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Vierzehntes Kapitel

Nach dem Turme zurückgekehrt, fanden wir zu unserer Verwunderung, daß der Michael Hely die Tür des Bauers geöffnet und den Vogelbastarden die Freiheit geschenkt hatte. Er selber saß, wie wir ihn verlassen hatten, nachdenklich neben seinem Herde. Die Glut des Kohlenfeuers übergoß seine Züge mit einem geheimnisvollen Purpurschein. Über ihm gähnte der ungeheure Rauchfang, aus dessen Rachen kleine Rußkristalle wie schwarze Diamanten in matten Lichtern niederstrahlten.

Der Greis empfing uns freundlich wie immer, aber all seine Leutseligkeit verscheuchte nicht ein mit Trauer gemischtes Grausen, das heute den ganzen Raum zu füllen schien.

In seiner gedrückten Stimmung flößte uns der Alte Furcht ein, und am liebsten wären wir wieder gegangen. Allein er bat uns, niederzusitzen, und wir hatten die Empfindung, daß es unhöflich von uns wäre, wollten wir seine Einladung ausschlagen.

Als wir unsere altgewohnten Plätze eingenommen hatten, begann er, vielleicht um unsere Aufmerksamkeit von der traurigen Begebenheit des Tages abzulenken, ohne sich mit einer Einleitung auszuhalten, folgendermaßen:

»Erinnert Euch, Kinder, an die Geschichte des Gaston Riviere. Lange schon deckt der heiße Wüstensand seine Gebeine. Niemand auf Erden wird heute die Stelle bezeichnen können, wo man ihn einst verscharrte. Er war einer von den Millionen, die gehen und keine Lücke lassen, denen keiner nachweint, und von deren Erdenwallen kein Denkmal redet und keine Geschichte.

Und doch ist er zu beneiden. Er fand das Beste, was das Schicksal einem Menschen vor die Füße legen kann, einen schönen Tod; und das kam so:

Ihr wißt, daß er mit mir in einer Kompagnie diente. Der langweilige Dienst in den Garnisonen zwängte uns in einer Kasernenstube zusammen, das Lagerleben in einem Zelt und oft genug sogar in einem Bett. Wir fühlten uns zueinander hingezogen, ohne daß wir wußten warum, wir hatten einander gern, ohne daß wir es einander sagten. Auf den ermüdenden Märschen durch den leichten Wüstensand, der wie Wasser durch alle Ritzen unseres Schuhwerkes drang, gingen wir nebeneinander und was der eine, um den brennenden Durst zu löschen, in der Feldflasche hatte, gehörte auch dem andern. Im Gefecht kämpften wir Seite an Seite, und galt es, einen Vorposten zu beziehen, der den feindlichen Überfällen am meisten ausgesetzt war, so wußten wir es einzurichten, daß wir zusammen die Wache bezogen.

In jahrelanger fortwährender Berührung miteinander lernten wir nicht bloß jede Herzensregung kennen, sondern auch den tiefern Grund, dem sie entsprungen. Einer war für den andern wie ein aufgeschlagenes Buch mit großen, deutlichen Lettern und klarer, leichtverständlicher Sprache.

Und doch hatte das Buch Gaston Rivieres eine Seite, die ich nicht zu lesen vermochte, und deren Sinn mir lange ein Rätsel blieb.

Gaston Riviere, der Kraftmensch, mit einem Arm, dessen Muskeln bei jeder Bewegung sich blähten, wie der Bauch einer Riesenschlange nach dem Fraße, fürchtete sich. Er konnte, sobald es Abend wurde, nicht allein bleiben. Er, der allem stand hielt, was lebendig kraftvoll ihm gegenüber trat, einerlei, ob es mit der Faust, mit Krallen oder Zähnen kämpfte, er bebte vor einem Gespenst, vor dem Schatten eines Toten!

Durch einen Zufall kam ich hinter sein Geheimnis.

Auf unseren Kreuz- und Querzügen durch das Land fügte es sich, daß wir einst Quartier bezogen bei einem französischen Kolonisten. Der Mann baute seine Baumwolle und sein Zuckerrohr und schien gute Geschäfte zu machen. Auf allen Gegenständen seines Hauses, ob sie auf dem Boden standen oder an den Wänden hingen, glänzte der sonnige Widerschein behaglicher Existenzbedingungen. Auch unser Zimmerchen unter dem Dache mit den roten Ziegeln war mollig eingerichtet und bot Bequemlichkeiten, an die der Soldat nicht gewöhnt ist. Da war ein Sofa, zwei saubere Betten, ein Waschtisch und sogar ein Spiegelschrank.

Als wir uns am Abend zwischen den weichen Daunenkissen streckten, fühlten wir uns in königliche Verhältnisse versetzt und bedauerten fast, daß der Schlaf uns das Bewußtsein rauben mußte, wie gut wir es hätten. Doch wer gut schläft und alles vergißt, ist fast so glücklich wie einer, der alles hat.

Ich schlief in jener Nacht wie der Dachs im Schnee, bis mich folgendes Selbstgespräch des Gaston Riviere weckte: ›So, nun hab' ich's aber dick. Wenn es jetzt keine Ruhe gibt, dann schaff' ich Ruhe. Was brauchst Du filziger, krummer Hund, hinter mir nachzuschleichen? Warum hast Du mich um meinen wohlverdienten Lohn betrogen? Tat ich unrecht, als ich Dich wider das Gestell warf, an dem die Totenknochen hingen? Konnte ich denken, daß Du so gebrechlich wärst, wie eine Eierschale? Was soll also Dein Kratzen hinter der Schranktür? Nimm Dich in acht, nimm Dich in acht, hier unter meinem Bette liegt das Holzbeil!‹

Starr vor Staunen und bewegungslos hatte ich diesem sonderbaren Herzenserguß zugehört, den ich für ein Traumgespräch hielt. Jetzt war alles wieder still. Nichts regte sich im Hause, nichts im Hofe und im Garten, der das Haus umgab. Da, nach einigen Minuten hörte man vom Schrank herüber ein schabendes Geräusch, wie wenn eine Maus an einem Brette nagt, um sich einen Zugang zu einem wohlgefüllten Speisekasten zu verschaffen.

Jetzt, ohne daß ich Zeit fand, es zu verhindern, geschah das Unerhörte. Mit einem Satze war Gaston Riviere mit den Füßen auf dem Boden und hatte das Beil unter dem Bett hervorgezogen; ein gewaltiger Schlag und in tausend Scherben zersprungen klirrte die Spiegelscheibe. Durch das Loch tasteten die großen Hände des Riesen im Innern des Schrankes nach einem Gegenstand, den sie – wie es schien – nicht erfassen konnten.

Während dies geschah, hatte ich Licht gemacht und war zum Tode erschrocken, als ich in das erdfahle, geängstigte Antlitz meines Freundes leuchtete, von dessen Stirn der Schweiß in kleinen Rinnsalen niederlief. ›Gaston, was ist geschehen? Was hast Du vor?‹ rief ich ihm zu, ›was suchst Du in dem Schrank?‹

›Was ich hier suche? Ja, was suche ich? Gefunden habe ich nichts, aber gekratzt hat's,‹ sagte er in einem Ton, aus dem banges Staunen und eine innere Beschämung herausklang.

Der Riese ließ das Beil fallen und setzte sich mit keuchender Brust auf den Rand seines Bettes nieder. Sein ganzer Körper bebte, als ob er in sich selber zusammenfallen wolle, und die Kniee schlugen schlotternd gegeneinander.

Keine Kraft der Erde ist imstande, den Menschenkörper so zu brechen, wie die Schuld; und als ich das fürchterliche Ringen dieses Mannes mit sich selber sah, faßte mich ein namenloses Mitleid mit dem Unglücklichen, ich ahnte, daß er schuldig sei und bat ihn im Namen unserer Freundschaft, sein Herz zu erleichtern und sein Geheimnis mir zu offenbaren.

Lange saß er wie ein Bild von Stein regungslos da. Seine Finger hatten die Daumen umkrallt, seine Fußsohlen preßten sich wider die Diele, die Augen starrten finster nach einem Punkte zwischen seinen Füßen. Jetzt rang sich ein Seufzer aus seiner Brust, seine Hand fuhr mit den gespreizten Fingern durch das wirre Haar, mühsam arbeiteten sich die ersten, abgerissenen Worte hinter den fest aufeinandergepreßten Zähnen hervor über seine Lippen. Doch bald folgten stoßweise kurze Sätze, und endlich erzählte er, was wir schon wissen, die Geschichte von dem ermordeten Anatomiediener in Caen, und damit erfahren wir gleichzeitig, daß sich hinter dem Gaston Riviere Jean Jacques Malleton verbarg.

Jeden Tag erhebt sich der Soldat von seinem Lager und übt auf dem Exerzierplatz die ausgeruhten Glieder zu dem einen Zwecke, daß sie tauglich werden möchten, um Menschen zu töten. Das Morden ist ihm erlaubt, es ist sein Beruf, seine Pflicht. Er verdient sich damit sein Essen, seine Kleider, die man mit Knöpfen und Schnüren herausgeputzt hat, um durch den bunten Tand die Gedankenlosigkeit zu bestechen und die eitle Jugend für das traurige Metier günstig zu stimmen. Steht der Krieger vor dem Feinde, so gebraucht er seine Flinte handwerksmäßig, fast automatisch wie eine Maschine, und trifft seine Kugel, so sieht er wenigstens nicht, was er angerichtet hat. Er kämpft, weil er bekämpft wird, weil er nicht anders kann. Gemeine Leidenschaft aber, oder Haß regiert nicht seinen Arm.

Ein anderes Antlitz zeigt der Mord. Hinter ihm steht mit verzerrten Zügen die Leidenschaft, die seinen Arm bewaffnet und durch die unselige Tat einer Sekunde verdirbt, was durch Jahrzehnte der Reue nicht mehr zu sühnen ist. Welch ein Fluch, daß wir töten können und nicht zum Leben erwecken!

Übrigens war, trotz all dieser augenblicklichen Regungen, Gaston oder Jean Jacques für mich kein Gegenstand des Grauens, sondern nur des Mitleids. Was konnte er dazu, daß die Natur bei seiner Schöpfung sich vergriffen und in die Form eines Menschen die Kraft eines Pferdes gelegt hatte. Zur Zeit, als er die Tat beging, war er noch jung und unerfahren. Das Mißverhältnis zwischen ihm und andern Menschen war ihm noch nicht zum Bewußtsein gekommen. Seine Umarmungen selbst konnten für den Gegenstand seiner Liebe gefährlich werden, um wieviel mehr sein Zorn.

Ich versuchte durch Zuspruch den Erregten zu besänftigen, und brachte es soweit, daß er versprach, sich niederlegen zu wollen. Bevor er dieses aber tat, ging er ans Fenster und sah zur Mondsichel empor, die sich mit fahlem Scheine am westlichen Himmel zum Untergange neigte.

›Wir haben noch immer zunehmendes Licht. Er wird also wohl noch zwei oder drei Abende sich melden,‹ sagte er traurig. ›So geht's nun schon all die Jahre her. Immer wenn die Lichtgestalt des Mondes die Form einer Sichel hat, kommt der unheimliche Gast und ängstigt mich mit Scharren und Klopfen, und so wird's auch bleiben, bis ich die Augen schließe. Da hilft weder Weihwasser noch Beschwörung, da hilft nur der Tod.‹

Nach diesen Worten legte er sich nieder. Der Paroxismus seiner Erregung war vorüber, und bald verkündeten regelmäßige ruhige Atemzüge, daß der Schuldbeladene im Schlaf Vergessenheit gefunden.

Mich selber hielt die Teilnahme, die ich an den Seelenqualen meines Freundes nahm, noch eine Weile wach. Jetzt erst verstand ich das Wesen des Mannes, sein Tun und Lassen ganz. Sein Todesmut in der Schlacht, sein Aufsuchen der Gefahr war die Flucht vor einem größeren Übel. Er suchte den Tod, und dieser hinwieder schien vor ihm zu fliehen.

Tag und Nacht quälte mich der Gedanke, ob ich nicht etwas tun könnte, um das Geschick des Unglücklichen zu bessern, aber bei all meinem Nachdenken konnte ich doch keinen Weg entdecken, auf dem ich meinen Freund aus dem dunklen Labyrinth seiner verbohrten Selbstquälerei und seines Aberglaubens herausführen konnte in das Licht des Seelenfriedens. Einige Wochen später kam ein Zufall meinen Bemühungen zu Hilfe.

Neue Freiwillige waren aus Europa herüber gekommen und in die einzelnen Regimenter verteilt worden. Einer davon diente in der Kompagnie, in welcher ich unterdessen zum Unteroffizier avanciert war. Aus dem Dialekt, den er sprach, schloß ich, daß er ein Landsmann des Jean Jacques Malleton sein könne, und erfuhr auf meine Frage, daß er aus Caen sei. Der Mann war sechsundzwanzig Jahre alt. Das Ereignis, das meinen Freund einst in die Flucht getrieben hatte, lag zehn Jahre zurück; warum sollte der Rekrut nicht Kenntnis erhalten haben von dem Morde, der damals offenbar die dreißigtausend Seelen der kleinen Stadt in mächtige Aufregung versetzt hatte.

Ich hatte mir vorgenommen, eine günstige Gelegenheit abzuwarten und ihn mit Vorsicht auszufragen.

In einem arabischen Café traf ich ihn eines Abends. Er sah den Tänzen zu, die ein halbes Dutzend brauner Mädchen vor hellen Kulissen aufführten, auf denen Palmbäume gemalt waren, nichts wie Palmbäume. Abwechslung bieten diese Verrenkungen der Glieder nicht, und der Ton der Flöte, der sie begleitet, wirkt eher einschläfernd als erregend.

Der Rekrut schien nur mit dem Körper da zu sein, sein Geist weilte offenbar wo anders. Nichts schien ihn zu interessieren als das bedauerliche Kleinerwerden seiner Zigarette, deren Rauch er mit den Lippen an sich zog und durch die Nasenlöcher wieder von sich gab.

Wer in einem Lande lebt, dessen Sprache er nicht kennt, hat viel Zeit zum Nachdenken, oft mehr als ihm lieb ist, und begrüßt es mit Freuden, wenn er jemand findet, mit dem er sich unterhalten kann. So war ich ihm eine willkommene Erscheinung und sein Betragen verriet, daß er die Ehre zu schätzen wisse, mit einem Vorgesetzten an einem Tische zusammensitzen zu dürfen.

Es war nicht schwer für mich, seine Gedanken dahin zu lenken, wohin ich sie haben wollte, denn das Bild der Heimat schien noch ganz seine Seele auszufüllen. Er erzählte in begeisterter Sprache von den reizenden Ufern des Odon und der Orne, von der Kirche des heiligen Stephan mit ihren hohen Türmen, von dem Schlosse Wilhelms des Eroberers, vom Austernfang und vom Schiffbau seiner lieben Vaterstadt Caen.

Ich ließ ihn gewähren, fühlte, daß sich das Hochwasser seiner Beredsamkeit erst ein wenig verlaufen, der Strom sich klären müsse, bevor man nach Kleinigkeiten suchen könne, die allenfalls auf seinem Grunde lagen. Im Verlauf seiner Erzählung kam er auf die Schule zu sprechen, die er besucht hatte. In lebhaften Farben schilderte er die Straßen, die er zu passieren hatte, die öffentlichen Plätze, auf denen er seine Bücher unter die Bäume legte, um sich einen Augenblick mit seinen Kameraden zu balgen, die Kaufhäuser, vor denen er Halt machte, weil deren Schaufenster seine Neugierde erregten. Er sprach von den Menschenhaufen, die sich an den Gerichtstagen vor dem Justizgebäude stauten, und von den Gaffern, die vor dem Tore der medizinischen Schule stehen blieben, so oft irgendein Unglücklicher in dem traurigen schwarzen Kasten dort seinen Einzug hielt.

Bei diesem Gegenstande wußte ich den Rekruten durch eingestreute Zwischenfragen festzuhalten. Willig ging er auf alles ein, und es währte nicht lange, so hatte ich aus ihm herausexaminiert, daß er jede Treppe und jeden Winkel in dem Anatomiegebäude kannte. Sein Vater pflegte dort im Hofe Holz zu sägen, und er selber verdiente sich in den schulfreien Tagen einige Silbermünzen dadurch, daß er auf seinen Armen das Holz in die einzelnen Säle trug. Freilich war es dabei schwer, ein wohlhabender Mann zu werden. Der bucklige Anatomiediener war knauserig und bezahlte schlecht.

Als wir bei dieser Mißgestalt, die im Gewissen unseres Gaston eine so fürchterliche Verheerung angerichtet, angekommen waren, gab ich mir den Anschein, als ob mich derlei Leute besonders interessierten, und es währte denn auch nicht lange, und ich hätte aus dem, was ich alles erfahren hatte, den Steckbrief des Buckligen zusammenstellen können. Aber ich war auch zur Überzeugung gekommen, daß Gaston nur in seinen eigenen Vorstellungen ein Mörder war, und daß der von ihm Getötete sich noch einer guten Gesundheit erfreute.

Ich zögerte natürlich nicht, den armen Gaston über diese meine Entdeckung zu unterrichten. Er war zuerst mißtrauisch und schien das Ganze für eine fromme Täuschung zu halten, die ich mir in guter Absicht mit ihm erlaube. Als er aber den Rekruten selber gesprochen und all dessen Angaben mit dem verglichen hatte, was er selber wußte, war er über die Maßen glücklich, und seine Dankbarkeit gegen den jungen Landsmann, der den jahrzehntealten Kummer von seinem Herzen genommen hatte, kannte keine Grenze. Er teilte mit ihm, was er hatte, er überwachte ihn und beschützte ihn, er führte ihn an der Hand durch die Straßen und in die Schenke und wenn er durch irgendeinen Zufall um seine Arme gekommen wäre, so hätte er ihn wie eine Katze ihre Jungen mit den Zähnen gegriffen und ihn mit sich herumgeschleppt.

Ein Marschbefehl beendete diese Idylle, es ging wieder gegen die Kabylen. Gaston packte seinen Tornister und auch den seines Schützlings, aber so, daß in dem seinen die ganze Last war und in dem des andern so gut wie nichts. Wenn sich auf dem Marsche die Reihen auflösten und ein jeder zusehen konnte, wie er weiter kam, lud er auch noch die Flinte des Rekruten auf seine starken Schultern und befestigte dessen Patronentasche an seinem eigenen Säbelgurt.

Am Abend suchte er nach Decken oder Kamelhäuten, um seinen Schützling zu betten, und hatte er etwas derartiges aufgetrieben, dann streckte er sich zufrieden und vergnügt neben diesem weichen Lager auf die harte Erde hin.

Als der Tag gekommen war, der das Zusammentreffen mit dem Feinde bringen mußte, war Gaston nicht aufgeräumt, wie er sonst wohl bei Beginn eines Kampfes zu sein pflegte. Ihn beschwerte der Gedanke, daß in irgendeiner der langen arabischen Flinten eine Kugel stecken könne, die für seinen Freund gegossen sei, und schon auf dem Marsche drängte er sich vor diesen, als ob er ihm hinter seinem robusten Körper Deckung verschaffen wollte.

So stiegen wir von einem Hügel nieder in ein breites Tal. Drüben begrenzten mit dichtem Laubwerk bestandene Höhenzüge den Blick und verbargen die Stellung des Feindes. Nur zuweilen sah man das Wallen eines Beduinenmantels, den ein wild dahinstürmendes Pferd vor dem grünen Vorhang des Waldes vorübertrug. In Schützenlinien aufgelöst, suchten wir das offene Terrain zu überwinden. Sprungweise avancierten wir. In jede Vertiefung des Bodens schmiegten wir unsere Körper, hinter jeder Erdwelle, hinter jedem Strauch suchten wir Schutz.

So waren wir bis in die Mitte des Tales gekommen. Da mit einemmale zuckten aus dem Waldesdunkel rotgelbe Blitze, denen ein dumpfes Knattern der Gewehre folgte. Eine lang hingezogene graue Wolke von Pulverdampf erhob sich über dem Laubdach und klärte unsere Offiziere auf über die Stellung und ungefähre Stärke des Feindes.

Im selben Augenblick bereits schmetterten hinter uns warnend die Trompeten und riefen uns zurück. Aber viele von denen, die den Hinweg erst zurückgelegt hatten, hatten den Heimweg vergessen.

Als wir außerhalb des Flugbereiches der feindlichen Geschosse angekommen waren und zurückschauten, da sah man hier und dort in ihren Uniformen französische Soldaten liegen. Die meisten lagen ganz still, bei andern bemerkte man mit Schaudern ein krampfartiges Zucken der Glieder, oder es bewegte sich wohl auch ein Arm, so geordnet, daß man daraus schließen konnte, derjenige, dem er gehöre, sei nur verwundet und rufe seine Kameraden zur Hilfe.

Gaston war derweilen ängstlich spähend und sorgend durch die Reihen gelaufen, die sich wieder zu ordnen begannen. Jeder wußte, wen er suchte, niemand aber konnte ihm Auskunft geben. Da überflog sein Falkenauge das Schlachtfeld. Ja dort, wo das kleine Bächlein sich durch Schilf und Riedgras windet, dort hatte sein Schützling gestanden, und dort sah er jetzt einen Verwundeten liegen, der sich bemerkbar zu machen suchte.

Bevor es jemand hindern konnte, hatte Gaston sein Gewehr weggeworfen und stürzte schutzlos voran über das offene Terrain. Staunend sahen wir dem Tollkühnen nach. Auch der Feind schien unschlüssig, wie er sich diesen Vorgang deuten solle, denn es fiel zunächst kein Schuß. Als aber Gaston den Verwundeten wie ein Kind auf seine Riesenarme gelegt hatte, und mit ihm das Weite zu gewinnen suchte, da zuckten drüben aus dem Dunkel des Waldes wieder unheimliche Stichflammen, und Gaston sank in die Kniee, aber nur für einen Augenblick. Bald erhob er sich wieder, und wenn auch sein taumelnder Gang dem eines Betrunkenen glich, er kam doch vorwärts und so weit, daß wir ihm zu Hilfe eilen konnten.

Doch es war die höchste Zeit, daß wir kamen. Eben drohte er noch einmal mit seiner Last zu fallen, als ein anderer Soldat ihm den Rekruten abnahm, und ich ihm von hinten unter die Arme griff. Sein Kopf sank ins Genick, sein bleiches Antlitz fiel auf meine Schulter, sein brechendes Auge erstarrte und seine Lippen vermochten leise, aber doch vernehmbar, diese letzten Worte zu stammeln: ›Hely, gib auf meinen Jungen acht!‹

So fand Gaston Riviere, was er seit Jahren gesucht, ein schönes Ende.

Ja, wem das Schicksal einen schönen Tod schenkt, dem hat es in dem Augenblick, wo es nimmt, viel gegeben.«

*

Nach diesen Worten erhob sich der Erzähler rasch und sah nach dem Zifferblatt der Schwarzwälder Wanduhr empor.

»Es ist später geworden, als ich dachte, nun aber, Kinder, beeilt Euch, heimzukommen,« sagte er mit einem Ton, aus welchem wir seine Besorgnis herauslesen konnten, daß man unser Ausbleiben zu Hause übel vermerken möchte.

Wir erhoben uns und reichten ihm schweigend die Hand, dann tasteten wir uns durch den dunklen Gang und erreichten die Außentür des Turmes. Der Vorderste von uns konnte die Klinke nicht finden, und so gab es noch einen kleinen Aufenthalt. Besorgt eilte der Michael Hely herbei, um uns zu helfen. Ein Windstoß, der von außen kam, warf uns fast zu Boden. Als wir endlich im Freien waren und mit Händen und Füßen den Weg über die Trümmer der Mauern suchten, stand der Alte in der Türfüllung und rief uns mit einer sanften, von leiser Wehmut durchzitterten Stimme zu: »Gott gebe Euch eine gute Nacht und geb' Euch Knaben einstens einen schönen Tod.«

War wirklich jene Nacht so voller Schrecken, oder täuschten mich nur meine erregten Sinne? Dies ist die Frage, die ich mir noch heute vorlege, ohne sie beantworten zu können. Die Erde zitterte. Die Finsternis funkelte förmlich vor unsern Augen. Der Wind heulte ein Konzert, das sich anhörte wie das Klagelied der Verdammten einer ganzen Hölle. Die Scheiben der Kirchenfenster klapperten in ihrer Verbleiung, und der »goldene Engel« auf dem Wirtshausschilde zerrte an dem eisernen Arm, der ihn festhielt, als ob er sich losreißen wollte von dieser Welt des Elends und der Mißverständnisse, um hinauszufliegen in jene Höhen, wo der Friede wohnt, das Glück und die Gerechtigkeit.

Graue Wolken in gespenstigen Formen zogen am Himmel hin. Daß sie das Auge wahrnahm, verdankten sie einem unbestimmten Licht, das von irgendwoher aus der Unendlichkeit des Weltenraumes leuchtete und ihre Ränder durchglühte. Zwecklos und träge zogen sie hin, als ob sie Gebilde aus Teig wären, herausgezogen aus dem Backtrog einer Hausfrau. Es war ein ewiges Schieben und Vorwärtsdrängen, wobei die eine Gestalt, kaum entstanden, von einer anderen neuen Form verschlungen wurde.

Der Wind, als ob dies Werden und Vergehen nicht nach seinem Willen wäre, heulte wie ein wildes Tier, das man an die Kette gelegt hat. Er warf Ziegel von den Dächern und fuhr stöhnend und gurgelnd durch die Höhlung der Dachtraufe.

Am Boden hin kroch die Finsternis und griff feucht und kalt wie die Hand eines Sterbenden nach unseren nackten Füßen. Der Erde entströmte ein Dunst, der an die Bahrtücher erinnerte, die mit ihren Kreuzen und ihren weißen Litzen die Armseligkeit der Särge überkleiden und das Letzte festhalten, was der Gestorbene der Erde zurückläßt.

Ach, wie war es schauerlich, in das Haus der Eltern durch die Hintertür eindringen zu müssen! Im Stalle stöhnten die Kühe, und als ich eben die schmale Treppe zur Küche hinausstieg, da redeten sie miteinander, wie sie – einer alten Sage zufolge – tun, wenn einer stirbt, der dem Hause nahe gestanden.

Auch im Bette konnte ich keine Ruhe finden. Wie geschmolzenes Eisen lief das Blut durch meine Adern, und in dem überreizten Gehirn jagten sich phantastische Bilder voller Schrecken und Grausen. Dabei quälte mich ein wilder Kopfschmerz, und bleischwer lagen die Lider auf den Augäpfeln. Mit hetzenden Atemzügen rang die Lunge nach Luft, und der trockene Dunst glimmender Holzkohlen füllte das Geruchsorgan. Ich hätte fliehen mögen und konnte kein Glied bewegen; ich versuchte zu schreien und die Stimme versagte ihren Dienst. Dabei beherrschte mich eine unsägliche Angst, bis das umnebelte Gehirn vollends die Fähigkeit verlor, sich über irgend etwas Rechenschaft zu geben.

Geräusche, die aus der Küche kamen, weckten mich am nächsten Morgen aus wüsten Träumen. Als ich die Augen aufschlug, sah ich in das ernste Antlitz meines Vaters und erwartete nichts anders als eine Strafpredigt wegen meines langen Ausbleibens am vergangenen Abend. Aber er sagte nichts weiter als: »Stehe auf und ziehe Deine Sonntagskleider an.«

Ich gehorchte schweigend, ohne mir Rechenschaft darüber zu geben, was die Eltern mit mir vorhaben könnten.

Während ich mein Frühstück einnahm, sah ich den Vater vor seinem Pulte sitzen und eifrig schreiben. Unterdessen hatte die Mutter ein kleines Bündel gebracht und legte es vor mich auf den Tisch.

Jetzt überkam mich das Gefühl, daß man mich entfernen wolle aus dem Vaterhaus, und ein unsägliches Weh erfüllte meine Seele.

Als der Vater seinen Brief beendet, legte er mir den Riemen, womit das Bündel zugeschnürt war, um die Schulter und nahm mich bei der Hand. Flehend sah ich zur Mutter auf, und meine tränenumflorten Augen baten um Verzeihung. Sie reichte mir die Hand und flüsterte leise: »Geh jetzt mit Gott, mein Kind, Du darfst bald wiederkommen.«

Auf der Straße sah ich Menschen mit geängstigten Gesichtern in kleinen Gruppen zusammenstehen und bemerkte, daß sie sich mit scheuen Blicken irgendein Geheimnis in die Ohren raunten. Gerne hätte ich gefragt, was es Neues gebe, aber der Vater duldete nicht, daß ich stehen blieb. So kamen wir in den Hohlweg vor dem Dorfe, der zur Tromm hinaufführt, und standen bald auf dem niederen Hügel, der die Häuser nur um ein weniges überragt.

Hier wo sich die Straßen scheiden, vor dem Wegweiser, der dem Wanderer behilflich ist, sein Ziel zu erreichen, machte der Vater Halt und holte den Brief aus seiner Tasche. Er war gut versiegelt, denn sein Inhalt war nicht für mich bestimmt. Als ich ihn entgegennahm, zitterte meine Hand, denn ich hatte die Vorstellung, daß in dem Briefe etwas enthalten sei, was über mein Schicksal entscheiden könne.

Jetzt brach der Vater das Schweigen mit den Worten: »Du gehst nun zur Tante nach Fürth und übergibst ihr diese Zeilen. Wenn sie Dich brauchen kann, dann sollst Du drei Wochen dort bleiben, wenn nicht, so gehst Du weiter über die Juchhe nach Bös-Erbach zu der andern Tante und bleibst dort; verstehst Du mich, mein Sohn?«

Obwohl ich den Vater nie in meinem Leben so wenig verstanden hatte wie in diesem Augenblicke, so sagte ich doch: »Ja, Papa.« Sein verschlossenes Wesen beängstigte mich, und ich war froh, als ich allein durch die Felder wallen konnte, über deren gebeugten Ähren hoch im blauen Äther oben das muntere Lied der Lerche erklang.

In Fürth las die Tante meinen Brief, nahm mir mein Bündel ab und führte mich in die gute Stube, wo ihr Fremdenbett stand und der kleine Hausaltar mit den vergoldeten Monstranzen aus Blei und den bildschönen Muttergottesbildern aus Porzellan und gelbem Wachs. »So,« sagte sie, »nun richte Dich hier ein, dies alles darfst Du drei Wochen lang als Dein Eigen betrachten.«

Damit drehte sich die dicke Frau und wollte sich zurückziehen, aber an der Tür schien ihr noch ein Gedanke durch den Kopf zu gehen, und indem sie sich halb umwendete, sagte sie: »Apropos, im Baumgarten hinterm Haus, da reifen jetzt die Käsbirnen, und auch die Pflaumen haben schon blaue Backen.«

Ach, wieviele Stunden reiner Glückseligkeit habe ich doch bei der guten Tante verlebt! Wenn ich nach Brot oder Fleisch lüstern war, so zupfte ich an ihrer Schürze, und wenn ich einen Nachtisch wollte, so rüttelte ich an den Stämmen im Obstgarten, und die wundermilden Bäume gaben mir ihr Bestes. Wenn ich dann ganz satt war, legte ich mich hin auf den Rücken und sah hinauf in das Blätterdach zu den freundlichen Musikanten im bunten Federkleid, die mir unentgeltlich die Tafelmusik besorgten.

Warum doch schleicht die Stunde so langsam durch die Tage des Kummers und macht so große Schritte, wenn sie durch Wochen der Freude geht?

Schneller, als ich es mir wünschte, war fern von lateinischer und griechischer Grammatik die Zeit verronnen, und wieder stand ich mit meinem Felleisen auf dem Hügel über dem Heimatdorf.

Drunten lag es im grünen Teppich seiner Wesen, aber es sah so fremd, so sehr verändert zu mir herauf. Verschwunden war sein treuer Hüter, der unermüdlich durch Wettersturm und Graus über den Giebeln seiner Häuser gewacht. Der alte Torturm war abgebrochen. Da wo er gestanden, gähnte jetzt die nichtssagende Leere eines freien Platzes.

In welcher Dachkammer mochte nun der Michael Hely sein Bett aufgeschlagen haben? Diese Frage, die mich drückte, legte ich meinem Vater vor, als ich ihm kaum noch unter die Augen getreten war. Er schüttelte traurig den Kopf und sagte bewegt: »Er braucht kein Bett mehr, mein Kind, er ist in jener Nacht gestorben, die dem Tage Deiner Abreise vorausging. Die Mägde, die in der Frühe zum Brunnen gingen, um Wasser zu holen, fanden ihn, abgestürzt und mit zerschmettertem Schädel am Fuße des Turmes.«

Jetzt mit einem Male verstand ich das geheimnisvolle Wesen meines Vaters an jenem Morgen und heute noch danke ich dem Himmel dafür, daß er mich einen Blick tun ließ auf den reichen Schatz vorsorglicher Güte, der im Vaterherzen schlummert. Ich küßte dem Guten die Hand, aber die Furcht, daß man noch an der Leiche des Michael Hely gesündigt haben könne, trieb mich nach dem Friedhof.

Wie war ich glücklich, als ich sah, daß die Ruhestätte meines Freundes sich unter den Gräbern der rechtschaffenen Menschen befand.

Es lag ein Unglücksfall vor. Ein alter Kreisphysikus, eines jener kostbaren Menschenexemplare, die sich allen Enttäuschungen zum Trotz eine kindlich naive Weltanschauung bis ins Greisenalter zu bewahren wissen, hatte seine Hornbrille aufgesetzt und unter seinem Dienstsiegel dieser Annahme eine amtliche Bestätigung verliehen.

So verschaffte das Wohlwollen eines Edlen dem Heimgegangenen, was seine eigne Güte einst einem anderen verschafft hatte, einen Platz in den Reihen derer, von denen die Menschen annehmen, daß sie eines guten Todes gestorben sind.

Auch sein Grab verfiel nicht dem harten Lose, gänzlich vergessen zu werden. Noch manches Jahr sah man am Allerseelentage die Witwe des Steuererhebers auf dem Friedhofe mit zwei Kränzen erscheinen, von denen sie den einen vor dem Grabstein ihres Mannes niederlegte und den andern auf dem Hügel des Michael Hely.

 


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