Robert Kraft
Die Vestalinnen, Band 2
Robert Kraft

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9.

Wahrheit und Dichtung

Ellen blickte starr auf das Billet, welches sie eben an einer Schlinge von dem unten liegenden Boot heraufgezogen hatte.

»Ueber Mister Flexan, meinen Stiefvater?« murmelte sie. »Ein Sträfling und Enthüllungen? Ich danke Ihnen, Sir Williams,« rief sie dann hinab, »ich werde Lord Harrlingtons Aufforderung Folge leisten.«

Sie verständigte sich mit dem Kapitän des Dampfers, welcher die ›Vesta‹ schleppte, ließ das Stahltau abwerfen und die Anker fallen. Die ›Vesta‹ lag draußen vor dem Hafen auf der Rhede, und als die Damen verwundert fragten, warum Ellen ihre Absicht, in See zu gehen, aufgegeben hatte, erklärte sie, Lord Harrlington sei wegen Verdachtes, einen Sträfling befreit zu haben, verhaftet worden.

»Es wäre unrecht,« sagte sie, »wenn wir abfahren würden. Die Herren haben sich unserer bei jeder Gelegenheit angenommen, und jetzt, da es ihnen nicht möglich ist, Townville zu verlassen, solange Lord Harrlingtons Sache nicht geregelt ist, wollen wir einmal galant sein und auf sie warten. Ich hoffe, die Damen sind damit einverstanden.«

Natürlich war dies der Fall.

Noch ehe die ›Vesta‹ am Morgen die Anker gelichtet hatte, war eine Post eingetroffen und hatte für manche der Damen Briefe gebracht. Sie hatten kaum Zeit gehabt, sie flüchtig zu lesen, so rief sie Ellens Bootsmannspfeife an Deck, um an dem Ankerhiven teilzunehmen.

Jetzt begaben sie sich wieder in ihre Kabine, um die empfangenen Briefe noch einmal und mit mehr Muße zu lesen.

Auch Miß Staunton saß im Zwischendeck in ihrer Kabine, deren Einrichtung ebenso wie die der anderen Damen bequem und elegant war. Das Gemach war nicht so klein, wie man sie gewöhnlich auf Schiffen vorfindet, die ›Vesta‹ war ja ein großes Vollschiff und hatte nur die wenige Besatzung und deren notwendige Bedürfnisse zu tragen, sie gestattete ein Auf- und Abwandern ihrer Bewohner, was in den Kabinen anderer Schiffe eine Unmöglichkeit, oder doch ein mit Gefahren verknüpftes Unternehmen ist, denn man stößt sich alle Augenblicke an hervorspringenden Decksbalken, Wandrammen und Klammern.

An der Seite der Bordwand, in welcher das kleine, runde Fenster mit starkem Glase, um den Wasserdruck aufgeregter Wellen aushalten zu können, angebracht war, stand ein bequemes Sofa und neben diesem der Schreibtisch, über welchem die Schiffslampe hing.

Die Lampen, welche auf Schiffen gebraucht werden, sind von ganz eigentümlicher Konstruktion. Eine gewöhnliche Lampe würde bei hoher See, wenn das Schiff stark stampft und schlingert, gar nicht zu verwenden sein, selbst, wenn sie auf dem Tisch festgeschraubt wäre. Durch die Bewegung schlägt die Flamme fortwährend gegen den Zylinder, bringt diesen zum Springen und raucht stark. Würde man sie an einem Draht aufhängen, so erzielte man auch nicht die geringste Ruhe der Lampe, denn sie folgt jetzt zwar nicht mehr der Bewegung des Schiffes, macht aber Pendelschwingungen.

Deshalb hängen die Schiffslampen in zwei Ringen, von denen der eine nach vorn und hinten, der andere nach den Seiten hin beweglich ist, und die Lampe selbst ist an ihrem unteren Teil stark beschwert. Das Schiff mag noch so sehr schlingern, es kann sich ganz auf die Seite legen – die Lampe behält immer eine vertikale Lage, die Flamme schlägt nie an den Zylinder.

Eine ebensolche Vorrichtung besaßen die Betten der ›Vesta‹. Auch sie standen nicht fest, sondern hingen in beweglichen Achsen und folgten so nicht der Bewegung des Schiffes, das Meer mochte noch so sehr wüten und toben, das Schiff mochte noch so schaukeln, die Schläferin wurde nicht geschaukelt, wohl aber mußte sie sich mit auf- und abbewegen.

Der Erfinder dieser Betteinrichtung glaubte damit ein Mittel gegen die Seekrankheit entdeckt zu haben, aber er hatte sich getäuscht. Die Seekrankheit entsteht nicht durch Schlingern, das heißt durch die Hin- und Herbewegung des Schiffes, sondern durch sein Stampfen, das heißt, durch das Hoch- und Niedergehen desselben, welche Bewegung nicht aufgehoben werden kann.

Der Reisende, welcher sich zum ersten Male an Bord eines Passagierdampfers befindet, wird sich anfangs höchlichst wundern, wenn er sich mit der Einrichtung, zum Beispiel eines Salons, beschäftigt. Will er einen Sessel, der ihm im Wege steht, fortrücken, so bemerkt er zu seinem Erstaunen, daß er am Boden festgeschraubt ist, will er das Tintenfaß auf den Tisch näher zu sich heranschieben, so macht er den Versuch ebenfalls vergeblich. Jeder Gegenstand, den er nur sieht, ist befestigt, oder hat doch einen Platz, wo er sich nicht bewegen kann, wie zum Beispiel jeder einzelne Teller, jede Flasche, jedes Glas. Kommt das Schiff auf die hohe See und beginnt zu schlingern, so sieht der Reisende bald ein, wie nötig dies alles ist, und er muß sich erst nach und nach abgewöhnen, einen Gegenstand ohne weiteres aus der Hand auf den Tisch zu legen, will er nicht unzählige Male das Gelächter der seefesten Passagiere erregen.

Der Eßtisch ist vollständig mit großen und kleinen Fächern bedeckt, aus Leisten hergestellt, welche zum Festhalten der Teller, Gläser und so weiter dienen. Trotzdem aber ist man bei den Mahlzeiten immer noch Gefahren ausgesetzt. Man schenkt sich das Glas voll, das Schiff holt nach der Seite über, und das eben noch volle Glas ist fast leer, und die Suppe läuft über den Rand des Tellers.

Es vergeht einige Zeit, ehe man sich daran gewöhnt hat, seinen Hunger gestillt zu haben, ohne die ganze Speisekarte auf seinem Anzug zu zeigen.

Doch wieder zurück zu Miß Stauntons Kabine!

Auch hier waren natürlich alle Vorkehrungen getroffen, um allen diesen Uebelständen möglichst abzuhelfen und der Bewohnerin den Aufenthalt bequem zu machen. Die Einrichtung unterschied sich durch nichts von jenen der anderen Damen, derselbe Schreibtisch, dasselbe Bett und so weiter, nur hatte Hope Staunton ihre Kabine mit eigenem Geschmack weiter dekoriert.

Man glaubte sich beim Eintritt in das Kabinet eines Naturalien- oder Antiquitätenhändlers versetzt.

Das ganze Gemach war mit ausgestopften Tieren verziert, von der Decke herab hing an zwei Stricken ein Krokodil, an den Wänden standen auf Brettchen ausgestopfte Affen, Vögel und so weiter, um einen Baum wand sich eine Schlange, dazwischen waren Lanzen mit gezackten Spitzen, Bogen, Pfeile angebracht, kurz, die Kabine machte nicht den Eindrucks des Zimmers eines jungen Mädchens, sondern eher den eines Museums, und diesen Namen hatte Hopens Kabine wirklich von den Vestalinnen bekommen.

Zwar sammelten auch die anderen Damen Andenken an die fremden Länder, die sie bereisten, aber doch bei weitem nicht mit einer solchen Vorliebe, wie es Hope tat. Von jedem Ausflug, von jedem Spaziergang kam sie mit Raritäten bepackt zurück, und meist mußte sie noch Leute engagieren, welche ihr die gekauften oder gefundenen Sachen an Bord trugen.

Ellen hatte schon einmal gemeint, daß, wenn diese Sammelwut nicht nachließe, die ›Vesta‹ bald mit derartigen Sachen vollgepfropft sein würde und Ballast auswerfen müßte, aber es hatte nichts genutzt. Am Nachmittage desselben Tages kamen unter Hopes Führung zehn keuchende Männer an, die auf ihren Schultern einen versteinerten Gummibaum trugen, welchen Hope im Walde gefunden. Er mußte, da er zu des Mädchens Bedauern nicht in die Kabine ging, im Ballastraum untergebracht werden.

Von all diesen Herrlichkeiten umgeben, lag Hope auf dem Sofa und las halblaut noch einmal den Brief, den sie von einer Freundin aus Amerika bekommen hatte, ab und zu sich durch Bemerkungen unterbrechend.

Sie war, die Tochter eines Plantagenbesitzers, nach New-York in eine Pension gegeben worden, und hier hatten beide Freundschaft geschlossen. Vor einigen Jahren kehrte Emmy Waible nach dem Besitztum ihres Vaters zurück, wahrend Hope in New-York zurückblieb, und sie hatten mit dem festen Vorsatz Abschied genommen, sich häufig zu schreiben. Sie hatten dies auch wirklich getan, nur war die Korrespondenz eine sehr einseitige, denn Hope Staunton, eine sehr faule Briefschreiberin, ließ oft zwei und drei Briefe ankommen, ehe sie ihrer Freundin antwortete, und während dieser Reise hatte sie überhaupt noch keine Zeit gefunden, einen Brief zu schreiben.

Darüber beklagte sich die Freundin.

»›Nicht ein einziges Mal hast Du es der Mühe wert gefunden‹, las Hope, ›mir ein Lebenszeichen von Dir zukommen zu lassen, und doch weißt Du, welche Teilnahme ich für Dein Schicksal hege. Die Sympathie, welche uns in der Pension zusammenführte, beherrscht mich auch jetzt noch vollkommen; ma foi, dieselbe über den Tod erhabene Freundschaft, welche uns mit ehernen Ketten aneinander fesselte, erfüllt auch jetzt noch mein Herz mit glühender Begeisterung, so oft es sich Deiner erinnert, und certainement, kein Tag vergeht, an dem ich nicht mit tränenden Augen Dein Bildnis betrachte.‹

»Na, na,« unterbrach sich Hope, »wir haben uns einigemal tüchtig in den Haaren gelegen.«

Dann fuhr sie im Lesen fort:

»› C'est pour rire, nicht wahr, ma chère, aber mon Dieu, was kann ich für meine zart beanlagte Seele? Weißt Du noch, wie ich schon damals so gern meine Gefühle in Versen aushauchte? Dieselbe Leidenschaft beherrscht mich auch jetzt noch, und ihr Gegenstand bist nun Du, my beautiful Hope.‹

»Ich entsinne mich noch recht gut, wie diese Verse gemacht wurden,« sagte die Leserin zu sich, »die Reime wurden aus einem Gedichtbuch zusammengesucht, und dann ging es los: ›reime dich, oder ich fresse dich.‹ Einmal hatte Emmy allerdings wirklich ein sehr schönes Gedicht gemacht, dann habe ich es aber später einmal irgendwo in einem alten Buch gedruckt gefunden. Und was will sie denn nur mit den französischen Ausdrücken? Im Französischen hatte sie immer die Fünf. Ich war zwar auch nicht viel besser, aber ich prahle doch nicht so mit meinen französischen Kenntnissen, etwas schwatzen kann natürlich jeder davon, der Tag und Nacht von den französischen Gouvernanten gejagt worden ist.«

Dann kamen unzählige Fragen, zu deren Beantwortung Hope ein Buch hätte schreiben müssen, über die englischen Herren, die Vestalinnen, über die Schiffe, die verschiedenen Länder, was sie alles arbeiten müßte, und so weiter und so weiter.

»› O ciel, was seid Ihr doch für glückliche Menschen! Wohin man kommt, wohin man hört, nur von Euch wird gesprochen, in jeder Gesellschaft dreht sich das Gespräch um Euch; die Herren ziehen die Zeitungen hervor, wenn sich ihr Redetalent erschöpft hat, und fragen, ob man schon den neuesten Bericht über Euch gelesen hat. Es ist scandaleus, c'est vrai, wie wir Damen jetzt behandelt werden. Kennst Du George Chalmers, der sich schon in New-York, als er das Kolleg besuchte, immer so um meine Gunst bemühte und drohte, wenn ich auf der Straße seinen Gruß nicht beachtete, Mönch zu werden? Er ist ein entzückender Mensch geworden ...‹

»Das alte Teegesicht,« lachte Hope,.»ich konnte den Kerl mit den wässerigen Augen niemals ausstehen. Er war so eine Art von poetischem Frömmler.«

»› ... auch er, das Ehrenmitglied zahlreicher pietistischer Gesellschaften, ein von Gott begnadeter Ausleger der heiligen Schrift, dessen Geist schon jetzt, losgelöst von dieser erbärmlichen Erde, sich nur mit dem Himmel beschäftigt, auch er schwur neulich bei allem – fi donc, ich kann den Ausdruck nicht wiederholen – für einen Tag auf der ›Vesta‹ würde er seine Seligkeit opfern. Nun, chacun a son goût, ich würde dies zwar nicht tun, nur daran zu denken, ist horrible, aber certainement, es muß himmlisch sein, frei wie der Vogel in der Luft, wie der König der Lüfte die Welt zu durchstiegen, mit eigener Kraft gegen die Elemente zu kämpfen und den furchtbarsten Gefahren kühn in das Auge zu sehen. Ich glaube es Dir gern, wenn Du so oben auf der Stange sitzest und bei aufgehender Sonne ...‹

»Stange, Stange,« murmelte Hope, »wenn ich auf der Stange sitze? Ach so, die meint wahrscheinlich die Raa.«

»›... und bei aufgehender Sonne hinausblickst auf das unendliche Meer, das im Scheine der Morgenröte blutig erglänzt – ach, was für erhabene Gedanken mögen da Dein poesievolles Herz bewegen, wie magst Du sehnsuchtsvoll die Arme ausstrecken nach jener Ferne, wo Himmel und Erde sich mit goldenem Kuß berühren ...‹

»Wenn ich mich nicht an der ›Stange‹ festhalte, dann falle ich ja herunter,« lachte die übermütige Hope.

»›... was sind dagegen jene Stunden gewesen, wenn wir uns nachts zusammen aus dem Fenster lehnten, dem Vollmond unsere Seufzer zusandten und dazu Schokolade aßen?‹

»Ich habe niemals geseufzt,« rief Hope entrüstet, »aber destomehr Schokolade gegessen.«

In diesem Tone ging es noch ein paar Seiten fort, bald ›himmelhoch jauchzend‹, bald ›zum Tode betrübt‹, dem lesenden Mädchen bald ein mutwilliges Lachen, bald einen ärgerlichen Ausruf entlockend, und als der Brief endlich geschlossen hatte mit:

»Deine Dich bis in den Tod treuliebende Freundin

Emmy.«

folgte diesem noch das unvermeidliche:

»P.S. O ciel!

Bald hätte ich vergessen, Grüße an alle die Damen zu bestellen, von denen die meisten ja auch meine Freundinnen gewesen sind. Grüße, bitte, vor allen Dingen Miß Petersen herzlich von mir und unbekannterweise Miß Johanna Lind, welche sich meine Sympathie schon vorher zu erwerben gewußt hat.

D. O.«

Aber nicht genug damit, es folgte noch eine Nachschrift.

»P.P.S. Ma chère Hope, wie steht es mit Deinem kleinen Herzen? Schlägt es noch immer so ruhig, wie in der Pension, wo Du als Männerfeindin galtest? Ein Vögelchen hat mir etwas in die Ohren gezwitschert, was mich aufjauchzen ließ. Ist es wahr, daß Marquis Chaushilm ...? Und mein eigenes? Ach, wie ist es doch so traurig, daß sich auf Herz – Schmerz reimt.«

»Gott sei Dank,« seufzte Hope, »daß der Brief alle ist, es folgt kein P.P.P.S. mehr, aber nur weil kein Platz dazu vorhanden ist, unten nicht, oben nicht, auch an den Rändern – alles ist vollgeschmiert. Emmy ist doch noch ganz genau dasselbe – Gänschen hätte ich beinahe gesagt, geblieben, das es schon früher gewesen ist. Das zwitschernde Vögelchen wird wohl George Chalmers gewesen sein, der fromme Jüngling mit dem Vollmondgesicht. Dann möchte ich ihm die himmelnden Augen auskratzen.«

Sie stand auf und setzte sich an den Schreibtisch.

»Es hilft nichts; ich muß ihr wieder schreiben, wer weiß, ob ich je wieder eine so passende Zeit, wie jetzt, dazu finde. Du lieber Gott, was ist doch das Briefschreiben für ein saures Geschäft! Aber ein Schreiben will ich aufsetzen, das sich gewaschen hat, wie Hannes sagt; ich will der einmal zeigen, was für ein Unterschied ist zwischen einer dummen, albernen Gesellschaftsdame, geschminkt und geputzt, und zwischen einem Seemann – oder einem Seemädchen, wie Hannes mich immer nennt. Herr Gott, will ich es der aber einmal stecken!«

Hope legte sich den Briefbogen zurecht und tauchte die Feder in die Tinte, aber aller Anfang ist schwer und der eines Briefes am allerschwersten.

Sinnend blickte sie in der Kabine umher, zählte die Zähne in dem geöffneten Rachen des Krokodils, die Windungen der Schlange, aber alles half ihr nicht, den Anfang des Briefes zu finden. Da, als sie die Augen wieder auf den Briefbogen zurücklenkte, war doch schon ein Anfang gemacht worden.

»O weh,« rief sie erschreckt, »ein Klecks! Da muß ich einen anderen Bogen ... Aber nein, gerade nicht, Hannes hat mir einmal einen Brief von einem Kameraden gezeigt, auf dem waren mehr Kleckse, als Buchstaben. Das ist seemännisch, sagte er damals, wir sind keine Schreibhelden. Der Klecks bleibt darauf, und wenn er auch noch zwanzig Gesellschafter erhält.«

Sie schaute aus dem Fensterchen, durch welches die goldenen Sonnenstrahlen in die Kabine fielen. Der Hafen von Townville war so freundlich, die Schiffe lagen in träger Ruhe, kein Boot durchschnitt bei dieser heißen Stunde, es war gerade Mittagszeit, das spiegelglatte Wasser, und die Flaggen hingen unbewegt an den Fahnenstangen herunter.

Immer mehr nahm das Gesicht des jungen Mädchens einen lachenden Ausdruck an.

»Jetzt habe ich es,« rief Hope plötzlich, »so wird es gemacht. Das Lügen ist zwar eine Sünde, aber – etwas Flunkern ist erlaubt, sagt Hannes. Emmy kann auch wie gedruckt lügen, und nun will ich ihr einmal etwas vorlügen, daß sie schwarz wird. Gott, was für ein köstlicher Gedanke – ist gar nicht mit Gold zu bezahlen! So, nun eine recht alte Feder genommen und recht derb aufgedrückt, ja nicht etwa, wie gewöhnlich, gekritzelt. Es muß aussehen, als hätte ein alter Seebär den Brief geschrieben.«

Noch einen Blick warf sie hinaus in die sonnige Landschaft, auf die freundlichen Häuser von Townville und begann dann:

»Auf hoher See, den ....

Meine liebe Freundin!

»Ein furchtbarer Sturm tobt schon seit Tagen, und gerade jetzt schlimmer als je, himmelhohe Wellen drohen unser Schiff zu verschlingen, schäumender Gischt spritzt bis an die Spitzen der Masten empor und durchnäßt uns, schwarze Wolken verhüllen die Sonne und machen den Tag zur finsteren Nacht, jeder Augenblick kann für die stolze ›Vesta‹ verderblich werden; ihre Planken zittern unter dem mächtigen Anprall der Wellen. Doch dies Bild möge Dir genügen; die allgewaltige See in ihrer entfesselten Wildheit vermag kein Wort, keine Feder, kein Pinsel zu schildern, um wieviel weniger ich, eine so prosaische, wahrheitsliebende Person, wie Ihr mich immer nanntet.

»Ich bin heute erster Steuermann und komme eben von der Kommandobrücke, wo ich vier schwere Stunden verbracht habe. Schwere? Doch nein, es waren schöne! Wir, Miß Petersen und ich, hatten uns gegenseitig an dem Geländer der Brücke festgebunden, die doppelten Stricke genügten fast nicht, uns vor dem Losreißen zu schützen, mit solch ungeheurer Gewalt stürzten die schäumenden Wogen über uns hinweg, uns fast ertränkend und uns den Boden unter den Füßen raubend. Aber dennoch, wie ist es dort so schön! Es ist ein furchtbar großartiger Gedanke, wenn man sich bewußt ist, daß von der Schärfe des Blickes, von der Kaltblütigkeit und Geistesgegenwart das Leben der ganzen Schiffsbesatzung abhängt, denn ich bin es, die die Ruderkommandos und die Befehle zum Segelmanöver gibt; nur ein falsches Wort von mir, und der Sturm faßt die Segel, die Masten knicken wie Strohhalme, und die stolze ›Vesta‹ ist als ein Wrack dem Wüten des Meeres preisgegeben, geht dem unvermeidlichen Untergang entgegen. Der Kapitän steht nur auf der Brücke, um mein Kommando zu billigen und mir ab und zu einen Wink zu geben.

»Trotzdem ich alle meine Aufmerksamkeit auf die Ferne konzentrierte, um ein nahendes Schiff zu erspähen, welches das unsrige rammen könnte, trotzdem ich fortwährend die Segel und den Kompaß beobachtete, hatte ich doch noch Zeit, mich mit Dir, meine liebe Emmy, zu beschäftigen. Vor zwei Tagen bekam ich Deinen Brief in Townville, und seitdem verfolgt mich Dein Bild Tag und Nacht, im Wachen und im Träumen.

»Kaum bin ich vom zweiten Steuermann, Miß Thomson abgelöst worden, so eile ich in meine Kabine, wechsle meinen triefenden Anzug und setze mich an den Schreibtisch, um Dir, meine angebetete Emmy, zu antworten.«

»O weh,« unterbrach sie sich, »ich komme schon wieder ins Kritzeln. Immer fest aufdrücken, daß die Tinte durchs Papier geht. Bei Hannes' Brief war es auch so.«

Wieder warf sie einen Blick durch das Fensterchen, einen anderen ließ sie über die Gegenstände in der Kabine schweifen und fuhr dann fort:

»Kaum kann ich mich in meinem Sessel halten; mit aller Gewalt muß ich mich gegen den Tisch stemmen, um nicht zu Boden geschleudert zu werden – mit so entsetzlicher Heftigkeit schlingert das Schiff, legt sich bald auf die Seite, daß die Wogen fast die Fenster eindrücken, schießt dann wieder mit kolossaler Geschwindigkeit in die Tiefe, und hängt im nächsten Augenblick hoch oben auf dem Kamme der höchsten Welle. Alle Gegenstände in meiner Kabine hüpfen und springen, als wären sie lebendig –«

»Donnerwetter, schon wieder ein Klecks,« rief sie ärgerlich.

»– selbst das Tintenfaß kann seinen Inhalt nicht mehr halten, mit unwiderstehlicher Gewalt wird die Tinte umhergeschleudert, wie Du hier an den Klecksen erkennen kannst.

»Liebe Emmy, verzeihe mir, wenn ich offen bin. Offenheit ist eine Tugend, die dem Seemann angeboren ist, und ist sie es nicht, so bemächtigt sie sich seiner, sobald er längere Zeit auf der See fährt. Das wilde Meer, der Kampf mit den Elementen entfernt alle Heuchelei und Falschheit aus seinem Herzen, macht es der Lüge unzugänglich, und darum nimm auch mir die Wahrheit nicht übel, wenn ich zu Dir spreche: ›Ich bin nicht mehr die, die ich früher war, meine Ansichten sind andere geworden, während die Deinigen noch ganz dieselben sind, welche in der Pension Dein Herz gefangen hielten.‹

»Du hast recht, wenn du über die entschwundene Jugend klagst. Ach, Jugendzeit, goldene Zeit! Wo bist du hin? So kann wohl ich ausrufen, die ich mir jetzt mein Brot mit harter Arbeit verdienen muß – meine Hände legen davon Zeugnis ab – und die täglich den ungeheuerlichsten Gefahren trotzt, von deren Kommandoruf das Leben aller ihrer Freundinnen abhängt. Aber. Du? Du fliegst noch immer von Vergnügen zu Vergnügen, wie Du mir selbst geschrieben hast, Du tanzest durch das Leben hin, und erwachst Du des Morgens übernächtig und abgespannt, so ist es ganz natürlich, wenn Du nicht heiter, sondern melancholisch gestimmt bist. Und überdies, ich finde es doch etwas übertrieben, wenn Du Dich mir gegenüber als einen Charakter bezeichnest, der durch höheres Alter eine reifere Lebensanschauung besitzt. Du bist jetzt gerade siebzehn Jahre zwei Monate und zwanzig Tage alt, das ist eine Differenz von nur drei Wochen. Ich könnte dies eher von mir behaupten, denn Reisen bringt Erfahrung, wie Du selbst zugeben mußt, und nun gar solche Reisen, wie die unseren. Ein jeder neue Tag bringt mich mehr zur Einsicht, wie läppisch ich bisher mein Leben vertrödelt habe, mit welchen unnützen Sachen ich bisher die Zeit vergeudet habe. Was ist alle Bildung, die man aus Büchern schöpft, gegen die, welche man selbst sammelt! Wirklich, teuerste Freundin, unsere Ansichten sind jetzt so weit von einander entfernt, wie Ost von West, vieles, was Du mir geschrieben, verstehe ich nicht mehr, und das, was mein Inneres leitet, würde Dir unerklärlich bleiben. Was Dir gefällt, bereitet mir keine Freude mehr, und woran ich teilnehme, würde Dich vollständig kalt lassen.

»So widmest Du eine Seite Deines acht Seiten langen Briefes der Beschreibung eines Kissens, welches Du zur Zeit stickst. Du sprichst von Rundstickerei, Plattstickerei, Kreuzstickerei und so weiter, und aus Deiner Anweisung, wie oft man drüber, drunter oder kreuzstechen soll, nehme ich an, Du willst mich auffordern, auch eine solche Arbeit anzufangen.

»Du lieber Himmel, als hätte ich Zeit, mich mit solchen weiblichen Beschäftigungen abzugeben.

»Schon in der Pension habe ich alle diese Handarbeiten bis zum Tode gehaßt, und nicht nur sie, sondern auch das alte Fräulein, welches sie uns lehrte – Du weißt doch noch, wie ich einst der Photographie von Miß Lionard die Augen ausgestochen habe, weil sie mir den ganzen Strumpf wieder aufgetrennt hatte – und jetzt sind mir sogar alle Begriffe und Bezeichnungen derartiger Sachen entfallen. Nein, meine Hände könnten nicht mehr die Strick- oder Sticknadel halten, das Auge würde sich beim Anblick einer Stickerei, wie vom Schmerz gepeinigt, schließen. Dagegen fühle ich eine wunderbare Kraft in meinem Arm, ich könnte gegen die ganze Welt kämpfen, und hoffentlich bietet sich mir noch recht oft Gelegenheit, sie austoben zu lassen. Wie wir die Mädchenhändler mit der Waffe in der Hand gezwungen haben, ihre Opfer herauszugeben, wie wir einen Aufstand in Indien niedergeworfen, Seeräuber gefangen, und Mann gegen Mann mit den Eingeborenen und gegen Buschrähndscher gekämpft haben, so werden wir auch noch weiter das amerikanische Sternenbanner zu Sieg und Ruhm tragen. Jetzt zum Beispiel fahren wir nach dem malayischen Archipel, auf dem bekanntlich schon seit vielen Jahren der unerbittlich geführte Krieg zwischen den Holländern und Atchinesen wütet, gegen deren Fanatismus alle Kriegskunst der Europäer ohnmächtig ist, bis jetzt wenigstens, denn ich bin fest überzeugt, durch unsere Ankunft dort wird die Entscheidung schnell herbeigeführt werden. Mit der furchtbar energischen Ellen an der Spitze treiben wir die ganze Welt zu Paaren, um wieviel mehr die nur mit Pfeil und Bogen bewaffneten Eingeborenen, wenn ihre Pfeile auch vergiftet sind. Im Vertrauen muß ich Dir aber sagen, daß ich allerdings lieber auf der Seite der Atchinesen fechten würde, und auch Hannes –«

Hope strich das Wort Hannes aus.

»– und auch andere sind meiner Ansicht.«

Die Schiffsglocke wurde an Deck geläutet, Hope blickte auf, und ein freudiges Lächeln huschte über ihr Gesicht, es war das schönste Kommando, das ihren Ohren am lieblichsten klang, das Zeichen, daß sich die Damen im Salon zum gemeinschaftlichen Mittagessen versammeln sollten. Ihre Züge nahmen plötzlich einen schalkhaften Ausdruck an, dann aber wurde sie wieder ernst, und ehe sie der Einladung folgte, warf sie noch mit flüchtiger Schrift auf das Papier hin:

»Um Gottes willen, Emmy, die Schiffsglocke gellt in den entsetzlichsten Tönen, sie ruft alles an Deck; der Sturm wütet eben jetzt furchtbar, es muß ein Unglück passiert sein. Wolle es der Himmel, daß ich diesen Brief fortsetzen kann –«

Sie warf lachend die Feder hin und begab sich zum Essen.

Als sie nach einer halben Stunde wieder hereinkam, machte sie ein sehr freundliches Gesicht, sie mußte mit der Kochkunst der beiden Vestalinnen, welche heute die Küche zu besorgen hatten, sehr zufrieden gewesen sein.

»So,« sagte sie und setzte sich wieder an den Schreibtisch, »nun kann es weitergehen, aber nun schnell, damit ich endlich mit dieser elenden Geschichte fertig werde.«

»Gott sei Dank, Emmy, alles ist glücklich abgelaufen! – Eine halbe Stunde mußten wir zwar mit Aufbietung aller Kräfte arbeiten, aber die Gefahr, welche uns Tod und Vernichtung bringen konnte, haben wir doch abgewandt.«

»Jetzt werde ich mich revanchieren für das Stickmuster, mit welchem sie mich gelangweilt hat,« sagte Hope und fuhr fort:

»In der Tat, die Gefahr, welche uns drohte, war nicht gering. Das Gitau, an dem das Bramsegel des Großmastes läuft, hatte sich aus dem Bugring geschoren – wahrscheinlich hatten sich die Scheren gelöst – und waren gegen die Braß des Focksegels geflogen, welches als Sturmsegel stand. Dort hatte es sich verunklart, die Fockbraß spannte sich beim Schlingern stark an, und die Folge war, daß dieses Gitau das Bramsegel des Großmastes herunterriß. Natürlich, wie Du Dir leicht vorstellen kannst, wurde es sofort vom Sturme erfaßt, und es mußte unbedingt geborgen werden, sollte der Großmast, der schon wie ein Rohr hin- und herschwankte, nicht über Bord gehen. Wir alle stürzten uns mit aller Macht auf das Gitau, fünfmal spottete es aller unserer Anstrengung, das entfesselte Segel konnte nicht gebändigt werden, aber beim sechsten Male ließ der Kapitän gleichzeitig aus dem Wind drehen, und wir wurden des wild um sich schlagenden Segels Meister. Aber wir waren aus dem Wind, und Du weißt vielleicht, was das beim Sturm zu bedeuten hat. Der Wind legte sich sofort in den stehenden Außenklüver, und ehe wir noch das Segel befestigt hatten, geschah ein furchtbarer Knall –«

»Das war der Pfropfen meiner Bierflasche,« lachte Hope.

»– und der Außenklüver war zu Atomen zerstäubt, wir aber drehten natürlich von selbst wieder in den Wind – und waren gerettet. Aber diese Arbeit jetzt an Deck! Krampfhaft mußten wir uns festhalten, um nicht hin- und hergeworfen zu werden, und dabei das Wasser, Himmel, wie uns das fort und fort übergoß!

»Doch nun zu etwas anderem. Du batest mich, Dir die Herren zu schildern, welche du schon von New-York aus kennst; wie sie sich an Bord des ›Amor‹ benehmen und wie sie sich uns gegenüber verhalten. Darüber ist nicht viel zu sagen. Es sind alles sehr liebenswürdige Männer, treu wie Gold, auf die man sich im Falle der Not, wie auf Felsen, verlassen kann. Gegen uns Damen sind sie immer zuvorkommend und sehr höflich, Hannes meint zwar manchmal, die Sache wäre etwas brenzlig –«

»Halt, das kann ich nicht schreiben, das Salondämchen würde es anders auslegen und übertreiben.«

Sie strich den letzten Satz so dick aus, daß er unleserlich ward, und schrieb weiter:

»– und sehr höflich. Im ganzen ist unser Verkehr mit ihnen zwar ein freundlicher, aber doch wieder zurückhaltender, und wenn Dir ein Vögelchen gezwitschert hat, ich hätte mit Marquis Chaushilm einen intimeren Umgang, so ist es ein ganz und gar verlogener Vogel gewesen. Ebenso wie Ellen, bin ich gerade diejenige, welche mit den Herren am allerwenigsten verkehrt; wie schon früher, so bin ich auch jetzt noch eine ausgesprochene Männerfeindin. Heiraten? Nie! Meine Pläne sind ganz andere, viel erhabener, als für die Ewigkeit an einen Mann gebunden zu sein, der mich nach Willkür tyrannisieren kann. Mit Ellen rufe ich aus: Was berechtigt die Männer dazu, in der Welt eine herrschende Stellung einzunehmen, und nicht das Weib? Sind wir nicht mit denselben Fähigkeiten ausgestattet? Uebertreffen unsere geistigen Kräfte nicht oft genug die ihrigen, ebenso wie auch häufig die körperlichen, wenn sie mit Mut und Energie gepaart sind? Wir aber wollen der Welt den Beweis geben, daß wir ihnen ebenbürtig sind, wir wollen das Vorurteil brechen, welches über den Frauen hängt, und ich ganz besonders werde nicht eher ruhen, als bis wir von den Männern als ebenbürtig anerkannt werden. Weg mit aller weiblichen Schwäche! Rücksicht, Mitleid und so weiter, das ist alles leeres Geschwätz, es ist nur etwas Eingebildetes. Ich ganz besonders werde der Welt einst noch zeigen, was ein Weib leisten kann. Nach dieser Reise mache ich mein Kapitänsexamen und fahre als selbständiger Kapitän auf Kauffahrteischiffen, oder ich trete als Kadett bei der amerikanischen Marine ein und werde es in kürzester Zeit bis zu den höchsten Offiziersstellen bringen. Meinen Bruder will ich bald eingeholt haben. Du lächelst? Schon in nächster Zeit werde ich vielleicht –«

Die Vesta verlassen und als richtiger Matrose auf ein Segelschiff gehen; wollte Hope zu Papier bringen, aber sie unterließ dies und schrieb:

»– mit meinem Bruder, dem Korvettenkapitän, zusammentreffen – er ist jetzt in China – und mit ihm ernstlich darüber sprechen.«

»Nun muß ich aber schließen,« sagte Hope zu sich, »ich bekomme schon den Schreibkrampf. Es hat sich etwas Wind erhoben, und ich werde einen Ausflug im Segelboot unternehmen, das ist viel lustiger, als hier still zu sitzen. Hannes hat versprochen, mir zu zeigen, wie man ohne Klüversegel mit dem Winde wenden kann, anstatt immer gegen den Wind, ohne dabei umzukippen, und das muß ich noch lernen; gesehen habe ich es bis jetzt noch nie. Will ihm also signalisieren, ob er mitkommt. Schluß!«

»Doch nun lebe wohl, liebe Emmy, ich muß eiligst schließen. Eben hat der Sturm etwas nachgelassen, und ich sehe durch mein Fensterchen einen Fischkutter, der bald dicht an uns vorbeisegeln wird. Ich könnte diesen Brief erst in Java aufgeben, so aber ist mir Gelegenheit geboten, ihn Dir schon jetzt zu übermitteln. Der Kutter fährt dem Festlande zu, jedenfalls sogar nach Townville, ich stecke den Brief also in eine Flasche, verkorke sie gut und werfe sie dem Kutter zu.

»Hoffentlich erreicht die Flasche sein Deck, dann liefern die Fischer den Brief richtig ab, es sind alles ehrliche Männer, die Seeleute; fällt sie aber ins Meer, so muß man es dem Schicksal überlassen, ob sie einmal von jemandem aufgefischt wird. Dann können vielleicht Jahre vergehen, ehe der Brief in Deinen Besitz kommt. Also nochmals, liebe Emmy, lebe herzlich wohl, laß es Dir recht gut gehen und gedenke in Freundschaft

Deiner Dich liebenden Hope Staunton

zur Zeit erster Steuermann.«

»Das ist zuletzt eine schöne Kratzelei geworden,« sagte Hope und schleuderte tief aufatmend den Halter von sich.

Ohne den Brief noch einmal durchzulesen, faltete sie ihn zusammen.

»Ach Gott,« rief sie plötzlich aus. »Emmys Gedicht habe ich ja ganz vergessen, da wollte ich ihr ja noch einen ordentlichen Hieb versetzen. Aber ich wollte ihr auch keine Nachschrift machen, weil wir Frauen immer damit aufgezogen werden. Man sagt, wir könnten keinen Brief ohne Postskriptum schreiben. Fatal, aber es hilft nichts! Dieser Brief soll der letzte sein, der ein solches bekommt. Ich werde es aber auch ganz klein schreiben.«

Fast unleserlich kritzelte sie unten darunter:

»P.S. Apropos, liebe Emmy, dein Gedicht, ›Am Grabe meines Freundes‹ ist wunderschön, fast hätte es mich zu Tränen gerührt, wenn ich nicht dem Weinen abgesagt hätte. Wunderbar ist es, wie oft große Geister einen und denselben Gedanken haben können, dieselben Ideen, dieselben Ansichten, ja, sogar dieselben Worte. Da haben wir in unserer Bibliothek einen alten, schon ganz vergessenen englischen Dichter, sehr geistvoll, aber nicht mehr gelesen, und zufällig habe ich in ihm ein Gedicht gefunden, betitelt, ›Am Grabe meines Hundes‹, und sonderbar, fast Vers für Vers gebraucht er denselben Reim wie du; aber nicht nur das, sondern auch einzelne Worte sind dieselben, Ausdrucksweisen, Bilder und so weiter. Ist es nicht sonderbar? Sollte er schon eine Vorahnung von deinem Gedicht gehabt haben?

»Warte, Emmy,« lachte Hope, »hättest du gewußt, daß ich dein selbstgemachtes Gedicht der Miß Thomson zeigte, die in der englischen Literatur ebenso zu Hause ist, wie ich es in den Liebesbriefen unserer französischen Gouvernante war, du würdest es mir auch nicht zugeschickt haben. Köstlich, wie Emmy dieses Gedicht umgearbeitet hat.«

Sie steckte den Brief in den Umschlag.

»O weh, ich habe ja ganz vergessen, ihre Eltern zu grüßen,« sagte Hope ärgerlich, »was mache ich denn nun? Noch eine Nachschrift; aber wahrhaftig, es soll das letzte Mal sein, in meinem ganzen Leben nie wieder.«

»P.P.S. Grüße deine Eltern herzlichst von mir, auch deine kleine Schwester! Ihr seid ja durch die Zeitung genauer darüber orientiert, was wir treiben, so brauche ich also nicht ausführlich zu schreiben. Und solltest du zufällig einmal Mister George Chalmers sehen, so richte auch an ihn Empfehlungen aus, natürlich nur, triffst du einmal gelegentlich mit ihm zusammen, zu schreiben brauchst du ihm deswegen nicht.«

»Die Sache ist brenzlig, würde Hannes sagen,« meinte Hope, als sie den Brief schloß. »Gott, was sind das doch für Gänschen!«

Sie schrieb die Adresse, klebte eine Briefmarke auf den Brief und rollte ihn zusammen, sodaß es den Anschein bekam, als hätte sie ihn wirklich in eine Flasche gesteckt. Dann begab sie sich an Bord und lieferte ihn einem Bootsführer aus, der in der Nähe der ›Vesta‹ lag.

Darauf ging sie an den Flaggenkasten, schlug in einen Wimpel zwei Knoten und hißte dieses Zeichen bis an die Spitze des Kreuzmastes, dabei den ›Amor‹ beobachtend. Eine Viertelstunde wartete sie ungeduldig, endlich aber war sie davon überzeugt, daß Hannes nicht an Bord des ›Amor‹ war, ließ das Signal herunter und begab sich in den Salon zu ihren Freundinnen.


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