Robert Kraft
Die Vestalinnen, Band 2
Robert Kraft

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32.

Die Beratung.

Es war das zweite Mal, daß Miß Petersen ihren Fuß auf das Deck des ›Amor‹ setzte.

Das erste Mal war ihr Besuch ein unfreiwilliger gewesen, damals, als Hope Staunton über Bord geschleudert und das Rettungsboot verschlagen worden war. Jetzt aber war sie von selbst auf den ›Amor‹ gegangen, die Verhältnisse verlangten eine schnelle Unterredung mit dem Kapitän.

Sie befand sich furchtbar aufgeregt im Salon der Brigg, mit ihr Lord Harrlington, Hastings und John Davids, die Offiziere des ›Amor‹.

Auch Lord Harrlington konnte nur mit Mühe seine Unruhe bezwingen, selbst Hastings hatte sein gewöhnliches Phlegma abgelegt, sprach heftig und nagte, wenn Ellen redete, mit finstergerunzelter Stirn an der Unterlippe.

John Davids war der einzige, welcher wie immer seine Ruhe bewahrte. Er stand halbabgewendet von der Gruppe an einem Tische, hatte die Arme übereinander geschlagen und hörte stillschweigend den Auseinandersetzungen Ellens zu.

Alle anderen Herren arbeiteten mit emsigem Fleiß an Deck oder halfen den chinesischen Kesselschmieden bei der Maschine, denn der Kapitän wollte das Schiff noch vor Tagesanbruch segelfähig haben.

»So erklären Sie wenigstens, warum Sie meine Bitte abschlagen,« rief Ellen, »sonst muß ich dies als eine Beleidigung auffassen. Es ist dies das erste Mal, daß ich Ihre Hilfe in Anspruch nehme, und Sie bringen Entschuldigungen vor, die nicht Stich halten.«

Harrlington durchmaß mit großen Schritten den Salon, er war in großer Verlegenheit.

»Es geht nicht,« sagte er, »Sie müssen das einsehen, Miß Petersen. Wenn Sie erfahren haben, wo die beiden geraubten Damen zu finden sind, so ist uns auch der Aufenthalt von Marquis Chaushilm bekannt geworden, und sein Leben ist verloren, wenn wir uns nicht unverzüglich dorthin begeben, wo er sich befindet. Weiß denn nur niemand einen Rat, wie wir aus dieser heiklen Sache wieder herauskommen?« Die letzten Worte waren von dem Lord in halber Verzweiflung ausgerufen worden.

»Aber woher wissen Sie denn, wo sich Marquis Chaushilm befindet?« fragte Ellen verwundert. »Sie sagten vorhin doch selbst, es hätte Ihnen niemand, so wie uns, den Aufenthalt des Vermißten verraten. Was ist das für eine geheimnisvolle Sache?«

Keiner der Herren antwortete, alle blickten düster vor sich hin.

»Natürlich,« fuhr Ellen fort, »ist es Ihre Pflicht, die Spur des Herzogs zu verfolgen, wie für uns die der Damen. Wüßte ich bestimmt, daß Sie in keinem Irrtum befangen sind, daß Sie wirklich den Herzog befreien könnten, so würde ich Sie mit keinem Worte auffordern, uns zu begleiten. So aber liegt die Sache anders. Mir will es fast scheinen, als ob es nur darauf angelegt sei, uns voneinander zu trennen, gerade jetzt, da wir zusammenhalten sollten. Glauben Sie, daß die Angabe des Chinesen, der seinem Tode entgegensieht, eine falsche war?«

»Nein, er wird die Wahrheit gesagt haben, wir sind davon überzeugt,« entgegnete Hastings, »aber ebenso sicher ist es, daß wir den Aufenthalt des Marquis Chaushilm kennen, und von uns hängt es ab, ihn zu retten. Verlieren wir nur eine Minute, so ist sein Leben verwirkt, und wir können es nicht ändern, wir müssen ihm zu Hilfe eilen.«

»So sprechen Sie doch, von wem haben Sie es erfahren?« bat wieder Ellen.

»Warum sollen wir es denn verheimlichen,« nahm Davids das Wort, »den Namen des Betreffenden können wir wenigstens nennen.«

»Gut,« sagte Lord Harrlington, »so sollen Sie denn seinen Namen erfahren, Miß Petersen, und Sie werden sehen, in wessen Händen das Schicksal Chaushilms liegt. Klas van Guden ist es gewesen, der sich des Herzogs bemächtigt hat und ihn so lange als Geißel festhält, bis wir seine Bedingungen erfüllt haben.«

Erschrocken war Ellen zusammengefahren.

»Klas van Guden?« rief sie. »Ist das nicht der Holländer, jener unversöhnliche Feind der Engländer, der es geworden, weil sein Vater von einem englischen Tribunal zum Tod am Galgen verurteilt wurde?«

Harrlington nickte stumm.

»Und was verlangt er von Ihnen, dieser schreckliche Mann, der an der Spitze der chinesischen Seeräuber einen unerbittlichen, heimlichen Krieg gegen die Engländer führt?«

»Das können wir Ihnen nicht sagen,« entgegnete Harrlington, »es ist genug, wir glauben, daß wir Chaushilm befreien können, wenn wir dem Willen des Piraten nachgeben. Und wir müssen dies tun. Wir trauen ihm umsomehr, als er uns selbst mitteilte, daß er, wohl den Herzog habe entführen lassen, beim Raube der Damen aber seine Hand nicht im Spiele habe, ja, er schreibt sogar, daß diese wahrscheinlich nach irgend einer Insel gebracht würden, wohin die anderen Vestalinnen alle nachgelockt werden sollten, um sich ihrer zu bemächtigen. Es ist dasselbe, was ich Ihnen schon mitgeteilt habe, wenn ich auch tat, als wäre dies nur eine Vermutung von mir – aber es ist wirklich so, deshalb Miß Petersen, befolgen Sie unseren Rat, fahren Sie nicht allein ab, nehmen Sie ein oder mehrere Schiffe mit, Sie werden sie leicht bekommen.«

»Ich verstehe nicht, wie wir nach dieser Insel gelockt werden sollten, es ist vielmehr anzunehmen, daß die Aussagen des Chinesen absichtlich falsch waren.«

»Nein, durchaus nicht. Dasselbe, was Sie von dem Chinesen schon jetzt erfahren haben, würde Ihnen später auf andere Weise mitgeteilt worden sein, vielleicht wäre nur ein anderer Ort bestimmt worden, wo die ›Vesta‹ leichter zu überwältigen gewesen wäre.«

Ellen sah überlegend vor sich hin.

»Desto besser,« sagte sie dann, »um so größer ist unsere Aussicht, die Damen schnell befreien zu können. Die Räuber sind noch sorglos, wahrscheinlich wissen sie nicht, daß wir schon alles erfahren haben, und es wird uns also leicht sein, ihnen den Raub wieder abzujagen. Nun, nochmals, will der ›Amor‹ uns folgen oder nicht? Ich wiederhole, daß ich fest glaube, Marquis Chaushilm befindet sich eben dort, wo auch die Damen sind.«

»Dies ist nicht der Fall,« versicherte Lord Hastings, »wir glauben den Worten van Gudens vollkommen. So schlimm man auch von ihm sprechen mag, niemand kann ihm nachsagen, daß er jemals sein gegebenes Wort gebrochen oder seine Absichten durch gemeine, verräterische List zu erreichen gesucht habe.«

»Dann gebe ich die Hoffnung auf,« rief Ellen heftig, »glauben Sie nicht, meine Herren, ich sei darum so ärgerlich, weil Sie lieber Ihrem Freunde helfen wollen, als den beiden Mädchen, nein, ich finde das ganz natürlich, es ist sogar Ihre Pflicht, aber es ist doch zu schändlich, daß wir gerade jetzt, da wir einmal zusammenhalten sollten, getrennt werden.«

»Bitte, Miß Petersen,« sagte Lord Harrlington, »nehmen Sie doch wenigstens meinen Rat an und fahren Sie unter Begleitung eines Dampfers, oder überlassen Sie einem solchen überhaupt die Verfolgung, oder auch gehen Sie und alle Damen auf einen Dampfer, nehmen chinesische Soldaten mit und suchen Sie den Piraten zuvorzukommen.«

»Chinesische Soldaten!« wiederholte Ellen ärgerlich. »Was ist mit denen anzufangen?«

»Es sind genug Seeleute in Scha-tou, welche alle gern bereit sind, Ihnen zu folgen und den Piraten den Prozeß zu machen.«

»Nein,« rief Ellen, »ich bereue schon, Sie um Unterstützung gebeten zu haben. In einer halben Stunde ist die ›Vesta‹ zum Segeln bereit, und dann wollen wir doch einmal sehen, ob wir bei diesem Wind die erbärmlichen Dschunken nicht eher erreicht haben, als sie die Insel.

Und wenn sie auch schon in dem Versteck angekommen sind, wir werden nicht eher ruhen, als bis die beiden Mädchen wieder bei uns sind, tot oder lebendig. Steht ihr Leben auf dem Spiele, dann wollen wir auch nicht das unsrige schonen. Leben Sie wohl, meine Herren, wollte Gott, daß wir uns bald wiedersehen möchten! Ich wünsche Ihnen Glück, Ihren verlorenen Freund bald wiederzufinden.«

Sie schritt nach der Tür, Harrlington jedoch, ganz außer sich, trat ihr in den Weg, um sie zurückzuhalten, aber Ellen machte eine Handbewegung, welche den Lord zurückwies.

»Halten Sie mich nicht,« rief sie, »mein Wille ist unumstößlich. Wir segeln in einer halben Stunde ab.«

»Ich werde dafür sorgen, daß Sie begleitet werden,« entgegnete Harrlington. Ellens Gesicht wurde plötzlich finster.

»Tun Sie das nicht,« sagte sie, »ich würde es als eine Beleidigung auffassen. Nichts ist mir verhaßter als eine Bevormundung.«

»Wenn Sie aus Eigensinn auf einem Vorsatz beharren, auch wenn Sie sehen, daß er zu Ihrem Unglück führen kann, so bedürfen Sie allerdings einer Bevormundung, ob Sie wollen oder nicht,« rief Hastings jetzt wirklich entrüstet ihr nach.

»Genug, meine Herren, enden wir dieses unerquickliche Zwiegespräch, besonders, da Sie ausfallend zu werden beginnen! Ich bleibe dabei, noch heute abend segelt die ›Vesta‹ nach Kiu-Liang.«

»Die ›Vesta‹ wird nicht segeln,« rief da dem Mädchen eine befehlende Stimme entgegen, und ein Mann erschien in der Tür, welche eben von Ellen geöffnet worden war.

»Mister Wood,« rief Ellen mehr erstaunt, als ärgerlich über das selbstbewußte Auftreten des Herrn, hinter dem auch Sir Williams sichtbar wurde. »Was in aller Welt veranlaßt Sie, der Sie mir ein völlig Fremder sind, dazu, in solchem Tone meinem Willen entgegenzutreten? Sind Sie auch mit diesen Herren verbündet?«

»Die ›Vesta‹ wird nicht absegeln,« wiederholte der Detektiv, völlig eintretend, »aus dem einfachen Grunde, weil die beiden Damen gar nicht nach Kiu-Liang gebracht worden sind. Die Aussagen des Chinesen waren ihm vorher instruiert, Sie und die ganze Besatzung der ›Vesta‹ sollen in eine Falle gelockt werden.«

Diese Worte waren mit solcher Sicherheit gesprochen, daß sie ihren Eindruck nicht verfehlten. Die Herren blickten sich bestürzt an, und selbst Ellen wurde mit einem Male unschlüssig, dann aber schüttelte sie energisch den Kopf und rief:

»Ich weiß nicht, was Sie dazu treibt, die Angaben des Chinesen zu bezweifeln. Sie sind der einzige, der dies tut, ich, alle meine Freundinnen, diese Herren und jede zuverlässige Person in Scha-tou haben sie für Wahrheit gehalten. Wie wollen Sie beweisen, daß der Chinese wissentlich gelogen hat?«

»Beweisen kann ich nichts, aber so sicher, wie ich hier stehe,« sagte der Detektiv mit Nachdruck, »behaupte ich, die Mädchen sind auf keine Dschunke, wohl aber ins Land hineingeschleppt worden. Ein Zufall hat es mir verraten.«

»Ein Zufall?« wiederholte Ellen spöttisch, »verschonen Sie mich mit solchen Redensarten, oder sagen Sie mir genauer, woher Sie es erfahren haben!«

»Darüber bin ich Ihnen keine Rechenschaft schuldig,« antwortete der Detektiv, sich mühsam beherrschend, »ich kann nur so viel sagen, daß wohl Marquis Chaushilm auf dem Wasser Scha-tou verlassen hat, nicht aber die beiden Damen. Entweder werden sie noch hier versteckt gehalten oder sie sind schon unterwegs.«

Ellen war einen Augenblick unschlüssig, als sie aber sah, daß auch die zuhörenden Herren den Worten des Mister Wood, welcher nur von Williams als Detektiv gekannt wurde, keinen Glauben schenkten, da behielt auch ihre zuvor gefaßte Meinung die Oberhand.

»Mister Wood,« sagte sie ruhig, »Sie sehen, wie wenig Ihre Worte Glauben finden. Wir sind alle, ohne Ausnahme, fest überzeugt, daß meine Freundinnen nach Kiu-Liang geführt worden sind. Nimmermehr glaube ich, daß ein Chinese sich schlagen läßt, um ein Verbrechen auszusagen, das gar nicht begangen wurde. Sie haben sich umsonst bemüht, Mister Wood, ich danke Ihnen für Ihre Teilnahme an uns. Auf glückliches Wiedersehen, meine Herren!«

Damit schritt Ellen zur Tür hinaus, die Herren in großer Bestürzung zurücklassend.

»So fahren Sie denn mit der ›Vesta‹ meinetwegen zur Hölle,« rief ihr aber der Detektiv nach, durch den Eigensinn des Mädchens zum ersten Male wirklich in Zorn versetzt. »Sie werden sich Ihren Trotzkopf diesmal doch einrennen.«

»Lassen Sie,« beschwichtigte Williams den Erzürnten, »noch haben wir ja Zeit, Maßregeln zum Schutze der Damen ergreifen zu können. Lord Harrlington, wann wird der ›Amor‹ reisefertig sein?«

»In drei bis vier Stunden, hoffe ich.«

»Dann ist es uns auch noch möglich, die ›Vesta‹ einholen zu können,« fuhr Charles fort, »haben Sie sich schon davon überzeugt, wo diese Insel Kiu-Liang zu suchen ist?«

»Ja,« entgegnete der Lord, »in zwölf Stunden würde der ›Amor‹ sie erreicht haben. Aber können wir denn? Sind wir nicht der Sicherheit Chaushilms wegen unabwendbar gezwungen, nach dem uns bestimmten Platz zu fahren? Van Guden hält Wort, sind wir nicht zur rechten Zeit dort, so kühlen die Chinesen ihre Wut an dem unglücklichen Herzog.«

»Was für ein geheimnisvoller Brief ist das eigentlich, den Sie von van Guden bekommen haben?« mengte sich der Detektiv dazwischen? »Zeigen Sie mir ihn, Sie können meiner Verschwiegenheit trauen.«

Lord Harrlington schien anfangs nicht gewillt, Mister Wood den Inhalt des Briefes wissen zu lassen, der vor zwei Stunden von unsichtbaren Händen an Deck des ›Amor‹ geworfen wurde, aber nachdem ihn Williams auf die Seite gezogen und mit ihm geflüstert hatte, händigte er ohne Widerstreben den Brief dem Detektiven ein, den er jetzt erkannt hatte.

Dieser zog aus dem versiegelten Kuvert das Schreiben und überflog das mit festen Schriftzügen bedeckte Papier, ohne eine Miene zu verziehen.

Als er es wieder zurückgab, murmelte er etwas zwischen den Zähnen, was, wenn es die Ohren der Herren erreicht, wie ›Narrenspossen‹ gelautet hätte.

»Sie wollen wirklich dieser Aufforderung Folge leisten?« fragte er dann erstaunt.

»Wir müssen,« riefen die Herren fast gleichzeitig mit Ausnahme von Davids, der noch wie sinnend dastand und durch das runde Fensterchen die ›Vesta‹ betrachtete, »van Guden läßt nicht mit sich spaßen.«

»Es ist alles ein abgekartetes Spiel,« sagte wieder der Detektiv, »wo liegt denn diese Insel Sanan-Yuan wohin Sie bestellt worden sind?«

»Wir wissen es nicht,« sagte Harrlington.

»Was?« rief Mister Wood, »Sie wissen noch gar nicht, wo sie liegt, ja, aber um Gottes willen, wie wollen Sie denn hinkommen?«

Harrlington zog die Uhr.

»Ich konnte den Namen weder auf der Karte, noch in Büchern finden, in einer Viertelstunde aber wird ein auf dem englischen Seemansamt beschäftigter Herr kommen, der in den chinesischen Gewässern zu Hause ist, und uns die genaue Lage der Insel mitteilen – sie ist wahrscheinlich so klein, daß sie selbst auf meiner ganz genauen Karte nicht verzeichnet ist.«

»Seltsam,« murmelte der Detektiv kopfschüttelnd, »so etwas ist mir noch nicht vorgekommen.«

»Alle Herren sind bereit, dieser unsinnigen Aufforderung Folge zu leisten?«

»Alle, wir müssen.«

»Auch dann, wenn ich noch einmal behaupte, daß die ›Vesta‹ in eine Falle gelockt werden soll, daß die Aussagen des Chinesen falsche waren, und daß die Mädchen überhaupt gar nicht auf ein Schiff gebracht worden sind?«

Die Herren fanden keine Worte, niedergedrückt blickten sie vor sich hin, und Sharp sah, daß alle Vorstellungen und Ermahnungen nichts mehr nutzten.

»Meinetwegen,« sagte er, »ich wasche meine Hände in Unschuld. Ich habe mein Möglichstes getan, Sie müssen selbst wissen, was Sie zu tun haben. Good bye, meine Herren.«

Er beachtete nicht mehr den Zuruf Williams, der ihn zur weiteren Besprechung zurückzuhalten suchte, sondern eilte zur Tür hinaus und an Deck.

»Hannes,« rief er oben und sah sich nach dem Leichtmatrosen um, der ebenso, wie die anderen Herren, beim Scheine von Magnesiafackeln in der Takelage arbeitete.

Der Gerufene schoß blitzschnell an einem Tau herunter und stand vor Mister Wood.

»Laß den Plunder liegen,« sagte dieser, »und komm mit mir! Deine Anwesenheit auf dem ›Amor‹ ist jetzt nicht mehr nötig wird vielleicht auch gar nicht gewünscht. Komm, mein Junge, Toilette brauchst du nicht erst zu machen.«

»Wohin soll es denn gehen?« fragte Hannes verdutzt.

»Auf Abenteuer, die du so sehr liebst.«

»Dann bin ich dabei, aber ... aber ...« Hannes zögerte, weiter zu sprechen.

»Ich weiß schon, was du meinst,« unterbrach ihn der Detektiv, »die kommt auch mit.«

»All right,« rief der Matrose, »ich ziehe mich nur um, in fünf Minuten bin ich wieder oben und zu allem bereit.«

»Unsinn,« sagte aber der Detektiv, »so wie du bist, gehst du mit. Hast du auch ein paar Teerflecken im Gesicht und Löcher in den Aermeln, das schadet nichts weiter.«

Da folgte ihm der Leichtmatrose ohne weiteres in das Boot, das sie an Land brachte. –

»Die ›Vesta‹ fährt wirklich ab,« rief unten Lord Harrlington mit verzweifelter Stimme, »mein Gott, mein Gott, was sollen wir nun beginnen?«

Es war in der Tat so, die ›Vesta‹ hatte schon die Segel entrollt, die Anker wurden gelichtet, und bald wurde das Vollschiff von einem frischen Winde der Hafeneinfahrt zugetragen.

»Möge es der Himmel geben, daß des Detektiven Vermutungen falsch waren,« seufzte Williams, »sonst ist es mit uns allen aus. Daß uns van Guden, dieser verdammte Halunke, einen solchen Streich spielen muß! Das werden ein Paar böse Tage für uns, so lange uns das Schicksal der Damen unbekannt ist.«

»Und unser eigenes Schicksal, das uns erwartet,« warf Lord Hastings dazwischen.

»Ach was,« entgegnete Williams sorglos, »auf diese Drohungen gebe ich keinen Pfifferling. Nur Mut, meine Herren, wir haben uns schon öfters aus schlimmen Lagen gewunden, und so werden wir auch jetzt aus der Klemme kommen. Nur die Damen sind es, um welche ich mich sorge, meinetwegen nicht im geringsten.«

»Natürlich,« brummte Lord Hastings, »Unkraut vergeht nicht.«

Die drei hatten gar nicht bemerkt, daß, als die ›Vesta‹ die Segel aufrollte, John Davids den Salon verließ. Sie blickten der davonsegelnden ›Vesta‹ nach und sahen auch noch, wie bald darauf ein weiter draußen liegendes Segelschiff der Ausfahrt des Hafens zustrebte.

»Die Zeit ist da,« meinte Harrlington, nach der Uhr sehend, »der Hafenbeamte könnte kommen. Es ist wirklich seltsam, daß wir den Namen Sanan-Yuan nicht finden konnten.«

Das letzte Wort war noch nicht aus seinem Munde, als der Erwartete hereintrat.

»Haben Sie den Namen gefunden?« rief ihm Lord Harrlington schon entgegen.

Der Beamte zog ein erstauntes Gesicht.

»Natürlich, warum nicht? Ich wußte mir überhaupt nicht zu erklären, wie Sie die Frage an mich stellen konnten. Sehen Sie, ich habe mir ihre Lage aufgeschrieben.«

Er zog sein Notizbuch hervor und blätterte darin.

»Möglich wäre es allerdings,« sagte er dabei, »daß dieser Name nicht in allen Karten steht, Sanan-Yuan ist eine Bezeichnung, die fast nur unter den Chinesen, oder sogar nur in einer gewissen Gegend gebräuchlich ist, aber jeder Chinese, den Sie darüber befragten, hätte Ihnen Auskunft geben können. Hier habe ich es: 23 Grad 14 Minuten 36 Sekunden östlicher Länge, 137 Grad 50 Minuten 3 Sekunden nördlicher Breite, liegt die Insel Sanan-Yuan,« las der Beamte vor.

»Wo?« riefen Lord Harrlington, Lord Hastings und Williams wie aus einem Munde.

Der Beamte wiederholte noch einmal die Zahlen, welche die Lage der besagten Insel angaben.

»Aber das ist ja ganz genau dieselbe Lage wie Kiu-Liang,« sagte Lord Harrlington im Tone des höchsten Erstaunens.

»Allerdings,« entgegnete der Beamte lächelnd, »wie ich schon sagte, Sanan-Yuan und Kiu-Liang ist dasselbe, hat sogar fast die gleiche Bedeutung ›Felsentor‹.«

»An Deck, meine Herren!« rief Harrlington und stürmte hinaus, von den anderen gefolgt.

Der Beamte sah erstaunt, welch wunderbare Wirkung seine Worte auf die Engländer hervorgebracht hatten. Er wußte zwar auch, daß die beiden Mädchen vermutlich nach Kiu-Liang gebracht werden sollten – ganz Scha-tou sprach ja davon – aber er hatte die Bitte um Bezeichnung der Lage von Sanan-Yuan nur für eine Streitfrage zwischen den Herren gehalten, und jetzt sah er mit einem Male, daß alle diese niedergeschlagenen Gesichter erst einen ganz verblüfften Ausdruck annahmen und dann wie vor Entzücken aufstrahlten, als hätte er die froheste Botschaft verkündet.

Auch er begab sich an Deck und ließ sich an Land rudern – Beachtung fand er gar nicht mehr.

War schon vorher auf dem ›Amor‹ tüchtig gearbeitet worden, so begann jetzt eine fieberhafte Tätigkeit. Alles rannte hin und her, kletterte die Wanten auf und ab, schleppte Taue und Stricke oder pochte und half sonst unten an der Maschine, und immer wieder ging die Mitteilung von Mund zu Mund, daß Kiu-Liang und Sanan-Yuan ein und dieselbe Insel in der chinesischen See sei, daß der ›Amor‹ also nach demselben Ziele, wie die ›Vesta‹ zu fahren habe.

Diese Mitteilung vermochte Wunder zu wirken.

Lord Harrlington hatte vier Stunden gerechnet, ehe der ›Amor‹ zur Abfahrt bereit sei, aber noch waren keine zwei Stunden verstrichen, da warteten die englischen Herren schon ungeduldig darauf, daß die chinesischen Schmiede den letzten Schlag an dem undicht gewordenen Kessel täten, und kaum war dieser gefallen, kaum stießen die Handwerker im Boot vom Schiffe ab, so klirrten die Ankerketten, die mächtigen, eisernen Haken wurden emporgewunden, eine glühende Rauchsäule wirbelte aus dem Schornstein, Kommandos erschollen überall, und noch hatte das abgesetzte Boot das Land nicht erreicht, da nahm der ›Amor‹ schon mit voller Kraft die Fahrt auf, aller Vorschrift zum Spott, die das Dampfen im Hafen nur mit Viertelkraft gestattet.

Eine feurige Garbe hinter sich zurücklassend, schoß der ›Amor‹ zur Einfahrt hinaus. Jetzt galt es nur die Augen offen zu halten, um die ›Vesta‹ zu entdecken, und dafür sorgten die Engländer.

Kopf an Kopf standen sie an der Brüstung und suchten mit dem Nachtrohr den Horizont ab, und oft ließ Harrlington einen anderen, als den direkten Kurs einschlagen, wenn er in der Ferne die Lichter eines Seglers erblickte, aber von der ›Vesta‹ selbst hatte man noch nichts gefunden.

Doch das schadete nichts, die Hauptsache war, daß man wenigstens noch gleichzeitig mit ihr vor der Insel zusammentraf, und dies war, wenn dem ›Amor‹ nicht ein Unglück passierte, sicher vorauszusehen.

Eine Stunde mochte so vergangen sein, als unter den Herren Unruhe und Gemurmel entstand.

Williams hatte seinen Diener gesucht und nicht gefunden, und nicht lange dauerte es, so wurde auch John Davids vermißt. Die Bestürzung war groß, als dies bestimmt festgestellt wurde, und jetzt erfuhr Harrlington, daß man letzteren in einem Boote an Land hatte fahren sehen.

Die Sache war jetzt nicht mehr zu ändern, so fatal sie auch allen war. Es hatte die Meinung geherrscht, wie Harrlington immer selbst gesagt, daß der ›Amor‹ erst in vier Stunden abfahren könnte, da dies nun aber eine Stunde früher geschah, so mußte das Fehlen Davids entschuldigt werden, ebenso wie das von Hannes.

In zwei Tagen hofften die Herren wieder nach Scha-tou zurückzukehren, und dann kamen jene einfach wieder an Bord, aber insgeheim hegten sie schlimmere Befürchtungen, mancher sandte den Zurückgebliebenen schon jetzt ein Lebewohl zu.


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