Robert Kraft
Die Vestalinnen, Band 2
Robert Kraft

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14.

Sechs Jahre zurück.

Der Gedanke bindet sich weder an Zeit, noch Raum, er kann in einem Augenblicke Jahrtausende durchfliegen, er legt den Weg nach dem entferntesten Stern schneller als der Blitz zurück, wie er auch ein ganzes Leben lang bei einer Minute verweilen kann.

Deshalb ist auch der liebe Leser im stande, mit mir im Geiste über den Großen Ozean zu fliegen. Wir verlassen die Gegend, an welcher sich die letzten Vorgänge abgespielt haben und eilen östlich, immer weiter, über das Wasser hinweg, bis wir die Westküste Nordamerikas hinter uns haben. Aber noch lassen wir uns nicht nieder, wir schweben über das Felsengebirge und sausen durch die Lüfte, daß die schnelle Pacificbahn im Vergleich mit uns wie eine Schnecke zu kriechen scheint.

Riesige Wälder, unendliche Prärien, bebaute Landschaften huschen wie Schatten vorbei, aber sie hemmen unseren Flug nicht, bis wir uns von selbst in einer blühenden Gegend wieder zur Erde begeben.

So weit das Auge reicht, erblickt es Zuckerrohr-, Mais-, Baumwollen- und Tabaksfelder; im Norden schließt sich ein Urwald an, durch den man tagelang reisen kann, ohne sein Ende zu erreichen, und da, wo der Boden nicht von fleißigen Händen nutzbar gemacht worden ist, trägt er den Charakter der ursprünglichen Beschaffenheit der Prärie.

Wir sind in Louisiana, und die Plantage, auf welcher wir uns von der langen Reise erholen wollen, gehört Mister Jones Flexan, dem reichsten Pflanzer der ganzen Gegend.

Wenn jemand nicht glauben wollte, daß alle diese unabsehbaren Felder, diese Kaffeewälder, die zahllosen Rinder- und Pferdeherden, die sich auf der Prärie tummelten, einem einzigen Manne gehörten, daß alle diese Tausende von Feldarbeitern, Cowboys und Aufsehern dem Winke eines einzigen gehorchten, der brauchte nur in das herrschaftliche Haus, nein, in den Palast zu treten, der sich inmitten eines paradiesischen Parkes erhebt, und er würde überzeugt werden von der Pracht und dem Glanze, der ihm aus den Sälen entgegenstrahlt, von der zahllosen Dienerschaft, welche nicht weiß, wie sie den Tag verbringen soll, weil niemand ihrer Dienste begehrt, bis sich einmal im Monat diese Räume mit eleganten Herren, und schönen glutäugigen Damen füllen, und dann alle ihre aufgesammelte Kraft gebraucht wird.

Und dieser einzige, dem alles gehört und alles gehorcht, ist Jones Flexan, der Stiefvater von Ellen Petersen, der Universalerbin aller dieser Reichtümer, denn der Verbindung zwischen Flexan und der verwitweten Mistreß Petersen waren keine Kinder entsprossen.

Was Jones Flexan früher gewesen? Man wußte es nicht. Dunkle Gerüchte gingen über sein Vorleben um, aber behauptet konnte nichts werden, und dem allmächtigen Gebieter gegenüber verstummte der dreisteste Mund.

Nicht einmal Ellen wußte, wie ihre geistig so tiefbeanlagte, schwärmerische und poesievolle Mutter, welche nach dem Tode ihres Gemahls nur noch dem Andenken desselben zu leben gewillt schien, ihr Herz zum zweiten Male an einen Mann verlieren konnte; er mußte auf sie eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausgeübt haben, denn die südländische Schönheit des damals etwa vierzigjährigen Mannes konnte sie allein unmöglich berückt haben, eher die bestechenden Eigenschaften des Kavaliers.

Auch Ellen besaß den phantastischen Sinn, das zur Schwärmerei beanlagte Herz ihrer Mutter, aber sie hatte zur gleichen Zeit die Energie und das scharfe Auge ihres Vaters geerbt, eines Kanadiers, der sich hier unten mit eisernem Fleiße und nimmer zu beugender Tatkraft vom armen Bauer zum reichsten Pflanzer emporgearbeitet hatte, und das Erbteil des letzteren, der kalte Blick, war es, welcher dem jungen Mädchen, damals fünfzehn Jahre alt, lehrte, daß sie den Vater nicht lieben durfte, sich sogar vor ihm hüten mußte.

Er war stets freundlich, zuvorkommend gegen sie, wie er sich überhaupt gegen jede Dame mit einer chevaleresken Höflichkeit benahm, und bei keiner verfehlte der stattliche Mann mit den schönen Zügen, dem schwarzen Lockenkopf und dem prächtigen Bart à la Henri quatre den gewünschten Eindruck, den er hervorzubringen beabsichtigt hatte; nur Ellen wurde gerade von dieser Zuvorkommenheit abgestoßen.

Warum nur hatte dieser Mann graue Augen, während zu seinem Typus doch schwarze gehörten –, doch dafür konnte er nicht – aber warum ließ er den stechenden Blick immer, wenn er sich unbeobachtet glaubte, mit so seltsamem Ausdrucke auf Ellen haften? O, das junge Mädchen war schlau, oft genug hatte es ihn im Spiegel beobachtet. Und vor allen Dingen, warum ließ er, trotzdem Ellen ihm ihre Abneigung auf jede Weise zu erkennen gab, nicht in seinen höflichen Bemühungen um sie nach, die sich gar nicht für einen Stiefvater schickten?

Ein unnennbarer Widerwille stieß sie von dem Manne ab, und nur aus Liebe zu ihrer Mutter gab sie sich den Anschein, als habe sie vor dem neuen Vater Achtung.

Schon ein Jahr nach ihrer zweiten Vermählung starb die Mutter; ein Herzschlag hatte sie dahingerafft, sie aus dem blühendsten Leben herausgerissen, und nie konnte Ellen den furchtbaren Blick vergessen, den Mister Flexan ihr zuwarf, als er die Todesnachricht erhielt.

Sie beide saßen gerade allein am Frühstückstisch, nur das Erscheinen der Mistreß Flexan erwartend, welche noch Morgentoilette machte.

Eben sagte er dem jungen Mädchen einige Schmeicheleien über ihr frisches Aussehen, als ein Kammermädchen schreiend hereinstürzte und die furchtbare Nachricht brachte, die Mistreß sei von einem plötzlichen Unwohlsein befallen worden – sei zu Boden gestürzt – sei tot.

Als Vater und Tochter in das Zimmer eilten, überzeugten sie sich auf den ersten Blick, daß hier keine Rettung mehr möglich war, sie standen vor einer Leiche.

Tränenlos, das Unmögliche noch nicht glauben könnend, kniete Ellen vor dem entseelten Körper ihrer geliebten Mutter, da weckte sie ein furchtbarer Fluch aus ihrem Brüten, und als sie aufblickte, sah sie Flexan vor sich stehen, die Fäuste wie im Krampf geballt, die Züge wutverzerrt, die Lippen blau, die Augen aus den Höhlen getreten und mit einem Blick auf das knieende Mädchen gerichtet, der ihr das Blut erstarren machte. Nicht Schmerz konnte es sein, der ihn zu diesem Aussehen brachte, denn ein Fluch entfuhr dem verzerrten Munde, ein Fluch, wie ihn so schrecklich Ellen noch nicht von dem rohesten Cowboy gehört hatte.

Kurz drehte er sich auf den Hacken herum und begab sich in sein Zimmer, in das er sich einschloß und aus dem er die Bestattung der Leiche leitete, ohne sich selbst sehen zu lassen. Erst bei dem letzten Gange zeigte er sich wieder den Augen Ellens und verstand es vortrefflich, seinem Benehmen den Ausdruck des höchsten Schmerzes zu verleihen.

Alle täuschte er so, nur Ellen nicht.

Die ärztliche Untersuchung der Leiche hatte ergeben, daß Mistreß Flexan die beste Hoffnung gehabt hatte, Mutter zu werden.

Kaum war das Leichenbegängnis vorüber, als Mister Flexan, der dem Mädchen schon wieder die alte Höflichkeit entgegenbrachte, ihr die Mitteilung machte, daß er seinen Neffen, den Sohn eines verstorbenen Bruders, nach der Plantage kommen lassen würde.

Ellen hörte gar nicht darauf, was der Stiefvater ihr vom glücklichen Zusammenleben und von der Freundschaft erzählte, die sie bald an seinen Neffen fesseln würde, wie er ihr den liebenswürdigen Charakter des Erwarteten in den glühendsten Worten schilderte – das ließ sie alles gleichgültig, ihr Herz war noch todeswund, und mehr denn je schweifte sie zu Pferd und zu Fuß durch die Wälder und Prärien, um ihren Schmerz heilen zu lassen.

Nach einigen Wochen kam denn auch der Neffe, Eduard Flexan, dessen der Stiefvater bei jeder Gelegenheit Erwähnung getan hatte, aber wie war Ellen erstaunt, als sie in dem zwanzig Jahre alten Manne das völlige Ebenbild ihres Stiefvaters sah.

Dieselbe Gestalt, dieselben Haare, Züge und vor allen Dingen dieselben grauen Augen, Bewegungen und überaus höflichen Manieren.

»Und das soll nur sein Neffe sein?« sagte sich Ellen immer und immer wieder, als sie nach der ersten Begrüßung sich wieder allein überlassen war. »Nimmermehr! Eine solche Ähnlichkeit kann nur zwischen Vater und Sohn existieren. Doch wie es auch sein mag, er sagt ja selbst, er wäre nicht verheiratet gewesen. Mir kann es völlig gleichgültig sein, der Besuch soll mir als sein Neffe gelten.«

Natürlich wurde Eduard Flexan völlig als Familienmitglied betrachtet und nahm dieselben Rechte in Anspruch, wie sie dem Sohne des Hauses zugekommen wären. Ellen hätte sich über ihn nicht zu beklagen brauchen, ja, sie hätte ihn sogar gern um sich geduldet, denn noch nie hatte sie Gelegenheit gehabt, mit einem Manne zu verkehren, der alle Vorzüge besaß, welche das Herz eines Mädchens bestechen: Jugend, Schönheit, Geist und Fertigkeit in ritterlichen Hebungen. In der Tat, Eduard Flexan war kein gewöhnlicher Mann. Ellen hatte oft Gelegenheit, seinen Scharfsinn zu bewundern, oft wurde sie von seiner Unterhaltung hingerissen, mußte über seine geistvollen Witze lachen, und ebenso mußte sie zugeben, daß er in allen Eigenschaften, wie sie einem Kavalier zukommen, so weit es Kraft und Gewandtheit anbetrifft, nichts zu wünschen übrig ließ.

Nur das eine stieß auch ihn von ihr zurück: die Aehnlichkeit mit ihrem Stiefvater, besonders der Blick des grauen Auges, mit dem auch er sie oft, wenn sie sich abwendete, verfolgte, aber nicht höhnisch lächelnd oder drohend, sondern heiß, glühend, verlangend, und dann bemerkte sie wieder, wie sich die Augen der beiden Männer suchten und verständnisvoll begegneten.

Ellen war kein Kind mehr; im Süden reifen die Menschen schnell, auch wenn sie nordisches Blut in den Adern haben, und so bemerkte das sechzehnjährige Mädchen auch bald, daß sich hinter dem höflichen Benehmen Eduards noch etwas anderes verbarg als Artigkeit, welche ihn zwang, sich immer in der Nähe seiner schönen Cousine aufzuhalten.

Seit dem ersten Augenblicke, da sie an seinem heißen Blicke erkannte, daß er sie liebe, zog sich eine Scheidewand zwischen beide, unsichtbar, aber auch unübersteiglich.

Sie wußte nicht warum, aber seitdem begann sie ihn ebenso zu hassen, wie ihren Stiefvater, und als sie einst zufällig erfuhr, daß sie ihre Ahnung nicht betrogen hatte, daß der Stiefvater den vorgeblichen Neffen nur nach der Plantage hatte kommen lassen, um eine Verbindung mit der reichen Erbin herbeizuführen, da verwandelte sich der Haß in Verachtung.

Ellen forderte ihn nicht mehr auf, an ihren Spazierritten teilzunehmen, sie duldete seine Begleitung nur noch ungern, und als er die ihm entgegengebrachte Kälte gar nicht zu bemerken schien, schlug sie ihm sogar seine Bitte, sie begleiten zu dürfen, einfach ab. Als auch dies nichts nutzte, ihn von ihr zu entfernen, sagte sie ihm schließlich einmal mit dürren Worten, er möchte sich nicht mehr um sie bemühen, seine Gesellschaft wäre ihr lästig.

Aber der junge Mann wußte es trotzdem so einzurichten, daß er das Mädchen traf, natürlich wie zufällig, und er belästigte es mit Zudringlichkeiten. Diese Rücksichtslosigkeit, dieses Wegleugnen jeden Ehrgefühles brachte das Mädchen so auf, daß es allen Ernstes darauf sann, sich dieses Menschen zu entledigen.

Entweder er oder sie, eines von beiden mußte die Plantage verlassen, weil dieselbe noch viel zu klein war, um beider Wege sich nicht kreuzen zu lassen.

Monat nach Monat verging, des Neffen Betragen wurde immer zudringlicher, sein Blick immer dreister, der des Stiefvaters immer aufmunternder, da traf Eduard sie einst im Walde. Beide waren zu Pferd.

Ellen wollte umkehren und den Weg zurückreiten, aber schon war der Cousin an ihrer Seite und begrüßte sie, ohne darauf zu achten, daß sie den Kopf abwandte.

Seine Worte, erst ganz einfach angefangen, nahmen nach und nach eine andere Wendung und, sei es, daß er selbst den Entschluß gefaßt hatte, sei es, daß sein Onkel ihn dazu angetrieben, er sagte zum ersten Male frei heraus, daß er Ellen liebe, daß er sie zum Weibe begehre.

»Lassen Sie mich allein reiten!« entgegnete diese kalt. »Ich habe nichts weiter zu sagen als nur, daß ich mich über Ihre Keckheit, wenn man Ihr Benehmen noch so nennen kann, wundere, da ich Ihnen doch stets gezeigt habe, daß ich Ihnen auf jede nur mögliche Weise aus dem Wege gehe.«

Sie lenkte ihr Pferd und ritt zurück, er blieb an ihrer Seite, sie fortwährend belästigend. Ellens Pferd setzte sich in Galopp, er verließ sie nicht, sie trieb es zur Karriere an, er das seinige auch. Da hielt Ellen ihr Pferd, blickte mit blitzenden Augen dem Aufdringling ins Gesicht und sagte:

»Wollen Sie mich nun allein reiten lassen?«

»Und ritten Sie bis ans Ende der Welt, nein, ich bleibe bei Ihnen,« rief der junge Mann, sein Auge wie trunken auf die Züge des Mädchens heftend, das, vom heftigen Reiten erhitzt, noch schöner geworden war.

»So kommen Sie,« sagte Ellen kurz, warf das Pferd herum und galoppierte davon, in den Wald hinein.

Eduard folgte ihr.

Bald standen die Bäume so dicht zusammen, daß ein Nebeneinanderreiten nicht mehr möglich war, Eduard mußte also zurückbleiben. Immer schneller trieb Ellen ihr Pferd an, sie kannte hier ja jeden Baum, jede Wurzel, sie jagte unter den Aesten durch, setzte über die Büsche hinweg, bis sie die Grenze des Waldes erreichte.

Vor ihnen tat sich eine mit Schilf bewachsene Fläche auf, ängstlich wieherte Ellens Roß, es wollte nicht weiter, es bäumte sich, aber seiner Herrin kräftige Hand hatte es bald bemeistert, auch war es ja nicht das erste Mal, daß es diesen Grund betrat, ein alter Cowboy hatte Ellen auf demselben Pferde gelehrt, wie man hier reiten mußte.

Kaum hatte das Pferd den ersten Sprung in das beschilfte Gelände gemacht, so jagte es weiter, leicht und flüchtig, wie ein Reh, mit den Hufen kaum den Boden berührend, der schwankte und ächzte, als klagten Geisterstimmen unter ihm. Jeder Huftritt hinterließ eine Vertiefung, die sich sofort mit schwarzem, stinkigen Wasser ausfüllte.

Erst als Ellen die jenseitige Grenze erreicht hatte, hielt sie das dampfende Pferd an und blickte sich um, ihr Begleiter war ihr ahnungslos gefolgt, das wußte sie, jetzt aber war keine Spur mehr von ihm zu sehen, Roß und Reiter waren verschwunden.

Ellen rief einige Cowboys, welche in der Nähe die Rinderherden bewachten.

»Dort drüben am Rande des Sumpfes ist ein Reiter versunken,« sagte sie, »er versuchte mir zu folgen. Seht zu, daß ihr ihn herausbekommt!«

Lächelnd wickelten die verwegenen Reiter der Prärie ihre Lassos von den Hüften und blickten ihrer jungen Herrin nach, welche in flüchtigem Galopp der Behausung zusprengte.

Einige Stunden später langte in dem Vorhof des herrschaftlichen Gebäudes ein über und über mit Schlamm bedeckter Mann an, auf einem frischen Pferde sitzend, aber das hinter ihm hergeführte Tier hatte dasselbe Aussehen wie er selber.

Als er sich müde aus dem Sattel gleiten ließ, streifte sein Blick die Fenster eines Seitenflügels, und wäre nicht selbst sein Gesicht mit einer dicken Schlammkruste bedeckt gewesen, so hätten die Umstehenden die brennende Röte bemerken können, die plötzlich sein Gesicht überflog.

Drüben im Fenster lehnte Ellen, neben ihr eine junge Frau, und erzählte eine Geschichte, über welche letztere laut auflachte und den Reiter mit noch mehr Neugier zu betrachten schien.

Dieser Streich sollte für Ellen aber noch weitere Folgen haben.

Als sie am Abend desselben Tages beim Nachtessen erschien, fehlte Eduard, wie sie erwartet hatte, dafür aber setzte der Stiefvater ausnahmsweise eine sehr feierliche Miene auf, ließ seine sonstige Höflichkeit ganz weg und hielt dem jungen Mädchen eine lange Strafpredigt, worin er ihm das Unpassende des Betragens vorwarf und ihm überhaupt Vorwürfe machte. Es wäre nun an der Zeit, daß sie ein anderes Leben begänne, die benachbarten Pflanzer hielten sich über sie auf, über ihren steten Umgang mit den Cowboys und so weiter.

Es dauerte nicht lange, so artete das Gespräch in einen heftigen Streit aus, ein Wort gab das andere, Ellen verbat sich jede Bevormundung, und der Schluß war, daß das junge Mädchen erklärte, das väterliche Besitztum verlassen zu wollen, wo ihr der Aufenthalt durch fremde Menschen unerträglich gemacht würde.

Ellen hielt Wort.

Einige Wochen später reiste sie nach New-York zu einer ihrer Mutter befreundeten Familie, ohne von ihrem Stiefvater, noch von dessen Neffen, den sie überhaupt nicht mehr zu sehen bekommen hatte, Abschied genommen zu haben.

Das einzige, was sie noch schwankend gemacht, ob sie ihren Vorsatz ausführen sollte oder nicht, war ein Kind, ein kleines Mädchen, Martha, an der sie mit ihrer ganzen Seele gehangen hatte.

Vor etwa einem Jahre war Mister Flexan von einer Reise nach dem Norden Amerikas zurückgekehrt und hatte zur Verwunderung Ellens und der ganzen Dienerschaft ein einjähriges Kind und eine Wärterin mitgebracht. Er erzählte eine lange Geschichte, es wäre die Tochter einer Verwandten, die er bei dieser Reise in großer Armut aus dem Sterbebette getroffen habe, und sein Herz sei bei dem Anblicke des kleinen Wesens so von Mitleid überwältigt worden – wie er sagte – daß er sich nicht habe entschließen können, das Kind fremden Händen zu übergeben, sondern es gleich mitgenommen hätte.

Unterwegs habe er in einer anderen Stadt eine junge Witwe engagiert, welche für Martha sorgen sollte, und da diese sich nun einmal an das Kind gewöhnt habe, könnte sie gleich auf der Farm bleiben.

Der scharfsichtigen Ellen entging es nicht, wie sich bei dieser Erzählung des Mister Flexan ein höhnischer Zug um den Mund Eduards legte, und ferner nahm sie wahr, daß sich beide längere Zeit in ein Zimmer zurückzogen, wo ein langes Gespräch gehalten wurde, das schließlich in einen heftigen Wortwechsel ausartete. Es war, als wünsche Eduard den Aufenthalt Marthas auf der Plantage nicht.

Aber das Kind blieb doch auf der Farm, mit ihm die junge Frau, und beide gewann Ellen lieb, besonders ersteres, welches sie unter ihre besondere Hut nahm.

Es war das einzige Wesen, von dem sie sich bei ihrer Abreise nach New-York ungern trennte; sie versuchte, Martha nebst deren Wärterin mit sich zu nehmen, aber sie stieß bei der ersten Frage an den Mister Flexan auf einen solchen Widerstand, daß sie dieselbe nicht wiederholte.

Ellen hatte in New-York bald einen Kreis von jungen Mädchen um sich versammelt, welche mit ihr in Charakter und Neigungen übereinstimmten, sie gründete den Ruderklub ›Ellen‹ und bestimmte später ihre Freundinnen dazu, mit ihr auf einem Schiff eine Reise um die Erde anzutreten– als Vestalinnen.

Mit ihrem Stiefvater stand sie fast in gar keinem Verkehr, höchstens korrespondierten sie einmal geschäftlich zusammen, wenn Geldangelegenheiten es erforderten. Der reichen Erbin standen natürlich alle Mittel zur Verfügung. Die einzige, mit welcher sie einen Briefwechsel unterhielt, war die Wärterin Marthas, von dieser ließ sie sich über das Befinden des Kindes benachrichtigen, sowie über die Vorfälle auf der Farm, und erfuhr, daß bald nach ihrer Abreise auch Eduard Flexan die Plantage verlassen habe. Es vergingen Jahre, und er kam nicht wieder dahin zurück, niemand, als vielleicht sein Onkel, wußte, wo er sich aufhielt.

Als Ellen eines Abends aus dem Klubhaus kam und in ihre auf sie wartende Equipage stieg, eilte ein Herr an ihr vorüber, der, als er sie erblickte, hastig den Kopf zur Seite wandte und mit beschleunigten Schritten davonlief, als wolle er vermeiden, erkannt zu werden.

»Das war entweder mein Stiefvater oder Eduard,« dachte Ellen, »die beiden sehen sich so ähnlich, wie ein Ei dem anderen. Wüßte nicht, warum er so ängstlich darauf bedacht sein sollte, von mir nicht erkannt zu werden. Nun, laß ihn laufen, desto besser, wenn er mir aus dem Wege geht!«

Zu Hause angekommen, meldete ihr die Kammerzofe, es habe sie ein Herr zu sprechen begehrt und lange im Vorzimmer gewartet.

»Hatte ich Ihnen nicht gesagt, daß ich heute erst abends nach Hause kommen würde?« sagte Ellen. »Warum lassen Sie da den Herrn warten?«

»Das habe ich ihm auch mitgeteilt,« war die Antwort, »aber er schien sehr genau darüber orientiert zu sein, wo Sie sich gerade befanden. Er sagte, er wüßte bestimmt, daß der Ausflug, den die Damen heute vorhatten, nicht stattfände, und daß Sie also bald wieder nach Hause kommen würden.«

»Wie lange hat er gewartet?«

»Etwa drei Stunden.«

»Seine Karte?«

Ellen las einen ihr vollkommen fremden Namen, ebenso paßte die Beschreibung, welche sie sich geben ließ, auf keinen ihr bekannten Herren.

Als sie ihr Schreibzimmer betreten hatte, öffnete sie den Sekretär, um einen bereits geschriebenen Brief zu adressieren und ihn mit dem Stempel zu versehen, den sie gewöhnlich führte. Sie wunderte sich schon, daß die Schublade, in welcher er lag, nicht wie gewöhnlich verschlossen war.

»Eine Vergeßlichkeit von mir,« murmelte sie.

Sie zog die Lade auf und wunderte sich noch mehr, daß der Stempel nicht wie sonst neben dem Farbenkissen, sondern auf demselben lag, wohin sie ihn nie legte, weil dadurch der Griff mit Farbe beschmutzt wurde.

»Sonderbar,« dachte sie wieder, »bin ich denn bei dem letzten Gebrauch des Stempels ganz konfus gewesen?«

Doch Ellen war zwar eine scharfsinnige, aber offene und arglose Natur, und so grübelte sie nicht weiter darüber, sondern schob diese Unordnung ihrer eigenen Unachtsamkeit zu.


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