Robert Kraft
Die Vestalinnen, Band 2
Robert Kraft

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7.

Lord Harrlingtons Abenteuer.

Eine neue, unangenehme Ueberraschung erwartete die Damen, als sie in Townville anlangten. Mit besorgten Blicken hatten sie bei der Einfahrt in den Bahnhof der Stadt, von welchem aus man den Hafen übersehen konnte, die Schiffe gemustert, fast fürchtend, die ›Vesta‹ nicht mehr vorzufinden, und wirklich waren sie alle erschrocken von den Plätzen aufgesprungen, als Miß Thomson gerufen hatte:

»Die ›Vesta‹ ist nicht mehr da!«

Aber es war nur ein Irrtum; Ellen entdeckte sie bald unter den anderen Schiffen wieder; sie hatte ihren früheren Platz verlassen und lag jetzt dicht am steinernen Umfassungsrand des Hafenbeckens, und schon von hier aus konnten die Damen sehen, daß Arbeiter auf ihr beschäftigt waren.

Mit angsterfülltem Herzen eilten sie nach der ›Vesta‹, sie glaubten nicht anders, als ihr Schiff sei demoliert worden, vielleicht mit Absicht, aber Gott sei Dank, sie wurden bald von ihrer Sorge erlöst.

Die ›Vesta‹ hatte neben einem Dampfer geankert, und da der Hafen von Townville fast überfüllt war, so lagen die Schiffe nicht weit genug auseinander, um sich nach allen Seiten hin drehen zu können, ohne dabei an ein anderes zu stoßen. Der Dampfer hatte neben ihr geankert und bei dem damals herrschenden Winde so, daß die beiden Schiffe sich vollständig weit genug voneinander befanden; als aber in der Nacht der Wind umgesprungen war, drehten sich beide Schiffe, die Mannschaft des Dampfers merkte es, schlug Alarm und versuchte, sich von der ›Vesta‹ freizusetzen, was ihr auch gelang. Nur der Klüverbaum der ›Vesta‹ war dabei gebrochen worden, und die zurückgebliebenen englischen Herren hatten den Segler sofort am anderen Morgen nach dem Quai bugsieren lassen, damit der Schaden dort von Schiffszimmerleuten möglichst schnell repariert werde, so daß die zurückkehrenden Damen ihr Fahrzeug wieder seetüchtig fanden.

Derartige Havarien kommen in kleinen, aber belebten Häfen öfters vor, wenn der Wind umspringt, und werden als etwas Unvermeidliches hingenommen.

Es galt zwar als Gesetz der Vestalinnen, daß kein männlicher Fuß die ›Vesta‹ betreten sollte, aber wie überall, so mußten auch hier mit Ausnahmen gerechnet werden. Zwei Tage vergingen noch, ehe der alte Klüverbaum ausgehoben und der neue an Bord gehißt und eingesetzt worden war, und so lange mußten sich die Damen gedulden, natürlich schloß sich diesem unfreiwilligen Aufenthalte in Townville auch die Mannschaft des ›Amor‹ an.

Am Morgen des zweiten Tages ging Lord Harrlington mit seinem Freunde Williams durch die Straßen von Townville, verließen dann die Stadt und ergingen sich in der Umgegend, welche noch nicht den Eindruck des australischen Busches machte, sondern mit parkähnlichen Anlagen geschmückt war, durch welche schöne, schattige Promenadenwege führten.

Hier und da stand ein Häuschen, in dem ein den Aufenthalt im Freien liebender Geschäftsmann von Townville mit der Familie seine Freizeit verbrachte.

So kamen sie auch an einer Villa vorbei, dessen Besitzer eine kleine Pferdezucht angelegt hatte; auf der neben dem Hause befindlichen und eingezäunten Wiese tummelten sich mehrere Stuten und Füllen umher. Ihr Herr selbst stand an dem Zaune und weidete sich an dem Anblicke seiner Lieblinge.

»Sehen Sie da,« rief Charles und deutete auf einen Hengst, der in einem kleinen, besonders abgeteilten Gehege stand und die Vorbeigehenden mit zurückgelegten Ohren und aufgeblähten Nüstern beobachtete, »was für ein herrliches Tier! Dieser edle Hals, der kleine Kopf, diese wie aus Erz gegossenen Glieder. Schade, daß Hendricks nicht bei uns ist, er würde aus einem Entzücken ins andere fallen.«

Der Herr am Zaune hatte diese Bemerkung gehört und lauschte mit Wohlgefallen, wie die beiden elegant gekleideten Herren, jedenfalls reisende Engländer, sich über die Vorzüge seines Pferdes noch weiterhin unterhielten.

Beide Freunde waren stehen geblieben.

»So ein Pferd sollte ein englischer Jockey wie Fred Archer zwischen seine Schenkel bekommen,« meinte Harrlington, »und in vierzehn Tagen startet es mit dem besten Rennpferd.«

Der Herr hatte sich umgewendet und war zu ihnen getreten.

»Es freut mich, daß Sie meinem Tiere solche Anerkennung zollen,« sagte er höflich, aber ohne seine innere Freude verbergen zu können, »umsomehr, als der Hengst aus meiner eigenen Zucht hervorgegangen ist. Sein Vater war allerdings ein Engländer, seine Mutter aber kommt aus Australien, und von dieser hat er das wilde, störrische Blut der hiesigen Rasse bekommen, die zum Reiten nicht geeignet ist.«

»Läßt er sich nicht satteln und besteigen, oder zeigt er Mucken?« fragte Harrlington.

»Das nicht,« war die Antwort, »er behält jede Gangart bei, aber weder mir, noch einigen meiner Bekannten, sehr guten Reitern, ist es bis jetzt gelungen, ihn zum Nehmen von größeren Hindernissen zu bewegen, obgleich er wie dazu geschaffen ist. Desgleichen scheut er sich, über eine hölzerne Brücke zu gehen, und oft passiert es mir, daß er dann, durch den hohlen Ton erschreckt, umkehrt, und ohne sich halten zu lassen, nach Hause rennt.«

»So geht er durch?«

»Niemals. Er nimmt nur den Heimweg und läßt sich dann nicht mehr lenken. Ich bin sehr traurig über diesen Fehler.«

»Oho,« rief Harrlington, »das ist kein Fehler, sondern nur eine Unart. Ist er ängstlich beim Springen?«

»Durchaus nicht. Früher war der Fang noch nicht so hoch, und als er als Füllen erst einmal die Kraft seiner Sprungfesseln erkannt hatte, da war er eines Tages darüber, und wir hatten unsere liebe Not, ihn wieder einzufangen, denn er setzte über alle Hindernisse hinweg, über die wir mit anderen Pferden nicht konnten. Aber gesattelt will er sie einmal nicht nehmen, höchstens ganz kleine Hecken und schmale Gräben.«

»Nehmen Sie es mir nicht übel, aber dann fehlt es ihm nur an einem energischen Reiter,« sagte der Lord. »Wenn einem Tiere solche Mucken gleich beim ersten Male, wo es sie zeigt, ausgetrieben werden, so wiederholt es sie nie mehr. Aber auch noch späterhin kann man sie ihm austreiben, wenn auch nicht mehr durch Güte, wie man es vorher gekonnt hätte.«

»Mag wohl sein, daß Sie recht haben. Ich bin alt und nicht mehr der Reiter, der ich früher gewesen bin, und keiner meiner Freunde hat bis jetzt vermocht, die Launen dieses Pferdes zu brechen.«

»Geben Sie mir den Hengst für einige Stunden,« bat Lord Harrlington, »und ich werde Ihnen das Tier als das willfährigste wiederbringen, das Ihnen je zugeritten worden ist.«

Der Herr betrachtete nachdenklich die schlanke Gestalt des Lords, als sich dieser aber vorstellte, sodaß er erfuhr, er wäre der Kapitän des im Hafen ankernden ›Amor‹, war jedes Bedenken bei ihm verschwunden.

»Gut, ich vertraue Ihnen das Tier an, ich weiß, daß die englischen Sportsleute oft den besten Jockeys nichts nachgeben. Aber ich bitte Sie, strengen Sie es nicht zu sehr an!«

Der Hengst wurde gesattelt. Harrlington borgte sich ein Paar Sporen und eine schwere Reitpeitsche und stieg auf.

»Ich komme in einigen Stunden an Bord zurück, Williams,« sagte er, während das Pferd unter ihm tänzelte, »vor morgen früh geht die ›Vesta‹ doch nicht in See.«

»Auf keinen Fall,« erwiderte sein Freund.

»Sie können ja Ihre Springübungen hier auf den Wiesen vornehmen,« sagte der Pferdebesitzer, »Hecken und Büsche sind genug darauf.«

»Nein,« lachte Harrlington, »so schnell geht das nicht. Ich muß ihn erst etwas mürbe machen, wenn er auch etwas Schweiß dabei vergießt. Aber ich verspreche Ihnen, bei der Rückkehr wird er mit mir über diesen Zaun setzen. Ich fühle jetzt schon, daß er mir gehorcht.«

Er erkundigte sich noch, wie weit und wohin die Landstraße führe und sprengte dann fort.

Der Hengst fühlte an der leichten Hand, daß ein vorzüglicher Reiter auf seinem Rücken saß, aber er merkte auch, als er zum Galopp genötigt wurde, an dem Schenkeldruck, daß dieser Reiter nichts durchgehen ließ, und nahm schnaubend die vorgeschriebene Gangart an, die bald in Karriere ausartete.

Die Bäume jagten nur so vorüber; obgleich fast Windstille herrschte, flatterte des Rosses Mähne wie vom Sturm gepeitscht, und nicht eher mäßigte sein Herr den schnellen Ritt, als bis er merkte, daß das Pferd seine durch langes Stehen angesammelte Kraft ausgetobt hatte. Dann erst verließ er die breite Fahrstraße und ritt auf die Wiesen, ließ den Hengst erst über kleine Hindernisse setzen, und, als er diese ohne Besinnen nahm, versuchte er es mit größeren.

Wohl zögerte er bei dem ersten, einem hohen Busch, und galoppierte beim zweiten Anlauf um ihn herum, aber sein Reiter jagte ihn so lange hin und her, vor dem Hindernis ihm gütig zuredend und den Hals klopfend, nach Umgehen desselben ihm die Peitsche zu schmecken gebend, daß er doch schließlich, im letzten Augenblick die Sporen bekommend, in großem Bogen über den Busch flog.

Das schaumbedeckte Pferd versuchte nicht wieder, dem Willen seines Herrn zu trotzen, sondern nahm jetzt ohne Zögern jedes ihm begegnende Hindernis, auch ohne Nötigen durch Sporen und Peitsche.

Lord Harrlington bog in einen schmalen Nebenweg ein, von dem er sich hatte erzählen lassen, daß er nach einer Holzbrücke führe, und bald hatte er diese erreicht. Sie überbrückte ein kleines Gewässer.

Ruhig galoppierte der Hengst auf sie zu, sobald er aber in die Nähe der Brücke kam, schnob er ängstlich mit den Nüstern, und ehe es sich Harrlington versah, warf er sich auf den Hinterfüßen herum und jagte zurück, dem Zügel nicht mehr gehorchend. Aber lange konnte das Tier seinen eigenen Willen nicht durchsetzen, die Schenkel des Reiters zwangen es, den ungestümen Lauf zu mäßigen, und als es nur eine Sekunde zögerte, war es schon herumgerissen und sprengte in Karriere der Brücke zu. Kurz vor derselben bedeckte Harrlington dem Tier die Augen mit einem Tuch und dadurch noch mehr erschreckt, stutzte es wohl einen Moment, flog dann aber, von der Peitsche noch getrieben, mit doppelter Schnelligkeit davon.

Als die hölzerne Brücke unter seinen Füßen donnerte, bäumte es sich empor, es schien sich in den Bach stürzen zu wollen, bald aber war es wieder gebändigt, und Harrlington hatte die Freude, es nun nach Belieben über die Brücke lenken zu können, ohne daß es Schwierigkeiten bereitete – der Hengst hatte seine Scheu vor dem unheimlichen Gepolter verloren.

Jetzt lenkte Harrlington vom Wege ab in den Busch, um durch diesen zu jagen und dann das Pferd über den ziemlich breiten Bach setzen zu lassen.

Eben trieb er es zum schnellen Lauf an, um einen Busch zu nehmen, als plötzlich auf der anderen Seite desselben ein Mann aufsprang und sich eiligst in das Dickicht flüchtete, aber nicht nur, um den Fußtritten des Pferdes zu entgehen.

Was Harrlington veranlaßte, sofort sein Tier herumzuwerfen und dem Fliehenden zu folgen, hatte seinen guten Grund – dieser Mann trug den Sträflingsanzug, eben denselben, welchen der Lord vor einigen Tagen kennen gelernt hatte.

Er hätte zwar den Sträfling ebensogut mit dem Revolver niederschießen können, die ausgebrochenen Verbrecher waren vogelfrei, und er tat jedenfalls nur ein gutes Werk damit, aber Harrlington, auf einem edlen Pferde sitzend, wollte ihn lebendig fangen.

Der Mann war durch die Büsche gekrochen, über welche Harrlington jetzt hinwegsetzte, und vor ihm tat sich eine kleine Wiese auf, deren andere Seite von dichtem Unterholz begrenzt war. Erreichte er dieses, so war er vor dem Reiter, so lange er zu Pferd saß, gesichert, und deshalb rannte er so schnell wie möglich über die Wiese hinweg.

Aber es war zu spät, mit wenigen Sätzen hatte ihn das Pferd erreicht, der Sträfling wollte rasch zur Seite biegen, aber schon erhielt er einen Kolbenschlag über den Kopf, der ihn bewußtlos in den Rasen streckte.

Als er nach einigen Minuten wieder zu sich kam, war der Hengst an einen Baum festgebunden, und vor dem entsprungenen Verbrecher stand Harrlington, ihm mit finsterem Gesicht den Revolver vorhaltend.

»Keinen Versuch gemacht, aufzustehen!« herrschte er ihn an.

Der Sträfling blieb regungslos liegen, nur seine Augen rollten mit entsetzlicher Angst umher, als suche er einen Weg zum Entspringen.

»Bist du einer der Sträflinge, die aus dem Steinbruch zu Hughenden ausgebrochen sind?« forschte Harrlington.

»Ja, Herr, ich bitte Sie ...« stotterte er.

»Schweige,« befahl Harrlington, »du würdest vergeblich bitten. Warst du bei dem Ueberfall, den die Sträflinge auf uns machten?«

Er konnte schon in dem Gesicht des Sträflings lesen, daß derselbe nichts davon wußte, und glaubte ihm daher, als er antwortete:

»Nein, Herr, so wahr mir Gott helfe, ich war nicht dabei.«

»Auch nicht bei dem Ueberfall auf die Damen von der ›Vesta‹?« forschte Harrlington weiter.

Er hatte unbedacht gefragt, wie konnte dieser Sträfling etwas von der ›Vesta‹ und ihrer Besatzung wissen.

Aber das Ergebnis dieser Frage war ein überraschendes.

Mit einem Satze stand der Sträfling auf den Beinen, ohne den vorgehaltenen Revolver zu beachten.

»Die amerikanischen Damen sind überfallen?« stieß er hervor.

Aber mit einem Ruck lag er unter Harrlingtons eiserner Faust wieder auf den Knieen, und der Revolver berührte seine Stirn.

»Noch eine solche Bewegung, Bursche, und du bist eine Leiche!« rief der Lord drohend.

Der Sträfling beachtete diese Drohung nicht.

»Die amerikanischen Damen sind überfallen?« wiederholte er. »Sie sind doch nicht getötet?«

In seiner Stimme lag eine solche Angst, daß der Lord aufmerksam wurde.

»Kennst du sie?« fragte er kurz.

»Ich kenne sie nicht, aber ich muß zu ihnen. Leben sie noch, sind sie hier?« stieß der Verbrecher mit heiserer Stimme hervor.

»Was willst du von ihnen?«

»Ich muß zu der Kapitänin, Miß Petersen. Nur sie kann mir helfen.«

»Miß Petersen?« fragte der Lord erstaunt. »Wie steht diese Dame mit dir in Verbindung?«

»O, Herr,« bat der Sträfling, plötzlich in Tränen ausbrechend, »laßt mich laufen, ich bin unschuldig, glaubt es mir. Nur Miß Petersen kann mir helfen.«

»Miß Petersen?« fragte der Lord wieder, immer erstaunter werdend. »Ich verstehe dich nicht, willst du mir ein Märchen erzählen, Bursche?«

Angstvoll wandte der Flüchtling das Gesicht dem Lord zu.

»Ich weiß nicht, ob ich Ihnen trauen darf, ob ich es erzählen darf, damit ich nicht abermals eingesperrt oder gar gemordet werde,« stieß er hervor.

»Vertraue mir! Wenn du die ›Vesta‹ kennst, so hast du auch von dem ›Amor‹ gehört.«

Der Sträfling nickte, die Augen stumm auf den Lord geheftet.

Dieser wurde für den Sträfling eingenommen, er wußte selbst nicht warum, die blauen Augen dieses Mannes waren nicht solche eines Menschen, der ein böses Gewissen hat, nur eine verzehrende Angst sprach aus ihnen.

»Ich bin der Kapitän dieses Schiffes und ein Freund von Miß Petersen,« fuhr er fort.

»Gott sei Dank, daß ich Sie treffe!« rief der Mann und sprang auf, ohne diesmal von Lord Harrlington daran verhindert zu werden. »Erbarmen Sie sich meiner, Sie sind ein edler Mann, ich habe von Ihnen gehört! Glauben Sie mir, ich bin unschuldig verurteilt gewesen. Achtzehn lange Jahre habe ich unschuldig geschmachtet, aber jetzt endlich kenne ich den Mörder, für den ich büßen mußte. Geben Sie mir die Gelegenheit, daß ich ihn entlarven kann.«

»So kennst du wirklich den, für den du unschuldig gelitten hast?« fragte Lord Harrlington.

»Ich kenne ihn, ich weiß bestimmt, daß er der Mörder ist. Aber,« rief der Sträfling verzweifelt, »wie ist es mir möglich, ein Zeugnis gegen ihn abzugeben? Er ist ein mächtiger, reicher Mann, dem es ein leichtes ist, einen Ankläger unschädlich zu machen. Nur Miß Petersen kann mir helfen, ihn zu entlarven. Bringen Sie mich zu ihr, ohne daß ich erkannt werde, ich bitte Sie, edler Herr!«

»Aber was hat nur Miß Petersen damit zu tun?«

Der Sträfling hatte sich hoch aufgerichtet.

»Ihr Vater ist der Mörder!« rief er mit blitzenden Augen.

Entsetzt war der Lord einen Schritt zurückgetreten.

»Mann, Ihr träumt!« brachte er endlich heraus. »Ihr Vater soll der sein, für den ihr bestraft worden seid? Bedenkt, was ihr sprecht!«

»Es ist so, der Vater von Ellen Petersen, die ich als Kind auf meinen Armen getragen habe, Mister Flexan, oder aber, wie er sich früher nannte, Jonathan Hemmings ist der Mörder von Mister Nikkerson.«

Eine Ahnung dämmerte in dem Lord auf:

Mister Flexan war der Stiefvater von Ellen, er haßte sie, verfolgte sie, suchte sie zu töten. Er hatte das alles früher einmal geahnt, seit dem Ueberfall in Konstantinopel aber, wo einer der Räuber eine Photographie Ellens verloren hatte, die nur dem Stiefvater gehört haben konnte, wußte er dies bestimmt, ebenso wie Ellen, die schon längst eine instinktive, unüberwindliche Abneigung gegen den aufgedrungenen Vater gehabt hatte.

Ja, diesen Menschen, diesen Mister Flexan, hielt er wohl eines Mordes fähig.

»Gebt mir die Möglichkeit, zu Miß Petersen zu kommen!« flehte der Sträfling mit emporgehobenen Händen.

»Ihr sollt in Sicherheit gebracht werden,« sagte Harrlington dumpf. »Verlaßt Euch auf mein Wort. Bringe ich Euch auch nicht gleich zu Miß Petersen selbst, so will ich doch dafür sorgen, daß Euch Euer Recht wird.«

»Aber mein Weib», meine Kinder! Sie leiden Not!«

»Es soll für sie gesorgt werden, besser als Ihr es könnt.«

»Meine Frau glaubt, ich bin mit ausgebrochen und dann mit den anderen Sträflingen getötet worden. Sie weiß, daß ich unschuldig bin, und ihr Herz wird vor Kummer brechen.«

»Sie wird von allem benachrichtigt werden. Seid ruhig, Freund! Ich werde Mittel und Wege finden, Euch nicht nur zu retten, sondern Euch auch Genugtuung zu verschaffen.«

»Gott vergelte Ihnen, was Sie an mir getan haben, ich kann es nicht!« rief der Sträfling. Er fiel auf die Kniee und küßte Harrlingtons Hände inbrünstig.

»Noch seid Ihr nicht geborgen,« sagte hastig der Lord, sich nach allen Seiten scheu umsehend. »Versteckt Euch hier in dem Busch. Gegen Abend, wenn es dunkel wird, kommt jemand hierher und bringt Euch Kleidung. Vertraut ihm, er führt Euch auf den ›Amor‹, und von dort aus, wenn wir in See find, werdet Ihr Gelegenheit haben, Miß Petersen zu sprechen. Good bye!«

Der junge Mann schritt nach dem Pferde, schwang sich in den Sattel und jagte über die Brücke zurück, die diesmal der Hengst ohne Sträuben nahm, während der Sträfling sich wieder in den Büschen versteckte.

Beide hatten nicht bemerkt, daß sie während ihres Gesprächs aus einem dichten Gestrüpp ein höhnisch-grinsendes Gesicht beobachtet hatte.

»All right,« murmelte der Mann in den Bart. »Heute abend bei Dunkelheit. Werde ein klein wenig früher kommen.«

Leise, wie er gekommen, entfernte er sich wieder.

Die heftige Erschütterung, welche das weit ausgreifende Pferd auf den Reiter ausübte, störte Lord Harrlingtons Gedankengang nicht.

Unbedingt mußte dieser Mann gerettet werden. Wäre er von der Polizei ergriffen worden, oder hätte er sich selbst gestellt, so konnte gegen den Mister Flexan bei weitem nicht so vorgegangen werden, war dieser wirklich der Mörder von Nikkerson, als wenn er sich in Freiheit befand. Der Sträfling hatte recht, nach allem, was er, Harrlington, über Flexan erfahren, besaß dieser sowohl die Keckheit, als auch die Macht, einen Angeber unschädlich zu machen. Durch Gold kann man ja leider alles erzielen. Hatte der Sträfling dies aber nur gelogen, um sich in Sicherheit zu bringen, so befand er sich im Irrtum. Er sollte auf den ›Amor‹ gebracht werden und dort so lange bleiben, bis Ellen ihr Gutachten abgegeben hätte, ob sie gewillt sei, gegen ihren Vater vorzugehen oder nicht.

Harrlington kannte den rätselhaften Mord des Mister Nikkerson sehr wohl. Dieser Sträfling mußte jener Matrose sein, der damals verhaftet worden war; er hatte ihn zwar gar nicht danach gefragt, aber es konnte nicht anders sein. Wer weiß, wodurch der Mann den Namen des eigentlichen Mörders erfahren hatte – die Folge würde alles lehren.

Jedenfalls aber hielt Harrlington den Stiefvater Ellens einer Mordtat fähig.

Der grübelnde Reiter hätte sein Pferd fast am Stalle vorbeigeritten, wenn dieses nicht selbst durch ein freudiges Wiehern seinen Herrn darauf aufmerksam gemacht hätte. Dieser beachtete kaum die vielen Fragen des Pferdebesitzers, der aus dem Haus gekommen war, ob er mit dem Tier zufrieden sei, ob es gesprungen sei und so weiter, so war sein Kopf mit anderen Sachen beschäftigt.

Erst als der Herr ihn lächelnd daran erinnerte, er wollte doch bei seiner Rückkehr über den Fang springen, er schiene aber, fügte er lächelnd hinzu, nicht viel mit dem Tiere haben anfangen zu können, fiel ihm sein Versprechen ein.

Er lenkte zurück und ließ vor den Augen des erstaunten und zugleich freudigen Besitzers das Pferd über den hohen Fang setzen, stieg dann ab und entfernte sich, ohne fast ein Wort mit dem Herrn zu wechseln oder auf dessen Einladung, ihm für eine halbe Stunde im Hause Gesellschaft zu leisten, gehört zu haben.

Kopfschüttelnd blickte ihm dieser nach und murmelte etwas, das fast wie ›Spleeniger Engländer« klang.

Als Lord Harrlington den ›Amor‹ erreicht hatte, war sein Entschluß gefaßt. Er rief Lord Hastings und Sir Williams zu sich in sein Arbeitszimmer und erzählte ihnen ohne Umschweife sein Abenteuer.

Lord Hastings war viel zu phlegmatisch, um über die Enthüllungen betreffs des Stiefvaters Ellens zu erstaunen, und Williams war schon einigermaßen darüber orientiert. Sein Scharfsinn hatte ihm längst schon verraten, woher alle diese Verfolgungen kamen.

»Mein Plan ist nun folgender,« sagte zum Schluß Lord Harrlington. »Ich begebe mich heute abend nach jener Stelle mit Kleidern, welche ich mir von Ihnen, Lord Hastings, leihen werde, denn der Mann ist sehr groß, und Sie beide, meine Freunde, halten sich hinter mir in meiner Nähe auf, um mir beizustehen, sollte doch ein Verrat im Spiele sein. Wir bringen den Mann an Bord und behalten ihn so lauge hier, bis ich Gelegenheit gehabt habe, mit Miß Petersen über diese Angelegenheit zu sprechen. Ihre Aussage wird dann entscheiden, was wir mit ihm anfangen sollen; aber ich zweifle nach allem Geschehenen nicht daran, daß sie ihn als Werkzeug benutzen wird. Sind Sie damit einverstanden?«

Die Herren sagten mit Freuden zu.

Als Charles in seiner Kabine lag, öffnete sich leise die Tür, und sein Diener Hannes steckte den Kopf herein.

»Sind Sie allein?« fragte er. »Ja, dann möchte ich Sie ergebenst um etwas bitten, Williams.« »Was denn, mein Junge? Sprechen Sie sich nur aus!«

»Vor allen Dingen muß ich Ihnen gestehen,« begann Hannes und nahm ohne weiteres mit überschlagenen Beinen auf dem Sofa Platz, »daß ich Ihre Unterredung vorhin mit Harrlington belauscht habe.«

»Das ist nicht hübsch von Ihnen! Unterlassen Sie das ein anderes Mal!«

»Diese Geschichte ist furchtbar interessant,« fuhr Hannes unbeirrt fort, »und der Donner soll mich rühren, wenn ich nicht bei der Partie bin!«

»Bei welcher Partie?«

»Heute abend, wenn Sie den Sträfling abholen. Nun liegen wir schon zwei Tage in diesem verdammten Nest, ohne Abwechslung, ohne Vergnügen. Die Männer sind hier alle so solid, die Weiber so sittsam, daß es wirklich eine Schande ist. Gestern abend war ich in einem Bierhaus, und als sie mich um elf Uhr an die Luft setzten, habe ich auf der Straße einen Skandal gemacht, daß ich wenigstens zehnmal arretiert worden sein müßte. Denken Sie aber, es hat sich jemand um mich gekümmert? Gott bewahre, nicht ein einziger Konstabler hat sich sehen lassen.«

»Sie sind ein reizender Mensch, aber Sie schweifen zu weit ab. Was wollten Sie eigentlich sagen?«

»Ich muß heute abend unbedingt mit, wenn Harrlington überfallen wird. In jede Tasche stecke ich zwei Revolver, und in den Gürtel ein paar Messer und das Hackebeil.«

»Wenn ich Sie nun aber nicht mitnehme?«

»Dann gehe ich so mit,« war Hannes' entschiedene Antwort.

»Wenn ich Ihnen dann aber kündige?«

»Dann gehe ich an Bord der ›Kalliope‹ zurück.«

»Oho,« lachte Charles, »wer weiß, wo die jetzt schwimmt.« »Im Hafen von Townville, wenn Sie sich gefälligst überzeugen wollen.«

»Hm, dann bleibt mir allerdings nichts anderes übrig, als Sie mitzunehmen. Warten Sie, in zwei Minuten bin ich zurück.«

Charles begab sich zu Lord Harrlington und kam nach kurzer Zeit wieder.

»Well, der Kapitän ist damit einverstanden, daß Sie uns begleiten, aber, meinte er, das Hackebeil sollten Sie lieber nicht mitnehmen, sonst könnten wir morgen unser Fleisch nicht weich klopfen.«

»Famos!« schrie Hannes und war mit einem Satze zur Tür hinaus.

»Ein toller Bengel,« brummte Charles und nahm sein Tagebuch vor. –

Als die Nacht anbrach, schritten vier Männer der Brücke zu, in einfache Anzüge gekleidet, voran Lord Harrlington, der ein großes Paket unter dem Arme trug. Auf der Brücke winkte er zurück, daß seine Freunde stehen bleiben möchten, und schritt selbst weiter. Bald war seine Gestalt in der Dunkelheit verschwunden.

Es vergingen zehn Minuten, er kam nicht wieder, und als auch eine halbe Stunde verstrichen war, ohne daß man von Harrlington etwas sehen, noch hören konnte, wurden die Wartenden unruhig.

»Vielleicht ist er in einen Hinterhalt gefallen,« flüsterte Lord Hastings. »Vielleicht war die ganze Geschichte nur erfunden, um ihn, den Beschützer der Miß Petersen, beiseite zu bringen.

Die gleiche Vermutung hegte auch Williams, und ohne Zögern schritten sie über die Brücke.

Aber ihre Besorgnis war grundlos gewesen, eben trat Lord Harrlington aus dem Busche auf die Straße und sagte:

»Nichts gefunden, entweder ist er erschreckt worden und hat sich tiefer in den Wald zurückgezogen, oder der Bursche hat mich aus irgend einem Grunde belogen.«

»Dachte mir etwas Aehnliches,« brummte Hastings, »es ist alles Schwindel.«

»Wir wollen aber noch einmal zusammen diese Gegend absuchen,« fuhr Harrlington fort, »vielleicht ist er, von den Anstrengungen eines langen Marsches erschöpft, in tiefen Schlaf gefallen.«

Die anderen folgten seiner Aufforderung und suchten eine Stunde sorgfältig die Umgegend ab, aber vergebens, der Sträfling war nicht zu finden.

Endlich gaben sie die Hoffnung auf und traten, verdrießlich über den fruchtlosen Gang, den Rückweg an. Besonders Lord Harrlington war verstimmt, denn er hatte geglaubt, Miß Petersen einen großen Dienst erweisen zu können, wenn er ihr jemand zuführe, der ihr etwas über ihren Stiefvater erzählte.

»Ein Herr wartet bereits seit einer Stunde in Ihrer Kabine,« empfing ihn an Bord des ›Amor‹ John Davids, welcher während der Abwesenheit seiner Freunde an Deck geblieben war.

»Hat er seinen Namen genannt?«

»Nein, er sagt, er wäre ein alter Bekannter von Ihnen. Bis jetzt hat ihm Sir Hendricks Gesellschaft geleistet.«

Lord Harrlington ging in seine Kabine und fand darin einen Herrn auf dem Sofa sitzen, der sich unterdes, wie die auf dem Boden verstreute Asche und das neben ihm stehende Kistchen bewies, mit den Zigarren des Lords beschäftigt hatte.

Harrlington erkannte auf den ersten Blick, daß diese Zigarrenkiste diejenige war, welche er in einem besonderen Schränkchen stehen hatte, weil sie eine sehr gute Qualität enthielt. Hendricks würde sich nie erlaubt haben, sie ohne seine Erlaubnis herauszunehmen; also mußte sich dieser junge Mann, einfach, aber anständig gekleidet, selbst bedient haben.

Harrlington kannte ihn nicht, er erinnerte sich nicht, jemals dieses Gesicht gesehen zu haben.

»Mit wem habe ich die Ehre?« fragte er den Fremden, der von seinem Eintritt fast gar keine Notiz genommen hatte, sondern nach wie vor die blauen Wölkchen zur Decke blies und ihnen sinnend nachsah.

»Nikolas Sharp,« entgegnete der Gefragte ruhig.

»Ah,« rief der Lord überrascht aus, »also endlich habe ich einmal das Vergnügen, Sie zu sehen. In der Tat, es ist lange her, daß wir uns nicht mehr gesprochen haben. Was führt Sie hierher? Hoffentlich haben Sie mir keine Unannehmlichkeiten mitzuteilen! Wir sind in letzter Zeit genügend damit belästigt worden.«

Langsam nahm der Detektiv die Zigarre aus dem Munde.

»Es liegt etwas in Ihrem Ton, das mich vermuten läßt, daß Sie nicht mit mir zufrieden sind,« sagte er. »Darf ich Sie fragen warum? Oder habe ich mich getäuscht?«

»Auf eine offene Frage gehört eine offene Antwort,« entgegnete der Lord höflich, aber kalt, und setzte sich dem Detektiven gegenüber auf einen Stuhl. »Ich bin allerdings nicht zufrieden mit Ihnen. Offengestanden, ich habe mir vielmehr versprochen, als ich Sie engagierte.«

Lächelnd steckte der Detektiv die Zigarre in den Mund und blies eine mächtige Dampfwolke aus.

»Inwiefern nicht?« fragte er dann.

»Ihre Anwesenheit erfahre ich nur dadurch, daß in jeder Stadt, wohin ich auch komme, die von mir für Sie deponierten Geldsummen erhoben sind. Aber sonst kann ich nichts davon bemerken, daß Sie sich viel um Ihre Schutzbefohlenen kümmern. Das erste und das letzte Mal, daß ich Sie gesehen habe, war in Bombay, und dort beschäftigten Sie sich mit einem Matrosen vom ›Blitz‹, der Sie eigentlich gar nichts anging.«

»Well,« sagte der Detektiv trocken. »Ist Miß Petersen nicht mehr auf der ›Vesta‹?«

Der Lord stutzte bei dieser Frage, dann aber sagte er, sich sammelnd:

»Ist sie dort, lebt sie überhaupt noch, so können Sie jedenfalls nichts dafür. Hier in Australien wäre Gelegenheit genug für Sie gewesen, sie zu beschützen. Ihr Leben war unterdes schon zehnmal in Gefahr.«

»Habe ich auch getan,« war die Antwort, »ihretwegen bin ich Tag und Nacht im Busch herumgestrichen, habe nach Pfefferminze riechende Opossums halbroh gegessen und mich wundgeritten.«

»Ich verstehe Sie nicht.«

»Nun, ich war derjenige, welcher Sie, Miß Petersen und die anderen durch den Busch geführt hat, hinter Miß Murray her. Mein Name war Drake, und ich fungierte als Anführer der schwarzen Polizei. Leutnant Atkins ist ein alter Freund von mir und vertraute mir seine Leute an.«

Immer erstaunter hatte Harrlington diesen Worten gelauscht.

»Aber ist dies etwa ein Entschuldigungsgrund?« rief er unwillig. »Wenn Sie die Macht dazu hatten, warum haben Sie denn uns nicht davor bewahrt, daß wir in die Hände der Eingeborenen fielen?«

»Ich hatte bereits vorher Miß Murray, der Tochter des Häuptlings, einen Besuch abgestattet, und sie bat mich, ihr das Spiel nicht zu verderben.«

»Ah so, ich verstehe,« lächelte Lord Harrlington, »aber warum zwangen Sie uns, zweimal durch den Bach zu schwimmen?«

Seine Stimme klang wieder etwas entrüstet.

»War nicht meine Anordnung, sondern die der Schwarzen, der auch ich Folge leisten mußte.«

»Und dann, wenn Sie bei uns in der Nähe waren, wie ich vermute, warum ließen Sie uns, oder, von uns will ich gar nicht sprechen, warum ließen Sie Miß Petersen beinahe des Feuertodes sterben?«

»Bah,« der Detektiv machte eine geringschätzende Bewegung, »über das bißchen Feuer springt ein Kind mit bloßen Füßen, um wieviel mehr Miß Petersen. Das Mädchen hat den Teufel im Leibe.«

»Sie sprechen von Miß Petersen,« unterbrach ihn der Lord ernst.

»Eben die meine ich,« antwortete Sharp gleichmütig. »Hat Ihnen Sir Williams übrigens nicht gesagt, daß er mich öfter, so zum Beispiel in Indien erkannt hat?«

»Nein.«

»So fragen Sie ihn! Seien Sie versichert, ich habe nichts unterlassen, um nicht nur über die Miß Petersen, sondern auch über die anderen Damen zu wachen. Und deswegen komme ich auch jetzt zu Ihnen, nicht gerade um Ihnen eine Gefahr mitzuteilen, aber doch, um Sie zu warnen und Ihnen behilflich zu sein, Miß Petersen einen großen Dienst zu erweisen.«

»Das wäre?« fragte der Lord gespannt.

»Sie haben heute morgen an der Brücke einen Sträfling gesprochen?«

»Allerdings. Woher wissen Sie das?«

Der Detektiv beachtete diese Zwischenfrage nicht.

»Und wollten ihn heute abend an Bord des ›Amor‹ bringen, weil dieser Mann Geheimnisse über Mister Flexan enthüllen kann?«

»Auch das.«

»Ihre Unterhaltung mit dem Sträfling heute morgen ist von einem Manne belauscht worden, der im Dienste dessen steht, dem jener durch sein Geständnis schaden würde,« fuhr der Detektiv fort, »und so ist er eine halbe Stunde früher gekommen als Sie und hat ihn in Ihrem Namen abgeholt, um ihn, wie er sagte, in Sicherheit zu bringen, in Wirklichkeit aber, um ihn unschädlich zu machen.«

Der Lord war erregt aufgesprungen.

»Nicht möglich!« rief er.

»Doch ist es so.« »Soll er getötet werden? Ist er noch in Townville?«

»Er ist noch hier und wird vorläufig gefangen gehalten, denn Townville ist ein ungeeigneter Platz, um jemanden spurlos verschwinden zu lassen.«

»Ist keine Möglichkeit, ihn zu retten?«

Der Detektiv blies nachdenklich eine dichte Rauchwolke vor sich.

»Doch, es wird mir gelingen, ihn zu retten und Ihnen zuzuführen, nur muß ich – –«

Sharp brach plötzlich ab, war mit einem Satze an der Tür und stieß sie schnell auf. Ein klatschender Schlag ward hörbar, als wäre die Türe gegen ein Gesicht geflogen und im nächsten Augenblick brachte der Detektiv Hannes beim Kragen hereingeschleppt.

»Hier setze dich und höre zu!« sagte er zu ihm und drückte ihn auf einen Stuhl. »Belauschen kannst du mich nicht.«

Hannes war so verblüfft, daß er wortlos so sitzen blieb, wie ihn Sharp auf den Stuhl gedrückt hatte, die Beine weit ausgestreckt, den Kopf zur Seite geneigt und die Arme herabhängend. Noch nie hatte ihn eine so kräftige Faust emporgehoben.

»Nur muß ich einige tüchtige Leute auftreiben, und dazu wird mir dieser Schlingel da verhelfen müssen,« fuhr der Detektiv ruhig fort und deutete auf Hannes, der die schmächtige Gestalt des Fremden mit einer Art von Ehrfurcht betrachtete.

Harrlington hatte dem kleinen Intermezzo lächelnd zugeschaut. Wenn er auch von dem sonderbaren Betragen des bekannten, amerikanischen Detektivs nur erst weniges gesehen, so hatte er doch schon genug davon gehört. Er traute diesem Manne jetzt wieder vollkommen.

»Also ich nehme Hannes mit,« fuhr Sharp fort. »Sir Williams wird schon damit einverstanden sein. Wann fahren Sie?«

»Morgen früh,« entgegnete Harrlington.

»Hm, wird wohl nicht gehen!«

»Warum nicht?«

»Weil Sie wahrscheinlich morgen früh verhaftet werden und Ihre Abreise dadurch eine Verzögerung erleidet.«

»Ich, verhaftet?« rief der Lord aus.

»Darüber ist nichts zu wundern. Sie werden jedenfalls von dem, der den Sträfling wirklich irgendwo untergebracht hat, mit dessen Befreiung verdächtigt werden. Doch weiß ich es nicht bestimmt, es ist nur eine Vermutung von mir.«

»Ich glaube nicht daran,« sagte Harrlington; »der Mann, der alle diese Intriguen einfädelt, ist kein gewöhnlicher Mann, und so wird er auch wissen, daß es mir ein leichtes ist, Bürgen zu stellen. Schon die Nennung meines Namens würde genügen, mich auf freien Fuß zu setzen. Meinen Sie nicht auch, Mister Sharp?«

»Sharp, Sharp?« murmelte Hannes vor sich hin, jetzt erst richtig zur Besinnung kommend. »Den Namen kenne ich.«

Plötzlich sprang er vom Stuhl auf den Detektiven zu.

»Alle Wetter, jetzt habe ich es,« rief er. »Sie sind Nick Sharp, der amerikanische Detektiv?«

»Allerdings, kennst du mich?«

»Ei gewiß, ich habe schon oft lange Geschichten über Sie gelesen. Also mit Ihnen soll ich kommen? Da bin ich natürlich einverstanden. Williams brauchen wir gar nicht erst zu fragen; erlaubt er es nicht, so gehe ich eben so mit Ihnen.«

»Ein netter Diener!« lachte Sharp.

»Wie lange brauchen Sie, um den Sträfling – ich weiß noch nicht einmal, wie er heißt,« unterbrach sich der Lord.

»Snatcher.«

»Um diesen Snatcher auf freien Fuß zu setzen, und ihn womöglich unbemerkt an Bord des ›Amor‹ zu schmuggeln?«

»Vor morgen nacht ist es nicht möglich!«

»So lange brauchen Sie auch Hannes?«

»Ja, und wann gehen Sie in See?« fragte der Detektiv.

»Morgen früh, denn die ›Vesta‹ wird dann absegeln.«

»Wohin geht die Reise?«

»Nach Java.«

»Wissen Sie schon den bestimmten Hafen?« fragte Sharp weiter.

»Miß Lind konnte mir nur von Java schreiben.«

»So will ich Ihnen denselben nennen, es ist Batavia,« lächelte der Detektiv.

»Sie sind gut instruiert,« sagte der Lord.

»Allerdings, besser als jeder andere. Sie sehen, ich kümmere mich sehr um das Treiben meiner Pflegebefohlenen, urteilen Sie also nicht wieder so schnell über mich!«

»Entschuldigen Sie, wenn ich Ihnen unrecht getan habe. Aber wie wollen Sie denn Hannes und Snatcher uns nachschicken?«

»Mit irgend einer Reisegelegenheit, das heißt, wenn Sie wirklich schon morgen abfahren, was ich noch sehr bezweifle,« sagte der Detektiv, stand auf und verabschiedete sich kurz von Lord Harrlington.

»Komm mit, Hannes,« fuhr er dann fort, sich an diesen wendend, »du sollst eine wichtige Rolle spielen, über die dann vielleicht auch eine Geschichte geschrieben wird, in der du verherrlicht wirst.«

Hannes war so erfreut, daß er ganz vergaß, sich von dem Detektiven das Duzen zu verbitten. Für diesen Mann hatte er seit seiner Kindheit eine Schwärmerei besessen, er hätte sich von ihm noch viel mehr gefallen lassen.

Als beide draußen standen, hielt ihn Sharp am Arme fest.

»Wo ist die Kabine von Sir Williams?«

»Dort vor der des Kapitäns, am Ausgang.«

»Ist er darin?«

»Ja, er hat Licht brennen.«

»Dann stelle dich einmal dort hinten hin, mein Junge,« flüsterte Sharp, »und rufe ihn. Sobald er bei dir ist, gehst du auf der anderen Seite der Bordwand entlang und entwischst nach oben. Hast du mich verstanden?«

Hannes war schon an der bezeichneten Stelle.

Das Zwischendeck des ›Amor‹, ebenso wie die Kajütenräume, waren so wie bei allen Dampfern eingerichtet. An den Bordwänden befanden sich die Kabinen der Herren, und den mittelsten Platz nahm eine Kammer ein, in der gewöhnlich die notwendigsten Mundvorräte aufbewahrt wurden, diese Kammer dient zugleich auch als Stütze des Oberdecks. So also entsteht auf jeder Seite der Bordwand ein schmaler Gang, welcher bei einer Treppe endet, die nach oben führt.

Hannes war also nach hinten geschlüpft, von der Treppe am weitesten entfernt, und in der nächsten Minute konnte der im Schatten der Treppe stehende Detektiv ihn rufen hören:

»Williams, Williams! Schnell hierher, um Gottes willen,« schrie er, »machen Sie schnell!«

Neben Sharp wurde eine Thür aufgerissen, und der Gerufene stürzte heraus, lauschte, woher die Jammertöne kamen, und sprang dann nach hinten.

Sofort schlüpfte der Detektiv in die offene Kabine, kam aber gleich wieder heraus und hörte noch, als er die Treppe emporsprang, wie Williams ärgerlich rief:

»Was ist denn los, Hannes? Was rennen Sie denn fort? Du willst mich wohl zum Narren haben, du – du – Sie verfluchter Junge, Sie? –.–«

Des Detektiven Vermutung schien sich nicht bestätigen zu wollen. Lord Harrlington hatte auch nicht recht daran geglaubt, war aber doch froh, als er am anderen Morgen den Befehl gab, die Anker zu lichten.

Die ›Vesta‹ wurde bereits durch einen kleinen Dampfer aus dem Hafen geschleppt, sie hatte fast schon die Ausfahrt erreicht, während die englischen Herren, deren Mützenbänder lustig im Winde flatterten, um das Gangspill herum marschierten, mit dem die Anker aufgewunden werden. Sie waren jetzt Matrosen, keine Gentlemen mehr, und da sie den wirklichen Seeleuten nichts nachgeben wollten, so scholl auch von ihren Lippen ein fröhlicher Shandy, d. h. einer jener englischen Gesänge, mit denen die Matrosen ihre Arbeit taktmäßig begleiten, das Einraffen der Segel, das Ziehen der Taue, das Aufhissen der Anker, kurz alle Arbeit, bei der ein gleichzeitiges Zusammenwirken der Kräfte nötig ist.

Harrlington stand am vordersten Mast und leitete die Manöver. Die Anker lagen fast an Deck, der Kapitän bog sich dem Sprechrohre zu, um die Schraube in Bewegung setzen zu lassen, als der Ruf eines seiner Freunde ihn aufmerksam machte. Er blickte nach der Stelle des Quais, nach welcher der Rufende deutete, und eine plötzliche Unruhe bemächtigte sich seiner. Dort stieß eben ein Boot ab, in dem sich acht Mann befanden. An den schwarzen Helmen erkannte er, daß es Konstabler der Hafenpolizei waren, von denen der eine mit einer Flagge heftig nach dem ›Amor‹ winkte, und, als er gesehen zu werden glaubte, ein ›Halt‹ signalisierte.

Hier gab es kein Widerstreben, Harrlington unterließ sein Kommando und erwartete den Hafenbeamten, aber nicht diesen, sondern die ›Vesta‹ beobachtend, welche mit Tauen durch die Schleuse, d. h. durch die Ausfahrt des Hafens geschleift wurde.

»Lord Harrlington, Kapitän des ›Amor‹?« fragte eine Stimme neben ihm.

Das Boot war herangekommen und einer von der Besatzung, anscheinend ein höherer Beamter, hatte sich an Bord begeben.

»Ich bin's. Was steht zu Diensten?« sagte Harrlington, ohne die ›Vesta‹ aus dem Auge zu lassen.

»Im Namen der Königin, Sie sind verhaftet!«

Diese Worte sollten mit möglichster Feierlichkeit gesprochen werden, aber es lag in deren Ton ein solches Gemisch von Zaghaftigkeit und Unsicherheit, daß sich einige der Herren schnell abwandten, um nicht laut herauszulachen, wodurch der Beamte noch verlegener wurde.

»Warum?«

»Sie sind denunziert worden, einen entlaufenen Sträfling an Bord Ihres Schiffes verborgen zu halten,« sagte er mit kläglicher Stimme. »Verzeihen Sie mir, ich tue nur meine Pflicht, wenn ich das Schiff durchsuchen lasse.«

»Wie lange dauert das?«

»Eine Viertelstunde nur.«

»Und dann?«

»Dann müssen wir Sie nach der Hafenpolizei führen. Ich habe den Verhaftsbefehl hier.«

Der Mann zog einen Zettel aus seiner Tasche und hielt ihn dem Lord hin, aber dieser beachtete ihn nicht, sondern war ganz in den Anblick der ›Vesta‹ versunken, die jetzt die Schleuße verließ.

Ein plötzlicher Argwohn bemächtigte sich seiner.

»Wie lange dauert es, ehe ich, wenn ich unschuldig befunden worden bin oder für mich gebürgt worden ist, den Hafen verlassen kann?«

»Vor morgen früh wird dies nicht möglich sein,« war die Antwort.

Morgen früh! Das war's. Es war nur darauf abgesehen, ihn von der ›Vesta‹ zu trennen, und vierundzwanzig Stunden genügten dazu vollkommen.

»An die Wimpel!« kommandierte er.

Er wollte der ›Vesta‹ signalisieren, daß sie umkehren möge, aber im nächsten Augenblicke fiel ihm ein, wie Ellen zu handeln gewöhnt war. Wer weiß, ob sie das Signal beachtet hätte!

»Halt,« rief er, »die Jolle über Bord!«

Hastig riß er ein Blatt Papier aus dem Notizbuch und warf einige Zeilen darauf.

»Williams,« bat er, das Boot war schon im Wasser und die dazu abgeteilten Herren darin, »fahren Sie so schnell als möglich nach der ›Vesta‹ und geben Sie dieses Miß Petersen. Aber schnell, schon beginnt sie, die Segel zu entfalten.«

Beruhigt blickte er dem wie ein Pfeil durch's Wasser schießenden Boote nach, sah, wie es an der ›Vesta‹ anlegte und wie Williams das Zettelchen an einer herabgeworfenen Schlinge befestigte. Fünf Minuten später zog die ›Vesta‹ die Segel wieder ein und warf draußen auf der Rhede, vor dem Hafen Anker aus.

Harrlington atmete erleichtert auf.

»Das Schiff ist durchsucht, wir haben nichts gefunden,« sagte der Beamte, »darf ich bitten, in unser Boot zu steigen?«

»Gern,« antwortete Harrlington lächelnd, »Lord Hastings, Marquis Chaushilm, kommen Sie mit, damit Sie für mich bürgen können!«


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