Robert Kraft
Die Vestalinnen, Band 2
Robert Kraft

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35.

In der Klosterruine.

So, wie er ging und stand, war Hannes dem Detektiven gefolgt, ihm ins Boot nachgesprungen und mit ans Land gefahren.

»Aber Nick,« sagte er unterwegs, soweit war seine Vertraulichkeit mit dem Detektiven vorgeschritten, »ich kann doch nicht so mit Ihnen gehen. Ich bin ja voller Teer- und Oelflecken, und aus meinen Aermeln sehen die Ellbogen, als hätten sie Hunger.«

»Laß sie hungern!« meinte Sharp kurz. »Gerade so brauche ich dich, du mußt so aussehen, als kämst du von der Arbeit. Nur die Mütze mußt du abnehmen. Das Band mit dem ›Amor‹ gefällt mir nicht.«

Er nahm die Mütze weg und steckte sie ein.

Sharp schlug einen Seitenweg ein und hielt bald vor dem Laden eines chinesischen Kleidertrödlers. »Jetzt warte hier draußen!« sagte er. »Ich kaufe mir einen Schifferanzug, und eine andere Mütze bringe ich dir auch mit. In fünf Minuten komme ich wieder, du wirst vielleicht noch Gesellschaft bekommen, die dir gefällt.«

Kurz und schnell, wie der Detektiv immer war, so ließ er sich auch jetzt nicht weiter aus, sondern betrat den Laden. Hannes sah, wie er mit dem Chinesen sprach und dann hinter einen Vorhang verschwand, wo er sich wahrscheinlich passende Kleider anprobierte.

Wie Hannes so dastand, die alten abgetragenen Kleider anstarrte und dabei überlegte, was wohl des Detektiven neuestes Unternehmen sein möge, erhielt er einen Schlag auf die Schulter und, herumfahrend, sah er einen blutjungen Menschen vor sich stehen, vielleicht 16 Jahre alt, mit hübschem, frischen, aber sonnverbrannten Gesicht, die Schiffsmütze keck auf dem hellen Lockenkopf, und überhaupt ganz wie ein Seemann gekleidet.

»Kennst du mich denn nicht mehr, Hannes?« lachte der Bursche mit heller Stimme.

Hannes blickte ihn verdutzt an, er konnte sich dieses Gesichtes nicht erinnern.

»Warst du nicht einmal auf der ›Ariadne‹, zwischen New-York und Liverpool fahrend?« fuhr der Frager fort.

»Ja, das wohl,« antwortete Hannes zögernd, »aber das war vor 6 Jahren, und damals mußt du doch noch fast ein Säugling gewesen sein.«

»Nein, so furchtbar klein war ich damals doch nicht,« lachte der Bursche.

»Als was warst du denn drauf, als Küchenjunge oder als Messerputzer?«

»Unsinn, Hannes, ich habe dir doch immer von meinem Onkel Zigarren gestohlen, und du hast mir Schiffchen geschnitzt. Erinnerst du dich nun?«

Der Matrose glaubte seinen Ohren nicht trauen zu dürfen. War es denn möglich?

»Hope,« jubelte er dann auf und fiel dem Burschen um den Hals, »jetzt fällt mir erst ein, der Detektiv sagte ja, du kämst auch mit. Wie hast du denn das fertig gebracht, den mürrischen Detektiven dazu zu bewegen?«

»Sehr einfach,« entgegnete die verkleidete Hope, »Mister Wood sagte einigen Vestalinnen, die er unterwegs traf, daß Miß Nikkerson und Miß Sargent gar nicht nach jener Insel gebracht worden wären, sondern ins Land hineingeschleppt würden. Ellen wollte er gar nicht sprechen, meinte er, deren Eigensinn kenne er schon zur Genüge, und da hat Mister Wood wirklich ganz recht. Auch die anderen Damen wollten seinen Worten keinen Glauben schenken, ich war die einzige, welche sie beachtete, und zwar darum, weil auch du große Stücke auf Mister Wood hältst und auch schon so Großartiges von seiner Schlauheit erzählt hast. Als die Damen also weitergingen, bin ich ihm nachgelaufen, und habe mir näheres erzählen lassen. Sonst ist er ja ein griesgrämiger Geselle gegen Damen, daß ich aber die einzige der Vestalinnen war, die ihm glaubte, das mußte ihn sehr freuen, denn er erlaubte mir sofort, ihn bei seiner Expedition, die er auf eigene Faust hinter den geraubten Mädchen her unternehmen will, zu begleiten.«

»Dein Entschluß war gleich fertig, dich diesem fremden Manne anzuschließen?«

»O nein,« antwortete Hope und errötete tief, »Mister Wood sagte mir, daß du ihn begleiten solltest, und da, nun, Hannes, du weißt schon. Aber sag' mal, Hannes, wie seh' ich denn jetzt aus? Gefalle ich dir?«

»Du siehst aus, wie ein Schiffsjunge von 14 Jahren, der zum ersten Male seine Nase in Salzwasser steckt,« lachte Hannes.

»Oho,« und Hope tat etwas beleidigt, »so schlimm ist es denn doch nicht. Unsereins sieht natürlich immer etwas jünger aus, besonders weil wir keinen Bart haben. Aber warte mal, ich habe eine Kalkpfeife bei mir, wenn ich die in den Mund stecke, werde ich etwas männlicher aussehen.«

Hope brachte einen schwarzen Kalkstummel zum Vorschein und schob ihn in den Mundwinkel, wenn auch nur kalt, zum unendlichen Ergötzen Hannes'.

»Du hast dir doch nicht etwa deshalb dein Haar abgeschnitten?« fragte er.

»Natürlich,« erwiderte Hope, »Mister Wood selbst hat es mir abgeschoren.«

»Das ist aber sehr schade,« sagte Hannes bedauernd, »es waren so schöne Locken.«

»Willst du sie haben? Ich habe sie alle eingesteckt,« und Hope griff in die Tasche und brachte ein ganzes Pack Locken zum Vorschein.

»Du siehst gar nicht mehr so hübsch aus, ohne Locken,« klagte Hannes und nahm der vor ihm Stehenden die Mütze vom Kopf.

»Die wachsen schon wieder, ehe wir heiraten,« tröstete ihn Hope, und Hannes mußte über diese Bemerkung so lachen, daß er bald sein Leid vergessen hatte.

»Also Mister Wood ist eigentlich Detektiv, sagst du, das habe ich noch nicht gewußt,« fuhr die gesprächige Hope fort.

Nun mußte Hannes sie über seinen Freund aufklären und tat dies mit einem Stolze, als sei er der Vertrauensmann des Detektiven, welcher als Nick Sharp auch Hope schon längst bekannt war.

Sie freute sich ungemein an der Seite dieses Mannes einmal auf Abenteuer ausgehen zu dürfen, und noch dazu in Begleitung von Hannes. Wie sollten die Freundinnen staunen, wenn sie mit langer Nase von Kiu-Liang zurückkamen und Hope in Triumph die Geretteten ihnen entgegenbrachte! Bersten würden sie vor Neid.

Der Detektiv mußte nicht gleich einen passenden Anzug finden, oder er maskierte sich vielleicht auch noch, wenigstens ließ er lange auf sich warten, und so schlenderten die beiden Arm in Arm auf und ab, sich flüsternd dabei unterhaltend.

»Du, Hannes,« meinte Hope, »diese Nacht hatte ich einen wunderschönen Traum. Wir beide gingen in einem Walde spazieren, und plötzlich sahen wir in einem hohlen Baumstamm einen großen Kasten stehen. Ich konnte den Deckel nicht heben, als du ihn aber aufschlugst, da war ein furchtbar großer Schatz darin, wenigstens zehntausend Pfund.«

»Was? Zehntausend Pfund Kartoffeln?« scherzte Hannes.

»Ach geh, Pfund Sterling in Goldstücken! Wir pfropften uns alle Taschen voll, immer und immer wieder, bis die Kiste leer war, und als wir dann unsere Taschen untersuchten, da war nichts mehr in ihnen.«

»Dann haben wir entweder Löcher in unseren Taschen gehabt, oder das Gold war verhext,« meinte Hannes lachend.

»Ja, wenn es wirklich so gewesen wäre, aber es war ja nur ein Traum, und dieser bedeutet ganz gewiß etwas Gutes. Paß auf, Hannes, wir beide haben noch einmal furchtbares Glück, du ganz besonders, denn du hast ja den Goldschatz gehoben oder doch wenigstens den Deckel.«

»Ach was, Träume sind Schäume, sagen wir im Deutschen. Aber sprich jetzt nicht mehr von dem Träumen, dort kommt der Detektiv zurück, und wenn der deine Traumdeuterei hört, so lacht er uns aus.«

Nick Sharp, als einfacher Matrose gekleidet, nahm nicht weiter Notiz von Hope, er hatte ja ihre Verkleidung arrangiert und sie hierher bestellt, sondern gab den beiden einen Wink und schritt ihnen voraus.

Dann mäßigte er seinen schnellen Gang, ließ die beiden neben sich hergehen und teilte ihnen in flüsterndem Tone mit, was seine nächste Aufgabe sei, was sie dabei zu tun hätten, und bog dann in eine Straße rechts ein, während seine Begleiter geradeaus nach dem Hafen zugingen.

Scha-tou wurde noch immer von Patrouillen durchstreift, welche nach den Vermißten suchten, ebenso wurden die Schiffe noch immer auf Antrag der europäischen Konsulate von chinesischen Beamten visitiert, aber die Vestalinnen selbst waren schon an Bord und beschäftigten sich damit, die Ankerketten und die Takelage zu ordnen. – In einer Viertelstunde waren sie so weit, daß sie absegeln konnten.

Bald hatte Nick Sharp das Haus erreicht, in welchem Lan-Kong-Ching Wein und Bier verschenkte.

Die Vordertür war immer offen, der Detektiv trat in die Stube, in welcher noch einige englische und deutsche Matrosen saßen, deren Gespräch sich nur um die Geraubten und über die immer stärker werdende Unsicherheit in allen Häfen drehte, und bestellte sich ein Glas Wein.

Lan-Kong-Ching warf einen mißtrauischen Blick aus seinen geschlitzten Augen auf den neuen Ankömmling, mehr aus Angewohnheit, als aus einem besonderen Grunde, und brachte ihm das Verlangte.

»Lan-Kong-Ching?« fragte der Detektiv.

Der Chinese blieb vor ihm stehen.

»Ein Brief für Euch,« fuhr Sharp fort und zog einen solchen aus der Brusttasche, »erbrecht ihn nicht hier, aber lest ihn dann schnell, ich habe keine Zeit, wir fahren gleich ab.«

Der Chinese las seine Adresse, als er ihn aber umwandte, konnte er sich nicht genügend beherrschen, um nicht etwas zusammenzufahren – er erblickte das in roten Lack gedrückte Zeichen des Meisters.

Hastig ließ er den Brief in seinem Aermel verschwinden, ging zur Tür hinaus und rief dem Diener zu, ihn auf einige Zeit zu vertreten.

Dieser mußte sich durch irgendwelche Zeichen mit dem Wirte des Hauses verständigen können, ohne ihn selbst zu sehen, denn plötzlich kam er auf den Detektiven zu und winkte diesem, ihm zu folgen. Er führte ihn eine Treppe hinauf, in ebendasselbe Zimmerchen, in welchem einst die Unterredung zwischen dem Holländer und Mister Flexan stattgefunden hatte.

»Wer schickt Euch?« fragte der Chinese, als sich beide Männer gegenüber standen.

»Ich komme von der ›Möwe‹,« antwortete Sharp ausweichend.

»So steht diese im Dienste des Meisters?«

»Natürlich, habt Ihr dies noch nicht erfahren?«

»Wißt Ihr, was in dem Briefe steht?«

»Nein.«

»Ist Euch sonst etwas aufgetragen worden?«

»Allerdings. Ich soll Euch zur Eile antreiben, denn die ›Möwe‹ liegt bereits segelfertig da.«

»Aber was soll ich denn nur dort?« fragte der Chinese unschlüssig.

»Weiß ich auch nicht,« antwortete der Detektiv, »aber vielleicht kann ich Euch etwas auf die Spur bringen. Erinnert Ihr Euch noch, wie der Mann aussah, mit dem van Guden hier vorgestern abend eine Unterredung hatte?«

»Van Guden?« rief der Chinese erschrocken.

»Stellt Euch doch nicht so, als ob Ihr den Piraten nicht kenntet,« meinte Sharp trocken, »er ist ein ebenso guter Freund von Euch, wie von uns. Erinnert Ihr Euch jetzt des Mannes, der den Piraten hier oben sprach?«

»Ja, ich weiß jetzt, wen Ihr meint. Wer war das?«

»Er war ein sehr einflußreicher Mann in unserer Bande, und, damit Ihr es wißt, er ist an Bord der ›Möwe‹ und gab mir den Befehl, Euch zu holen. Dieser Brief wird es bestätigen. Aber jetzt eilt Euch, Mann, wir verbringen ja die schöne Zeit mit unnützem Plaudern. Schnell, sagt Eurem Diener, daß Ihr fortgeht, und folgt mir!«

Nichts in der Welt hätte den schlauen und vorsichtigen Chinesen veranlaßt, sein Haus zu verlassen, um einem ihm völlig fremden Manne zu folgen, aber er mußte dem Meister unbedingt gehorchen, und sofort war er bereit, der Aufforderung Folge zu leisten.

Vorher trat er noch einmal in eine Ecke der Stube, nahm dort ein kleines Blech von der Wand, klopfte mehrmals leise mit der Fingerspitze in die dadurch entstandene Oeffnung der Mauer, jedenfalls die Mündung eines Sprachrohrs, und als bald darauf ebenfalls ein Klopfen von unten herauf ertönte, flüsterte er einige Worte hinein.

»Ich bin bereit,« wandte er sich dann an den Matrosen und ging ihm voran die Treppe hinunter und zur Hoftür hinaus.

Wortlos schritten die beiden Männer durch die dunklen Straßen dem Hafen zu, die Unruhe in Scha-tou hatte sich gelegt, die Vestalinnen, wie auch die englischen Herren hatten gebeten, die Nachforschungen einzustellen, da sie auf eigene Faust die Spur der Geraubten verfolgen wollten.

»Wohin führt Ihr mich?« fragte nach einer Weile der Chinese, als vor ihnen der Wasserspiegel des Hafens auftauchte.

Der Matrose deutete nach einer Treppe.

»Dort liegt ein Boot mit zwei Mann,« antwortete er, »wißt Ihr, wo die »Möwe« liegt?«

Der Chinese lächelte. Obgleich er selbst wenig an den Quai kam, kannte er vielleicht besser als der oberste Hafenbeamte die Lage jedes Schiffes – seine geheimen Agenten benachrichtigten ihn davon.

»Nun, wenn Ihr es wißt, so ist es gut,« meinte der Detektiv, »ich wollte Euch nur sagen, daß Ihr nicht Argwohn zu schöpfen braucht, wenn wir nicht direkt darauf zu steuern. Man könnte Verdacht schöpfen, wenn man bemerkte, daß die »Möwe« noch spät in der Nacht Besuch von einem Chinesen erhält, und jeden solchen Verdacht müssen wir ängstlich zu vermeiden suchen.«

»Welchen Weg wollt Ihr denn einschlagen?«

»Wir fahren etwas weiter nach rechts, dort vorbei, wo die Bark mit den gebrochenen Marsstangen liegt, tuen so, als wollten wir an ihr anlegen, steuern aber hinten um sie herum und fahren direkt nach der »Möwe«. Die Bark deckt uns, daß wir vom Lande aus nicht gesehen werden.«

Der Chinese billigte diese Vorsicht.

An der Treppe, welche beide jetzt erreicht hatten, lag ein Boot mit zwei Ruderern darin, Hannes und Hope, welche hier das von dem Detektiven angeschlossene Boot gefunden hatten.

Sie stiegen ein, Sharp setzte sich an das Steuer, auf die Seitenbank neben ihn der Chinese, und auf sein Kommando stieß das Boot ab und schoß, von dem taktmäßigen Niederschlage der beiden jungen Leute getrieben, durch das Wasser auf die Bark zu.

Nach wenigen Minuten war diese erreicht. Sharp lenkte um das von der Mannschaft verlassene Schiff herum, hatte aber dabei diesem das Boot zu sehr genähert, so daß es mit ihm zusammenzustoßen drohte.

»Setzt frei!« kommandierte Sharp.

Hope und Hannes sprangen auf, ergriffen die in jedem Seeboot liegenden Hakenstangen, setzten die Spitzen an den Schiffsrumpf und stemmten sich dagegen, so daß das Boot sich nicht an den Planken scheuerte, ohne aber im Lauf gehemmt zu werden.

Nur einige Augenblicke hatte dieses Manöver gedauert, dann sanken die Riemen wieder ins Wasser; merkwürdig war es aber, daß das Boot nicht, wie Sharp vorher gesagt hatte, jetzt links nach der »Möwe« abbog, sondern vielmehr rechts, gerade der entgegen gesetzten Richtung zu, ohne daß der Chinese eine Einwendung dagegen gemacht hätte.

Er saß noch immer wie zuerst, die Hände in den Schoß gelegt, nur hatte er sich etwas mehr mit dem Oberkörper zurückgebogen.

Hope und Hannes, welche wußten, daß der Chinese nach der »Möwe« gefahren zu werden glaubte, wunderten sich nicht wenig, daß er so wortlos diesem unerwarteten Manöver zusah. Er mußte doch unbedingt merken, daß das Boot nicht nach der »Möwe«, sondern nach der Spitze einer Landzunge gesteuert wurde.

Aber die Nacht war viel zu dunkel, um die Gesichtszüge des still Dasitzenden erkennen zu können.

Dicht neben dem Hafen erstreckt sich eine schmale Landzunge weit in das Meer hinaus, so eine Art von Vorhafen oder doch eine gesicherte Rhede bildend. Auf ihrer äußersten Spitze erhebt sich die Ruine eines Klosters, in dem einst Franziskaner gewohnt und von hier aus ihre Bekehrungsversuche an den heidnischen Söhnen des Himmels unternommen hatten.

Es waren noch nicht viele Jahre verstrichen, seit die fanatischen Chinesen, durch einige ihnen unerklärliche Ereignisse mißtrauisch gemacht, jenes Kloster bei Nacht erstürmt hatten, um die ihnen verhaßten Fremdlinge, die ihnen ihre Götter nehmen und dafür einen Heiland geben wollten, der auf Erden Schmach und Schande zu erdulden gehabt hatte, zu töten.

Kein einziger der Brüder entkam. Wer sich außerhalb der Mauern sehen ließ, fiel unter den Streichen der krummen Schwerter, und wer diesem Schicksal entgehen wollte, der verfiel dem Flammentode in dem brennenden Gebäude.

Jetzt erhoben sich nur noch schwarze Ruinen, aber die umwohnenden Chinesen flüsterten sich zu, daß das Leben in ihnen noch nicht ausgestorben sei. Einige wollten im Mondschein dunkle Gestalten, in Franziskanerkutten gehüllt, zwischen den Mauern herumwandeln gesehen haben; dann wieder sollten Lichterchen umherhuschen, ein chinesischer Fischer hatte einmal ganz deutlich gesehen, wie die Mönche in Prozession über die Halbinsel gingen, voran der Priester mit dem Kruzifix, hinterher die Brüder mit den Kerzen in den Händen, und selbst den monotonen Chorgesang konnte man hören.

Alle aber waren darüber einig, daß von Zeit zu Zeit, besonders in mondlosen Nächten, wie eine solche bei Ausführung der Freveltat herrschte, aus den Ruinen des Klosters jammervolles Stöhnen und Heulen ertönte, als hätten die Mönche noch einmal die Qualen des Feuertodes auszustehen.

Die wenigen Europäer von Scha-tou wollten die Gebeine der toten Brüder einstmals sammeln und begraben lassen, aber kein Chinese war dazu zu bewegen, diesen Schreckensort zu betreten; auch keine Hand voll Gold hätte ihre Furcht verscheucht, und so ließen die Europäer ihre Absicht fallen. Die meisten von ihnen waren Engländer, also evangelisch, und dachten frei genug, um einzusehen, daß es gleich war, ob die verkohlten Gebeine der Mönche in oder über der Erde ruhten.

Kurz und gut, die ganze Halbinsel, zu der der Detektiv jetzt steuerte, war ein von den Chinesen gemiedener Ort, ihr böses Gewissen verbot ihnen, denselben zu betreten, selbst wenn sie Schätze dort vermutet hätten. Aber daran war gar nicht zu denken. Die Frevler hatten damals im Rausche der Verfolgungswut dafür gesorgt, daß nichts Wertvolles in den Ruinen blieb. Die Kasse, die goldenen und silbernen Pokale, die Altardecken, alles war von ihnen weggeschleppt worden.

Das Boot hielt an einer Stelle an, die jedenfalls als Anlegepunkt von Booten gedient hatte, denn noch waren Pfähle ins Wasser gerammt, und am Lande lag eine Steinplatte, die ein bequemes Aussteigen gestattete.

Die beiden Ruderer sprangen ans Ufer, befestigten das Boot an einem Pfahl und sahen dann mit Erstaunen, auf welch seltsame Weise der Detektiv und der Chinese das Ufer erreichten.

Sharp bückte sich zu dem Chinesen herab, packte ihn bei seinen Kleidern, warf ihn wie einen Sack über die Schultern und sprang dann den anderen nach, als hätte er gar keine Last zu tragen.

»Mein Gott,« rief Hope, jetzt erst die Lage des Chinesen erkennend, »der Mann ist ja an Händen und Füßen gebunden, und einen Knebel hat er auch im Munde! Ich habe aber doch selbst gesehen, wie er allein ins Boot gestiegen ist und auch gar nicht bemerkt, daß Sie ihn unterwegs gebunden hätten.«

»Dazu brauche ich auch nicht lange Zeit,« meinte der Detektiv einfach. »Während Ihr vorhin das Boot von der Bark abstießt, habe ich mich etwas mit ihm beschäftigt. Jetzt laßt uns für eine Viertelstunde allein, Kinder; bleibt entweder im Boote oder promeniert am Strande herum.«

»Dürfen wir gesehen werden?« fragte Hannes.

»Schadet nichts, meinetwegen könnt Ihr auch singen und schreien, je mehr, desto besser. Oder wartet, wenn der Chinese hier zu singen anfängt, dann könnt Ihr ihn begleiten.«

Nach diesen schwer verständlichen Worten schritt der Detektiv, den Chinesen noch immer auf dem Rücken tragend, in die Ruinen hinein.

Als er den Platz erreicht hatte, wo früher wahrscheinlich der Altar gestanden, ließ er den Mann zu Boden gleiten, lehnte ihn an eine Mauer und zerschnitt dann bedächtig die Stricke an Händen und Füßen. Auch den Knebel nahm er aus dem Munde des Gefangenen.

Der Chinese zitterte wie Espenlaub, angstvoll heftete er die kleinen Augen auf den vor ihm Stehenden und konnte in der Dunkelheit eben noch erkennen, wie derselbe die Stricke kunstvoll zusammenflocht, bis ein ziemlich starkes Seil entstanden war.

Dann trat der Detektiv dicht vor den Chinesen, der vor Angst die Augen schloß und sich nicht zu rühren wagte, faßte ihn bei den Haaren und riß ihm mit einem Ruck den Kopf hoch.

Ein Schreckensschrei entfuhr dem Munde des Chinesen, so grob war er noch nie behandelt worden.

»Kennst du den Platz, wo du dich befindest?« begann Sharp in drohendem Tone.

Es erfolgte keine Antwort.

»Soll ich es dir sagen, Bursche? Hier habt ihr Chinesen die Franziskanermönche abgeschlachtet. Du Spitzbube hast den Räubern das gestohlene Gold und Silber abgeschachert, und ich schwöre dir hiermit bei allem, was mir heilig ist, bei den verbrannten Gebeinen, die hier herumliegen, du verläßt diesen Ort nicht lebendig, wenn du mir nicht jede meiner Fragen wahrheitsgetreu beantwortest. Ertappe ich dich mir einmal bei einer Lüge, so bekommst du dieses Tauende zu schmecken, zögerst du mit deinen Antworten, so packe ich dich bei deinem Zopf und schleife dich Ungeheuer über Stock und Stein, bis du gesprächig wirst, und verweigerst du gar eine Antwort, so schneide ich dir den Zopf ab und peitsche dich so lange damit, bis du tot bist. Hast du mich verstanden?«

Entsetzt hatte ihm der Chinese zugehört. Er hoffte, aus dem fürchterlichen Traume zu erwachen, von dem er sich befangen glaubte, aber im nächsten Augenblicke mußte er erkennen, daß alles Wirklichkeit war.

Der Detektiv hatte, als er nicht sofort eine Antwort bekam, den sitzenden Chinesen beim Genick gepackt, ihn vornüber gedrückt und ließ nun drei kräftige Streiche mit dem Seil auf dessen Rücken herabsausen.

»Ja, ja, ich habe Euch verstanden,« heulte der Chinese, und wimmernd hörte er dem Detektiven zu, welcher fortfuhr:

»Laß deine Augen nicht so spähend umherschweifen, ziehe deine Beine nicht an, und spanne deine Muskeln nicht an, als wolltest du dich durch Flucht retten. Laß dir gesagt sein, wenn es auch finster ist, keine deiner Bewegungen entgeht mir. Mache nur einmal den Versuch, nach einer Waffe zu greifen, die du vielleicht bei dir tragen magst, und ich gebe dir eine Lektion, daß du für einige Zeit daran denkst. Verstanden?«

Wieder wollte das Ja nicht gleich erfolgen, aber der Detektiv brauchte nur den Arm nach dem Halse des Chinesen auszustrecken, die Hand mit dem Tau emporzuheben, so schrie jener schon wieder laut auf und bejahte die Frage.

»So ist es recht! Heule nur immer recht laut, desto sicherer sind wir, von deinen abergläubischen Brüdern nicht gestört zu werden. So, nun kann unsere Untersuchung beginnen! Also erstens, von wem sind die Mädchen und der Engländer geraubt worden?«

»Welche Mädchen?«

Diese eigentlich ganz unschuldig klingende, aber mit bebenden Lippen hervorgebrachte Zwischenfrage war noch nicht ganz aus dem Munde des Chinesen heraus, als ihn der Detektiv schon wieder beim Genick hatte und so lange seinen Rücken mit dem Tau bearbeitete, bis das Wehgeschrei nur noch einem heiseren Brüllen glich.

Sharp mußte im Erteilen solcher Lektionen schon große Uebung besitzen, denn er schlug eben so, daß das Tau dem Bestraften die heftigsten Schmerzen bereitete, ohne ihn die Besinnung verlieren zu lassen.

»So, das war die Belohnung für die erste Lüge,« sagte der Detektiv ruhig und ließ den Arm sinken. »Von wem sind die Mädchen und der Engländer geraubt worden?« »Von gedungenen Chinesen,« erfolgte jetzt sogleich wimmernd die Antwort.

»Siehst du, wie schön du antworten kannst! Aber nur keine Umschweife, mein Lieber, sonst gibt es die Knute! Wer hat die Chinesen gedungen?«

»Van Guden!«

Gleichzeitig streckte der Detektiv die Hand nach des Chinesen Hals aus, um ihn abermals zu züchtigen.

»Das glaube ich dir nicht,« sagte er.

»Nein, nein,« schrie der Chinese, »es ist nicht wahr, aber van Guden gab mir den Auftrag, solche für ihn zu suchen.«

»Gut, mit der Antwort bin ich zufrieden. Wen solltest du rauben lassen, den Engländer oder die Damen?«

»Den Engländer.«

»Wohin ist er gekommen?«

»Ich weiß es nicht, wahrhaftig, glaubt es mir,« beteuerte der Chinese, »ich habe van Guden nur für so etwas geeignete Leute besorgt. Wohin diese aber den Engländer bringen sollten, das hat er ihnen selbst gesagt.«

»Ich glaube, daß du die Wahrheit sprichst'; ein Ehrenmann, wie du, lügt überhaupt nicht,« spottete Sharp. »Aber nun, wer hat die beiden Damen rauben lassen?«

»Ein mir Unbekannter.«

»Ich weiß schon, wer es war. Vielleicht der, in dessen Auftrag ich vorhin angeblich zu dir kam?«

»Ja.«

»Schön. Hast du auch ihm die Chinesen besorgt, welche die Tat ausführen sollten?«

»Ja, Herr.«

»Wie viele solltest du rauben lassen?«

»Im Notfall nur eine.«

»Irgend eine Bestimmte?«

»Ja, sie hieß Ellen Petersen. Er gab mir ihre genaue Beschreibung. Wenn die Chinesen bei der Wagenfahrt aber nicht gerade dieser habhaft werden könnten, dann sollten sie sich mit einer anderen begnügen oder auch nur eine von ihnen nehmen.«

»Wieviel bezahlte dir dieser Gentleman für den Liebesdienst?«

»Für jedes Mädchen erhielt ich fünf Pfund, mußte aber davon die Chinesen dingen.«

»Armer Kerl,« bedauerte ihn Sharp, »da hast du wohl nicht einmal viel verdient? Wohin sind nun aber diese beiden, geraubten Mädchen gekommen?«

Der Chinese war der Meinung geworden, dieses Mannes erster Zorn wäre etwas verraucht, weil er mitunter Witze machte, und da an ihn gerade eine sehr heikle Frage gestellt wurde, so zögerte er etwas mit der Antwort, um eine Lüge erfinden zu können.

Aber im Nu hatte sich des Detektiven Hand um den langen Zopf geschlungen, und ehe der Chinese nur hatte schreien können, wurde er schon wie ein Kind an den Haaren in die Höhe gerissen und in der Luft geschüttelt, ohne daß seine Füße den Erdboden berührten.

»Sprich,« donnerte ihn der unerbittliche Sharp an, »weißt du es, wohin sie gekommen sind?«

»Ja, ja,« jammerte der kleine Chinese.

Er wurde wieder zu Boden gelassen.

»Sie sind von einem reichen Chinesen gekauft worden,« gestand er winselnd.

»Sprich nicht so dunkel,« herrschte ihn der Detektiv an. »Vorhin sagtest du, du hättest sie für den Europäer rauben lassen, und jetzt behauptest du, ein Chinese hätte sie gekauft. Denke an deinen Rücken!«

»Es ist so,« beharrte der Chinese, »der Fremde gab mir das Geld, um die Räuber zu dingen, aber der Chinese hatte mir zehnmal soviel versprochen, wenn ich ihm einmal ein schönes, englisches Mädchen verschaffen könnte!«

»Aha, jetzt verstehe ich dich, Gauner! Also du hast den Herrn um seine Beute betrogen?«

Der Chinese nickte stumm. »Wenn er es aber erfährt?«

»Er kann es nicht. Die Räuber sind von mir bestochen, auszusagen, die Mädchen seien ihnen unterwegs mit Gewalt abgenommen worden, nur der Engländer wäre ihnen geblieben.«

»Schön, daß du so offen bist. Wie heißt der Chinese?«

Der Gefragte wollte wieder zögern, schnell aber besann er sich und erwiderte:

»Schao-tschin.«

»Damit ist mir nicht viel geholfen. Was ist er, wo wohnt er, wo hält er die Mädchen verborgen?«

»Er wohnt nicht weit von Scha-tou auf seinem Landsitz.«

»Wie heißt dieser?«

»Ich weiß nicht, er hat keinen Namen mehr.«

»Hat keinen mehr? Was soll das heißen?«

»Er gehörte früher einem Engländer, hatte also damals einen englischen Namen. Wir bezeichnen die Häuser nicht mit Namen.«

»Und wie hieß es damals?«

»Marys Delight – Marienlust.«

Der Detektiv wurde unterbrochen.

»Mister Wood – Sharp – Nick Sharp,« erschollen gleichzeitig die Stimmen von Hope und Hannes aus einem entfernten Teil der Ruine, »schnell, schnell, hierher.«

»Einen Augenblick, mein Bursche,« murmelte Sharp und hatte im Nu Hände und Füße des Chinesen wieder mit Stricken umschlungen, »so, die halten. Sonst bist du im stande und fährst in unserem Boote davon. Langweile dich nicht, ich komme gleich wieder!«


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