Robert Kraft
Die Vestalinnen, Band 2
Robert Kraft

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38.

Der Raub der Schiffe.

»Frei!« rief Lord Harrlington und ließ erschöpft den Arm mit der Waffe sinken. »Mynheer Klas van Guden, ich erinnere Sie an Ihr Wort, als das eines Edelmannes. Erklären Sie sich für besiegt?«

Der Holländer nahm jetzt ebensowenig Notiz von den ankommenden Damen, die schnell über das Vorgefallene aufgeklärt wurden, wie der Lord selbst. Er schlug die Arme über die Brust und starrte den Sieger ingrimmig an.

»Ich habe verloren, Sie haben gesiegt!« knirschte er. »Warum zögern Sie? Stoßen Sie zu!« rief er dann heftig mit plötzlich hervorbrechender Wildheit. »Mein Leben gilt mir nichts mehr.«

»Ich schone Ihr Leben,« entgegnete Harrlington. »Sie haben sich wie ein Ehren- und Edelmann betragen; Sie hatten Ihr Wort gehalten, also ist es auch meine Pflicht, mich als solchen zu erweisen. Geben Sie uns Marquis Chaushilm, lassen Sie uns den ›Amor‹ besteigen und wegfahren, und nie mehr sollen sich unsere Wege kreuzen. Aller Welt werde ich erzählen, wie sich van Guden uns gegenüber betragen hat, und nie werde ich dulden, daß man ihn ungerecht beschuldigt.«

Der Holländer wendete finster den Kopf dem Becken zu, wo er seine Leute und die Dschunken vermutete, aber plötzlich wurden seine Augen starr, sie wollten aus den Höhlen treten; stumm deutete er nach dem Hafen, und als man dieser Richtung folgte, stießen auch alle anderen Rufe des Schreckens aus.

Nur noch zwei Dschunken schaukelten auf dem Wasser, der ›Amor‹ und die anderen sechs Dschunken waren weg und jedenfalls auch alle Chinesen auf ihnen, denn keinen derselben konnte man am Lande bemerken. Sie waren alle so mit dem Ausgange des Zweikampfes beschäftigt gewesen, daß niemand darauf geachtet hatte, wie die Chinesen nicht nur ihre eigenen Dschunken bestiegen, sondern auch die auf dem ›Amor‹ zurückgebliebenen Diener hinterlistig überwältigt hatten und dann durch den Kanal des Hafenbeckens gefahren waren.

Noch hatte man sich nicht von diesem Schrecken erholt, als plötzlich die Leute laut aufkreischten, welche etwas höher standen. Alle sprangen schnell nach der erhöhten Stelle, und da sahen sie, was die Chinesen unterdessen unternommen hatten.

Sie waren um die Insel herumgefahren, hatten dort die ›Vesta‹ vorgefunden oder vielleicht sich absichtlich nach dieser begeben, sie bestiegen, und beschäftigten sich eben damit, Segel zu setzen und die Anker zu lichten und das Schiff mit Stangen vom Lande zu schieben.

In wilder Flucht stürzte alles dahin, voran der Holländer, vor Wut außer sich. Aber selbst er kam zu spät. Fast schien es, als wolle er sich ins Meer stürzen, mit solchem Anlauf rannte er dem Ufer zu, und eben vor dem Abgrund hemmte er seinen Fuß – es war ihm nicht mehr möglich, mit einem kühnen Sprunge die abgestoßene ›Vesta‹ zu erreichen.

In einiger Entfernung sah man den ›Amor‹, aus dessen Schornstein schon eine Rauchwolke aufstieg, hinter ihm her kamen vier Dschunken unter vollen Segeln, und zwei andere lagen vor der ›Vesta‹; sie hatten die Chinesen nach diesem Schiffe gebracht und setzten ebenfalls Segel.

»Nach den Dschunken!« brüllte der Holländer und wandte sich in eiligem Lauf wieder nach rückwärts. »Ihnen nach, diesen verfluchten Hunden, die mich zum Meineidigen machen wollen! Schnell, jede Sekunde ist kostbar!«

Alle, die Engländer, wie die Mädchen befolgten seinen Rat. Wieder eilte alles in wilder Hast nach dem Hafenbecken, im Nu waren sie auf den beiden elenden Fahrzeugen und stießen sie in den Kanal, um draußen auf offenem Meere Segel zu setzen.

Aber was konnten sie mit diesen erbärmlichen Dschunken und bei dem guten Winde gegen die schnellsegelnde ›Vesta‹ und gar gegen den ›Amor‹ machen? Sie verstanden nicht einmal, mit den aus Bast geflochtenen Segeln umzugehen, wie solche auf den Dschunken gebräuchlich sind, sie wußten nicht einmal mit der seltsamen Takelage Bescheid, und ebenso versuchten sie vergebens, die langen Riemen zu gebrauchen – sie hatten keine Uebung in der Handhabung derselben, so oft es ihnen der Holländer auch durch eigenes Beispiel zu zeigen suchte.

Mit Mühe segelten sie um die Insel herum, und Flüche, Verwünschungen und Seufzer wurden laut, manches Mädchens Auge füllte sich mit Tränen der Wehmut, manches der Engländer mit denen der Wut, wie sie den ›Amor‹ und die ›Vesta‹ sich immer weiter entfernen sahen.

Die Chinesen verstanden recht gut, die sorgfältig in stand gehaltene und geordnete Takelage der beiden Schiffe zu bedienen, ebenso waren sie jedenfalls auch damit bekannt, wie sie die Kessel zu feuern hatten, denn der ›Amor‹ dampfte, oder vielleicht zwangen sie die Heizer, die Kessel und die Maschinen zu bedienen.

Die Damen und Herren hatten sich so auf die beiden Dschunken verteilt, wie es ihnen der Augenblick gerade gestattet hatte, nur war darauf einigermaßen gesehen worden, daß beide Fahrzeuge möglichst gleichmäßig belastet worden waren. Also befanden sich auf jeder Dschunke beide Geschlechter gemischt.

Der Holländer war außer sich vor Wut; wenn er auch nicht in Verwünschungen über die eigenmächtige Handlung, über den Verrat seiner Leute ausbrach, so konnte man ihm doch ansehen, welch grenzenloser Zorn in seinem Innern kochte.

Er stand mit geballten Fäusten am Bug, die Zähne so fest auf die Unterlippe gepreßt, daß das Blut daraus hervorrann, und ebenso waren die starr auf die davonsegelnden Schiffe gerichteten Augen mit Blut unterlaufen.

Als ihn Lord Harrlington an der Schulter berührte, um ihm etwas zu sagen, fuhr er heftig herum und rief:

»Halten Sie mich für einen Meineidigen? Glauben Sie, daß dieser Verrat auf mein Anstiften ausgeführt worden ist? Meine Hand soll verdorren, wenn ich sie eher ruhen lasse, als bis alle jene Verräter durch sie gefallen sind! Galt mir mein Leben bis jetzt nichts, nun ist es mir wertvoll geworden.«

»Ich glaube Ihnen,« entgegnete Harrlington, »ich weiß, daß die Piraten gegen Ihren Willen gehandelt haben.«

Er versuchte vergebens, von dem Holländer zu erfahren, ob er nicht einen Rat wüßte, wie man die Räuber fangen könnte, vielleicht durch eine List, oder ob er ihre Schlupfwinkel kenne, nach denen sie sich jetzt begeben würden – van Guden schien taub zu sein, er starrte nur nach den sich immer mehr entfernenden Dschunken und öffnete den Mund, um die Chinesen zu verfluchen und seine Unschuld zu beteuern.

»Dort ist wieder das Schiff, welches uns heute schon den ganzen Tag verfolgt hat und uns erst vor etwa zwei Stunden verloren hat,« rief plötzlich Ellen und deutete auf einen Dampfer, der von Norden aufkam.

Ellen befand sich auf derselben Dschunke mit Harrlington und dem Holländer, und wie gewöhnlich, so zeigte sie gerade jetzt, wo die Aufregung bei den anderen am höchsten war, die größte Ruhe und Besonnenheit.

Es war nur ein kleiner Dampfer, fuhr aber gut. Schnell näherte er sich den beiden Dschunken, und es war zu erwarten, daß er in einer halben Stunde sie eingeholt hatte.

»Haben Sie Signalflaggen an Bord?« fragte Harrlington den Holländer. »Dann können wir ihn zur schleunigen Hilfe herbeirufen.

Van Guden schüttelte stumm den Kopf. Was wußten die Chinesen, die nur von Raub lebten, von diesem Hilfsmittel zivilisierter Nationen?

»Dann schnell den Ball und Wimpel,« rief Ellen, »vielleicht beobachtet er uns.«

Schon saß Williams oben auf einer der zerbrechlichen Raaen, schwenkte hastig ein rotes Tuch hin und her, streckte einen Arm aus und hielt darunter seine Mütze.

Unter den Seeleuten existieren noch sehr einfache Hilfsmittel, mit denen sie einen Wunsch ausdrücken können, und die allen verständlich sind.

Dazu gehören der Ball und die Wimpel.

Je nachdem unter einem im Winde flatternden Wimpel ein Ball links, rechts oder in der Mitte oder über dem Wimpel gehalten wird, entstehen sechs Gruppierungen, die siebente dadurch, daß er an der Spitze erscheint, und jede Stellung hat eine verschiedene Bedeutung, zu deren Ausdruck durch den Semaphor oder durch die Signalflaggen lange Zeit gebraucht werden würde.

So bedeutet zum Beispiel überall, wo nur ein Mast sich emporreckt, der Ball mitten unter dem Wimpel: »Wir brauchen sofort Hilfe,« und kein Schiff darf diesen Notruf unberücksichtigt lassen.

Aber es ist nicht erforderlich, daß man gerade eine Flagge und einen Ball benutzt, der Matrose im verschlagenen Boote streckt einfach den Arm aus und hält die Mütze darunter, und wenn das Verstandenzeichen auf dem Schiffe hochgeht, dann weiß er bestimmt, daß in demselben Augenblicke der Kapitän die Kommandos gibt, vom Kurse abzuweichen und auf das einsame Boot zuzuhalten.

Desselben Mittels bediente sich auch Williams.

Mehrere Male wiederholte er dieses Notsignal, denn die Entfernung des Dampfers war noch eine große. Aber nicht lange dauerte es, so erschien an dessen hinterster Raa ein buntes Läppchen, und wenn man die Farben auch wegen Mangels eines Fernrohres noch nicht erkennen konnte, so wußte doch ein jeder, daß es ein Verstandenzeichen war.

Wirklich verwandelte sich die erst graue Rauchwolke, die aus dem Schornstein stieg, bald in eine gänzlich schwarze, der kleine Dampfer hielt mit aller Kraft auf die Dschunken zu, dann wurden sogar glühende Kohlen herausgeschleudert, und noch waren keine fünfzehn Minuten verstrichen, da lag der Dampfer längsseits einer Dschunke.

»Mister Davids,« rief Harrlington in grenzenlosem Erstaunen. »Sie hier?«

Es war keine Zeit dazu, die Anwesenheit des Engländers auf dem fremden Dampfer zu erklären. Alle ahnten, daß Mister Davids nicht zufällig hierherkam. An Bord des Dampfers waren außer der gewöhnlichen Mannschaft noch alle Matrosen eines Schiffes, welches zur Zeit leck in Scha-tou gelegen hatte; – zusammen mochten es wohl vierzig Mann sein.

In weniger denn einer Minute waren alle Herren und Damen an Bord dieses Dampfers, den Holländer mit inbegriffen, und wieder ging es unter vollem Dampf den fliehenden Schiffen nach.

Aber bald mußte man bemerken, daß man den ›Amor‹ nicht einholen konnte, er dampfte schneller, und mit Wehmut sahen die Herren, wie ihr schmuckes Fahrzeug trotz der schnellsten Fahrt sich weiter und weiter von ihnen entfernte.

Der ›Vesta‹ dagegen näherte man sich schnell. Sie hatte einen anderen Kurs eingeschlagen, sodaß sie jetzt fast mit dem Winde segelte, ihn also hinter sich hatte, und auch die Dschunken änderten ihre Richtung, indem sie sich zerstreuten. Der kleine Dampfer hielt vorläufig nur auf die ›Vesta‹ zu, denn man konnte einstweilen nur sie den Piraten mit Sicherheit abnehmen.

»Haben Sie Waffen an Bord?« fragte Lord Harrlington Mister Davids.

Es waren wirklich solche vorhanden, wenigstens genug, um alle vierzig Matrosen bewaffnen zu können, doch wurden sie jetzt so verteilt, daß die besser schießenden Herren und Damen die Gewehre bekamen, so weit sie ausreichten und die Matrosen mit Entersäbeln und Handspiken ausgerüstet wurden, denn geentert mußte die ›Vesta‹ doch werden. Alle dürsteten nach Rache, kaum konnten sie warten, bis die Planken des Dampfers die ›Vesta‹ berührten, damit sie ihren Zorn über den frechen Raub an den Chinesen kühlen konnten, und derjenige, der vor Verlangen nach dieser Revanche am ganzen Körper zitterte, der wie ein wildes Tier am Deck hin- und herlief, war van Guden.

Auf der ›Vesta‹ selbst war der Freudenjubel, den die Chinesen zuerst gezeigt hatten, als ihnen die Entführung des Damenschiffes gelungen war, verstummt, dagegen herrschte ein unruhiges Hasten und Geschnatter, denn die ungefähr fünfzig Chinesen, die an Deck umherrannten, konnten sich die traurige Lage nicht verhehlen, in die sie durch Ankunft des schnellen Dampfers geraten waren.

Schon war dieser so nahe heran, daß sie die unheilverkündenden Gesichter der Gegner sehen konnten. Aengstlich liefen die Zopfträger hin und her, schnatterten, schrieen und deuteten nach dem Dampfer, versuchten den Wind noch besser abzufangen, aber es half ihnen alles nichts, in wenigen Minuten mußte der Dampfer sie erreicht haben.

Sie bereiteten sich also vor, eine Enterung abzuschlagen, das heißt, sie stellten sich auf die Seite, wo der Dampfer anlegen mußte, und erwarteten mit dem Mute der Verzweiflung die Ankommenden, ohne Aussicht auf Erfolg zu haben.

»Die gefangenen Piraten sind nicht unter ihnen,« sagte Ellen, welche schon kurz erzählt, wie sie die angeblich Schiffbrüchigen überwältigt hatten, »entweder sind die Gebundenen noch gar nicht von ihnen entdeckt worden, oder, was wahrscheinlicher ist, diese schlauen Menschen haben sich nach ihrer Befreiung schnell auf den ›Amor‹ oder auf eine Dschunke begebe, um dem Schicksal dieser, welches sie ahnten, zu entgehen.«

»Feuer!« erklang es da aus Lord Harrlingtons Munde.

Er hatte der flehentlichen Bitte des Holländers, keinen Schuß zu tun, sondern die ›Vesta‹ mit der blanken Waffe zu entern, nicht nachgegeben.

Eine Salve aus Büchsen und Revolvern erkrachte auf dem Dampfer, und gleichzeitig erscholl ein fürchterliches Wehegeheul auf dem anderen Schiffe.

Fast jede Kugel hatte getroffen; wer nicht über Bord ins Wasser gestürzt war, wer nicht mit seinem Blut das Deck der ›Vesta‹ färbte, der lag auf den Knieen und bat wimmernd um Gnade.

Van Guden war der erste, welcher hinübersprang, noch ehe die beiden Schiffe zusammenlagen, und vergebens folgten ihm sofort einige Herren, um ihn an einer Grausamkeit an den noch lebenden Chinesen zu hindern. Ehe sie ihn erreichten, hatte der wütende Holländer sie alle ins Meer hinabgeschleudert, eine Beute der Haifische, die in zahlreichen Scharen das Schiff umschwärmten.

In einigen Minuten war nicht ein einziger Chinese mehr an Deck zu sehen, tot, verwundet oder lebendig – alle mußten sie über Bord wandern.

Die Vestalinnen blieben auf ihrem Schiffe, die Herren dagegen, wie der Holländer, hatten sich schon wieder auf den Dampfer begeben, um die Verfolgung fortzusetzen. Konnten sie auch den ›Amor‹ jetzt nicht einholen, die Besatzung der Dschunken wollten sie doch wenigstens züchtigen.

Um das Schicksal des ›Amor‹ waren sie nach reiflicher Ueberlegung nicht so besonders besorgt. Diese chinesischen Piraten konnten nicht viel mit ihm anfangen, das einzige war, daß sie ihn ausplünderten und dann liegen ließen, das schlimmste, daß sie ihn anbohrten; aber zu ihrem nichtswürdigen Handwerk konnten sie ihn nicht verwenden, sie hätten bald die Kriegsschiffe hinter der bekannten Brigg gehabt.

Dennoch zitterten alle vor Wut, wenn sie an diese verruchten Chinesen dachten, von deren verbrecherischen Händen jetzt ihr schmuckes Fahrzeug bedient wurde. Lieber hätten sie es mit eigenen Kugeln in den Grund geschossen, als daß sie zusehen mußten, wie es sich weiter und weiter entfernte. Und dazu bemerkten sie noch, wie höhnisch sich die auf ihm befindlichen Chinesen benahmen.

Sie standen auf den Raaen oder am Heck und winkten schadenfroh mit Tüchern, als wünschten sie den Besitzern der Brigg ein Lebewohl.

»Laßt sie sich freuen,« tröstete Lord Harrlington. »Für uns ist die Hauptsache, daß wir unseren Freund wieder bei uns haben!«

Zwei andere Dschunken wurden noch genommen, der Holländer hauste wie ein Wütender unter der dicht aneinandergedrängten Besatzung. Er ließ sein Schwert und den Dolch nicht eher ruhen, als bis kein einziger Chinese mehr am Leben war. Sein ganzer Haß schien sich mit einem Male von den Engländern abgelenkt und auf diejenigen geworfen zu haben, welche ihn als Ehrlosen brandmarkten.

Vom ›Amor‹ war nicht mehr viel zu sehen, man konnte noch eben die Mastspitzen über dein Horizont erkennen.

Da tauchten plötzlich neben ihm die Masten eines anderen Schiffes auf, das bedeutend höher als der ›Amor‹ war. Erst glaubte man, man würde dem vermeintlichen Segelschiff begegnen, aber es mußte seinen Kurs geändert haben, denn die Masten wuchsen nicht aus dem Meere empor, sie hielten sich vielmehr in gleicher Höhe mit denen des ›Amor‹, nur daß sie sich diesem genähert hatten.

»Das ist ja rätselhaft!« rief Ellen. »Erst fährt uns dieses Schiff entgegen und wendet sich dann dicht neben dem ›Amor‹ wieder rückwärts, mit diesem gleiche Fahrt haltend.«

»Ich glaube kaum, daß der ›Amor‹ fährt, ebensowenig wie das andere Schiff,« entgegnete Harrlington, die Schiffe oder vielmehr die Masten durch das Fernrohr betrachtend. »Meiner Meinung nach liegen beide still. Wenn die Masten nicht größer werden, so kommt es daher, weil wir nicht ihren Kurs gefahren sind, sondern seitlich hinter den Dschunken her.«

Auch die übrigen waren derselben Meinung, und es wurde einstimmig beschlossen, statt die Dschunken weiter zu verfolgen, sich von dem Treiben dieser beiden Schiffe zu überzeugen. Es war ja leicht möglich, daß jenes fremde Schiff mit den hohen Masten ein Kriegsschiff war, etwa eine hochgetakelte Kreuzerkorvette; und daß diese auf die stattliche Brigg mit der langbezopften Bemannung aufmerksam geworden war und sie näher untersuchte.

Der Dampfer richtete den Steven also nach dem ›Amor‹. Jetzt wurden die Masten länger; aber noch ehe die Rümpfe der beiden Schiffe sichtbar wurden, konnte man sehen, daß sich das fremde Schiff wieder entfernte, und zwar sehr schnell, denn bald verschwand es den Augen der Nachsehenden.

Der ›Amor‹ dagegen blieb liegen – seine Segel waren gerefft.

»Gerade wie damals bei der ›Vesta‹ in der Nähe von Ceylon,« flüsterte Ellen ihrer Freundin Johanna zu. »Diesmal haben wir das geheimnisvolle Schiff aber gesehen. Ich bin begierig, ob es auch diesmal die gleiche Arbeit verrichtet hat.«

Auch unter den Herren entstand die Vermutung, erst im Spaße ausgesprochen, dann aber in Ernst übergehend, ob jenes Fahrzeug nicht das sogenannte Geisterschiff gewesen sein könne, das schon mehrere Male zu Gunsten ihrer beiden Schiffe rettend eingegriffen.

Es war kein Zweifel, der ›Amor‹ lag still, die Segel waren aufgerollt und die Feuer unter den Kesseln ausgelöscht. Leben war an Bord nicht zu bemerken, wenigstens jetzt noch nicht, dazu war die Entfernung zu groß.

Nach einer Viertelstunde lag der Dampfer neben dem ›Amor‹ – das Deck war über und über mit den Leichen der Chinesen bedeckt.

Aber wie sie die toten Körper auch untersuchten – nichts verriet, wodurch sie den Tod gefunden hatten. Weder eine Schuß- oder Stichwunde war an ihnen zu sehen, noch gab irgend etwas Anhalt, daß sie mit einem harten Gegenstand niedergeschlagen worden wären – die Leichen waren vollständig unverletzt.

Auch im Zwischendeck fand man einige Tote, und unter ihnen, zum großen Schmerze aller, auch den treuen Hannibal und die sechs Heizer. Selbst Snatcher lag entseelt in seinem Krankenbett.

»Das rätselhafte Schiff hat uns diesmal einen schlechten Dienst erwiesen,« klagte Lord Harrlington, »es wäre mir lieber gewesen, der ganze ›Amor‹ wäre verloren gewesen, als daß wir hier die Leichen unserer Freunde vorfanden.«

Ein Ausruf der Ueberraschung unterbrach ihn, Johanna hatte ihn ausgestoßen.

»Dieser Mann ist nicht tot,« rief sie und deutete auf einen am Boden liegenden Heizer, »seine Brust hebt und senkt sich, er atmet.«

Alle überzeugten sich von der Wahrheit dieser Behauptung, gleich darauf wurde dasselbe an den anderen Heizern, an Hannibal und Snatcher wahrgenommen, sie wurden an Deck getragen, und schon, als man sie etwas zu reiben begann, kehrte das Leben zurück – sie waren nur bewußtlos gewesen. Ihre erst verwirrt klingenden Antworten wurden bald klarer, aber dennoch konnten sie keine Mitteilung machen, wie alles gekommen war, und auf welche Weise sie betäubt wurden, ohne es zu merken.

Sie wären alle unter Deck gewesen, die Heizer, ja sogar Hannibal, wären gezwungen worden, vor den Feuern zu arbeiten, als plötzlich oben an Deck ein heftiges Laufen und Schreien entstanden wäre, das aber nur eine Minute gewährt hatte. Plötzlich hätten sie, ehe sie sich nur über den Grund dieser Aufregung orientieren konnten, eine übergroße Müdigkeit verspürt, und sie wären wie berauscht zu Boden gesunken, weder ihrer Glieder, noch ihrer Gedanken mächtig.

Alle schüttelten über diese sonderbare Erzählung die Köpfe, man versuchte, auch die an Deck liegenden Chinesen zum Bewußtsein zu bringen, damit man von ihnen etwas erfahren könnte, aber bei diesen waren alle Wiederbelebungsversuche vergebens – sie waren tot, ihre Glieder waren bereits steif und kalt.

Da deutete der scharfsichtige Williams auf die Stirn eines der Toten.

»Schon wieder derselbe rote Punkt, gerade wie bei den anderen,« sagte er.

Man überzeugte sich, daß auf der Stirn oder an den Schläfen eines jeden Toten ein roter Flecken zu sehen war, etwa in der Größe eines Stecknadelknopfes, und schloß daraus, daß dieser mit der Ursache des Todes zusammenhing, aber wie, das konnte niemand ergründen – die Sache war und blieb ein Rätsel.

»Die von uns gefangen gehaltenen Matrosen der »Möwe«, jedenfalls auch Piraten,« meinte Ellen, »sind entweder an Nord dieses helfenden Schiffes genommen, worden, welches überhaupt rechte Vorliebe für dergleichen Gesellen zeigt, oder sie sind auf eine der Dschunken gegangen, in der Meinung, daß diese weniger verfolgt werden würden als der ›Amor‹ und die ›Vesta‹. Was beschließen die Herren jetzt zu tun?« Die Meinung aller war, das beste sei, nach Scha-tou zurückzukehren und die Befreiung der beiden Mädchen zu versuchen, denn jetzt waren sie vollkommen davon überzeugt, daß Mister Wood damals recht gehabt hatte. Konnten sie ihn auf seiner Expedition nicht mehr begleiten, so wollten sie wenigstens in Scha-tou warten, bis sie von ihm und Miß Staunton Nachricht über deren Verlauf bekämen.

Alle fühlten sich recht beschämt, daß sie den Worten des besonnenen Mister Wood nicht geglaubt hatten, und besonders die Damen darüber, daß sie trotz seiner Warnung in die ihnen gestellte Falle gegangen wären, wenn sie nicht ein Zufall davor bewahrt hätte.

Die Gesellschaft trennte sich, die Herren bestiegen den ›Amor‹, nachdem die Leichen der Chinesen über Bord geworfen waren, und nahmen Mister Youngpig mit sich, der trotz aller Bitten nicht auf der ›Vesta‹ bleiben durfte.

Er fügte sich schließlich dem Befehle Ellens mit schlauem Lächeln.

Desgleichen begab sich John Davids an Bord des ›Amor‹, nachdem er mit dem Kapitän des Dampfers gesprochen hatte, und mit ihnen ging van Guden, der in ein finsteres Schweigen gefallen war.

»Wohin wünschen Sie, daß wir Sie bringen sollen?« fragte ihn Lord Harrlington, der mit diesem Manne, dessen Schicksal er kannte, Mitleid empfand.

Stumm deutete der Holländer nach einer Dschunke, die vorhin geentert worden war und jetzt ohne Bemannung und steuerlos umhertrieb. Ohne zu fragen, was er dort wollte, ließ Harrlington den ›Amor‹ dorthin steuern, der Holländer stieg an Bord, und einige Minuten später stieß von der Dschunke ein schwerfälliges, chinesisches Boot ab, das unter den kräftigen Schlägen des ehemaligen Piratenfürsten dem Süden zustrebte.

Van Guden blickte nicht auf, er hatte den Kopf gesenkt und beachtete nicht die Herren, welche ihm nachsahen, wie er dem offenen Meere zufuhr. Keiner konnte nur ahnen, was er vorhatte, sie glaubten, der unglückliche Mensch würde sich selbst das Leben nehmen, was auch nach der Meinung aller das beste für ihn gewesen wäre.

»Nun sagen Sie, Mister Davids!« sagte Lord Harrlington zu diesem, als sich die Aufregung etwas gelegt hatte. »Wie kamen Sie eigentlich an Bord dieses Dampfers? Wollten Sie uns nachfahren? Ich sehe aber, der Dampfer geht nach Scha-tou zurück, also müssen Sie ihn ja extra gemietet haben, um bei dem Zweikampf mit dem Holländer nicht zu fehlen.«

»Ich habe den Dampfer allerdings gechartert,« entgegnete John Davids, »aber nicht um der Einladung des Holländers zu folgen.«

»Nicht? So haben Sie sich gestern abend absichtlich vom ›Amor‹ entfernt, um dem Zweikampf nicht beiwohnen zu müssen?«

»Ja, ich habe es getan.«

»Ich verstehe Sie nicht,« rief Harrlington erstaunt.

»Ich werde es Ihnen erklären,« entgegnete Davids ernst. »Auch ich hielt die Aussage der Chinesen für eine falsche, die ›Vesta‹ sollte in eine Falle gelockt werden. Die Damen wollten dies nicht glauben, Sie und die übrigen Herren hielten sich verpflichtet, durch Ihr Erscheinen auf jener Insel Marquis Chaushilm zu befreien – und es war ganz richtig – aber meine Person war dazu nicht nötig, ich bin der einzige, der keinen adligen Namen trägt, und um die Vertreter solcher Namen war es dem Holländer gerade zu tun. So hielt ich mich für berechtigt, die Herausforderung nicht anzunehmen. Ich mietete den Dampfer und lichtete zu gleicher Zeit mit der ›Vesta‹ die Anker, um ihr in einer eventuellen Gefahr beizustehen. Ich wurde zwar durch einen Zufall von ihr getrennt, kam aber dennoch gerade zur rechten Zeit, um ihr einen großen Dienst erweisen zu können.«

Lord Harrlington antwortete nichts auf diese Auseinandersetzung seines Freundes, er wurde plötzlich finster und zeigte sich während der ganzen Fahrt nach Scha-tou verstimmt.


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