht merken lassen wollte. »Ich dächte doch, unter den Herren des ›Amor‹ gäbe es keine sentimentalen Liebhaber, welche seufzen und schmachten und sich nach der Gegenwart ihrer Geliebten sehnen, der frische Seewind treibt derartige Schwärmerei bald aus. Und noch weniger finde ich Ihre Behauptung an den Damen bestätigt, ein lustigeres Korps kann es doch wirklich nicht geben.«

»Da bin ich doch anderer Meinung, und es wundert mich, Lord, daß Sie Ihre Augen so fest geschlossen haben,« meinte Miß Morgan. »Sollte es Ihnen zum Beispiel entgangen sein, wie still und ernst Mister Davids ist? Glauben Sie etwa, dieser Mann mit den sinnenden, tiefen Augen stände umsonst stundenlang auf der Back Ihres Schiffes und wende den Blick nicht ab von der ›Vesta‹? Er dreht sich dann plötzlich um und geht ins Zwischendeck, ohne sich wieder oben sehen zu lassen. O, ich habe es wohl öfters durch das Fernrohr beobachtet, und merkwürdige Gedanken sind mir dabei aufgestiegen.«

»John Davids?« wiederholte Harrlington erstaunt. »Nimmermehr! Er ist immer so gewesen, ich kenne ihn schon seit jener Zeit, da wir die erste Regatta in New-York mitmachten. Ich weiß nicht, was ihn so still und nachdenkend gemacht hat, aber, daß dies mit einer der Vestalinnen zusammenhängen soll, glaube ich nicht.«

»Wer weiß? Ich für meinen Teil habe anders davon sprechen hören.«

»Kennen Sie jemanden, um dessen Gunst er sich vergebens bewirbt?«

»Ich glaube, ja. Wir können ja offen miteinander sprechen, Lord. Er ist ein Mann, welcher keine Leidenschaft kennt; alles in ihm ist Ruhe, Kälte und Ueberlegung, und so liebt er auch das Mädchen, welches die gleichen Eigenschaften besitzt. Er beobachtet nur; hat er aber gefunden, daß das Mädchen seiner Wahl für ihn geeignet ist, so geht er direkt auf sein Ziel los, besiegt alle Schwierigkeiten, alle Hemmnisse, und ruht nicht eher, als bis er es erreicht hat. So unschuldig Mister Davids auch scheinen mag, er ist ein für Frauen ganz gefährlicher Charakter.«

»So sprechen Sie doch,« sagte Lord Harrlington ungeduldig, »wer ist es, der er seine Aufmerksamkeit schenkt?«

»Wer anders als Miß Petersen,« rief Miß Morgan. »Tun Sie doch nicht so, als hätten Sie dies nicht auch schon gefunden.«

»Miß Petersen?« wiederholte Harrlington.

»Das ist nicht wahr!« brauste er dann plötzlich auf. »Sie dichten ihm etwas an, woran er gar nicht denkt.«

»Beobachten Sie ihn und – vor allen Dingen – beobachten Sie Miß Petersen selbst, und Sie werden bald anders urteilen. Wurde nicht mein Name gerufen?« unterbrach sich Miß Morgan. »Entschuldigen Sie meine Schwätzerei; auf Wiedersehen!«

Damit schlüpfte sie durch die Zweige des Baumes und war den Blicken Harrlingtons entschwunden.

Dieser stand halbbetäubt da; er wußte nicht, ob er wache oder träume.

»Beobachten Sie Miß Petersen, und Sie werden bald anders urteilen.«

Diese Worte klangen ununterbrochen wie Posaunenschall in seinen Ohren, sie schmetterten ihn fast zu Boden.

Wußte dieses Weib, Miß Morgan, nicht, daß er Ellen liebte, daß sie ihn wieder liebte? Hatte er dies nicht aus ihrem eigenen Munde gehört, als damals die Wurfspeere der Australneger sie bedrohten? Nein, dieses Weib suchte nur Zwietracht zu säen, es wollte, nachdem es durch seinen Gesang Erinnerungen an seine einstige Liebe wachgerufen hatte, noch völlig das Bild Ellens aus seinem Herzen drängen.

Aber es sollte ihr nicht gelingen, seit dem ersten Begegnen mit Miß Morgan war ihm zum Bewußtsein gekommen, wie teuer ihm Ellen war, wie sehr ihr gegenüber dieses Weib zurückstand – es konnte keinen Vergleich mit Ellen aushalten. Sein ganzes Herz hatte sich dem Mädchen wieder zugewandt, und er war nur darum noch manchmal so niedergeschlagen, besonders in der Gegenwart Ellens, weil er sich schämte, sie auch nur einen Augenblick wegen einer anderen vergessen zu haben. Ein Trost war es ihm, daß niemand außer Williams von diesem Seelenkampf wußte.

»Und doch, John Davids? War es möglich?«

Sollte dessen scheues, zurückgezogenes Wesen wirklich der Liebe entspringen?

In der Tat, das konnte sein; erst jetzt fiel es Harrlington ein, daß dies nicht unmöglich wäre. Seltsam, daß er noch nie zuvor daran gedacht hatte. Natürlich, was war es denn sonst anders, was hätte denn sonst den jungen, schönen, reichen Mann in der vollsten Blüte seiner Kraft, der keine Sorgen kannte, veranlaßt, ein solches Benehmen zur Schau zu tragen?

Aber wen liebte er? Hatte Miß Morgan wirklich recht, als sie Ellen als die Betreffende bezeichnete? Dann tat Davids ihm leid, Ellen liebte ihn, Harrlington, darüber war er nicht im Zweifel, wenn auch das stolze Mädchen seine Liebe nicht öffentlich bekennen wollte.

»Beobachten Sie Miß Petersen, und Sie werden bald anders urteilen,« dachte der Einsame abermals, und sein Gesicht ward plötzlich dunkelrot, er griff mit der Hand nach dem Herzen.

Davids war ein schöner Mann, er war der ernsteste auf dem ›Amor‹, er sprach kein Wort, welches nicht Sinn und Verstand hatte, nie kam ein unpassender Scherz über seine Lippen, nie tat er etwas, was nicht wohl überlegt gewesen wäre. Sollte er wirklich Eindruck auf Ellen gemacht haben? Harrlington hatte schon einige Erfahrung in Betreff des weiblichen Herzens, er wußte, wie schnell es einem anderen Manne zufliegen konnte, wenn dieser verstand, Bewunderung für sich zu erregen.

»Er ist ein ganz gefährlicher Charakter für Frauen, er kennt keine Hemmnisse, er beobachtet und geht dann direkt auf sein Ziel zu.

»Ellen,« stöhnte Harrlington auf, »wenn es möglich wäre!«

Dieser Ausruf war ihm fast unmittelbar entschlüpft, nachdem Miß Morgan den Platz verlassen hatte, so schnell waren alle diese Gedanken ihm durch den Kopf gejagt.

Da erscholl plötzlich in einiger Entfernung heftiges Schreien, Harrlington vernahm mehrmals das Wort ›Amok‹, und gleich darauf ertönte dicht neben ihm ein gellender Hilferuf, von einem Weibe ausgestoßen.

Der Lord hatte sofort die Situation erkannt. Ein Malaye war gereizt worden und rief Amok; in demselben Moment, da der Hilferuf sein Ohr erreichte, stand er draußen, den Revolver in der Hand.

In rasendem Lauf kam der Mensch gerannt, den gezückten Dolch hoch emporgehoben, und hatte fast schon das Mädchen erreicht, welches vor Schreck wie gelähmt in die Kniee gesunken war, entsetzt dem Wütenden die Hände entgegenstreckend.

Mit einem Sprunge stand Harrlington neben ihr; ein Blitz, ein Knall, und mit der Kugel im Herzen sank der Amokläufer zu Boden, während sich der Retter zu dem Mädchen hinabbeugte, es mit den Armen umschlang und aufrichtete – es war Miß Morgan.

In diesem Augenblicke begegnete sein Auge dem der Miß Petersen, welche eben an der Seite John Davids aus dem Walde trat.


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