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Zwölftes Kapitel

Ein ehrenwerter Meister in Frankenthal hatte derweilen Kupfer und Zinn, vielleicht auch etwas Liebe und Glauben, zur Glockenspeise verarbeitet und in die Form gegossen. Der Guß war gelungen, die Glocken standen da und harrten des Tages, an dem man kommen würde, sie abzuholen. In Waldmichelbach waren große Festlichkeiten zu ihrem Empfange geplant. Christian Hering, ein Bauunternehmer, hatte eine alte Schützenfestrede so umzumauern, daß sie auf die neuen Verhältnisse paßte. In seinem Hause herrschte das Schweigen eines Trappistenklosters.

Klaus Priester, der Musikant, übte mit seiner Kapelle einen Einzugsmarsch, und die Hunde der Nachbarschaft hatten schlimme Tage.

In der Dachkammer der buckeligen Näh-Kathrine waren Dutzende von Festkleidern entstanden, deren weiße Farbe die Unschuld derer, die bestimmt waren, in ihnen zu prangen, recht glaubhaft machen konnte.

Der Sattler schnitt aus roten Gurten Hosenträger für die Schulknaben, denn das Komitee war der Ansicht, daß Hemdsärmel und rote Hosenträger dem Festzug Farbe und Abwechslung verleihen würden.

Den Polizeidiener hatte man in eine neue Uniform gesteckt, und man hatte ihn auf seinen Diensteid verpflichtet, dafür zu sorgen, daß an dem großen Tage weder Schweine noch Gänse sich auf der Straße herumtrieben. Auch wollte man ihm das Versprechen abnehmen, daß er sich, seiner Verpflichtungen eingedenk, über das Fest nicht berausche. Darauf aber ging er nicht ein. Zwar fehlte es ihm nicht an gutem Willen, aber wie die Bekenner des Islam glaubte er an das Walten eines unumschränkten Datums. Gottes Wille geschieht in allen Dingen. Wie käme er dazu, durch ein voreiliges Versprechen den Lauf des Geschickes aufhalten zu wollen?

Einstweilen tat er alles, was er zur Verherrlichung des glorreichen Tages tun konnte. Er ermunterte durch freundlichen Zuspruch die Mägde, die hinter den Zäunen standen und die Sonntagsstiefel ihrer Herren fegten. Alten Veteranen, die er dabei traf, wie sie ihre Kriegsmedaillen und Ehrenzeichen blank rieben, bot er leutselig herablassend eine Prise an. Auch verweilte er längere Zeit in aufmunterndem Gespräche vor der Gartenbank des Straßenwarts und sah dem ausgedienten Krieger zu, wie er mit Glasscheiben sein Holzbein polierte.

Seit der Schlacht von Hanau war dieser um das Vaterland wohlverdiente Kriegsmann genötigt, auf das Mitleid seiner Mitmenschen zu spekulieren. Auf Jahrmärkten und öffentlichen Festen trieb er sein Geschäft, und er war mit allen kleinen Vorteilen und Handwerkskniffen desselben wohl vertraut. Ihm war bekannt, daß die Armut offene Türen findet, wenn sie Arm in Arm mit der Reinlichkeit betteln geht. Deshalb hielt er streng darauf, daß seine Kleidung, wenn auch ärmlich, sauber sei, und er schenkte seinem hölzernen Bein eine Aufmerksamkeit, die stellenweise den Charakter der Koketterie annahm. Er putzte die Messingreife, die das Fußende schützten, daß sie aussahen wie lauteres Gold, und er rieb den Schaft mit Glaspapier und Scherben von Fensterscheiben, daß er wie mit seiner Emaille überkleidet erschien.

Daß ihm der Polizeidiener bei diesem Werk der Eitelkeit heute zusah, war für den Stelzfuß von nicht zu unterschätzendem Werte. Der Mann mit dem Säbel an der Seite vereinigte in seiner unscheinbaren Person gleichwohl die ganze Exekutivgewalt der Ortsbehörde. Der Groll, den jeder, der dem Strafparagraphen verfallen war, in sich trug, richtete sich gegen den ausführenden Dinner des Gesetzes. So war er wohl gehaßt, aber er war auch gefürchtet, denn er verfügte immerhin über ein kleines Maß von Gunst oder Ungunst, mit dem er nach seinem Gutdünken zum Wohl oder Wehe seiner Nebenmenschen schalten und walten konnte.

Im Augenblick handelte es sich für den Invaliden darum, daß er bei dem Festzuge einen Platz bekäme, der so gelegen war, daß die Menge der Fremden und Einheimischen an ihm vorüber mußte, und er ließ dem Ortsgewaltigen gegenüber seine Wünsche durchblicken. Dieser verstand alsbald und versprach, den Abweisstein frei zu halten, welcher der Hausecke des goldenen Engels so einladend vorgelagert war, daß kaum ein Hund durchs Dorf ging, der hier nicht wenigstens einen Augenblick Halt machte, um ein Runenzeichen zu hinterlassen, das den Scharfsinn derer beschäftigen sollte, die von seinesgleichen nach ihm kämen. Diese Stelle also hatte der Stelzfuß sich ausgebeten, und großmütig hatte der Polizeidiener zugesagt, daß er sie erhalten solle. Als dies geschehen war, erquickte sich die aus drei Beinen bestehende Versammlung noch einmal an einer Prise, und der Mann mit dem Schwerte ging weiter, um anderwärts nach dem Rechten zu sehen, denn der nächste Tag bereits mußte die Glocken bringen.

Schon waren Ehrenpforten errichtet und reichbekränzte Fuhrwerke abgegangen. Sie durchfuhren die Nacht und sollten gegen Abend des folgenden Tages zurück sein. Am Vorabend des Ereignisses waren die Wirtshäuser besser besucht als zu anderen Zeiten, und auf der Straße kämpfte der Besen der Hausfrauen und der Dienstmädchen gegen die drückende Alleinherrschaft des Schmutzes.

Die kurze Sommernacht brachte wenig Ruhe; allzugroß war die erwartungsvolle Spannung aller Dorfbewohner.

Bevor noch die Sonne über die im Osten breit hingelagerten Bergrücken herübersah, wälzten sich in dicken Klumpen grauweiße Rauchwolken aus den Schornsteinen der Bäcker. Aus den Backstuben klang das fröhliche Kichern der Mägde, die mit den Gesellen schäkerten, derweil sie harrend vor dem Ofen standen und sich auf das Wiedersehen mit den Kuchen freuten, die sie diesem anvertraut hatten.

Aus den Hausgängen der Metzger klang der Taktschlag der Beile, mit denen die Eingeweide der geschlachteten Tiere zu Wurstfüllsel zerkleinert wurden. Hinter der blinkenden Scheibe sah man in weißer Schürze den Meister stehen, wie er seine Auslage mit berückenden Wurstgirlanden dekorierte.

Aus den Kellerlöchern der Wirte dufteten allerlei Essenzen und verrieten, daß die besorgten Gasthalter damit beschäftigt waren, das Wunder von Kanaan zu erneuern. Alle Wahrnehmungen des Gesichts-, Gehör- und Geruchsinnes deuteten darauf hin, daß für den Geschmackssinn eine köstliche Stunde schlagen werde. Man rechnete auf einen zahlreichen Besuch von außerhalb, und man sollte sich darin nicht getäuscht haben.

Kaum war das Tagläuten verklungen, so sah man auf dem Festplatze vor der Wohnung des Michael Hely den ersten Zylinder auftauchen. Ein moosiger Schimmer ging von ihm aus wie von dem Rücken eines alten Karpfens.

Nicht lange, und neben diesem ersten Hute bewegte sich ein zweiter, dritter, vierter, ein ganzes Meer von Zylindern, die alle mit beredter Zunge von Hochzeiten und Kindtaufen vergangener Jahrzehnte zu erzählen wußten.

Um diese vornehmere Art von Kopfbedeckung der Honoratioren legte sich, wie der Rahmen um ein Bild, der Dreispitz oder Wetterverteiler der Bauern, der so eingerichtet war, daß er ganze Wolkenbrüche hinterrücks in die Stiefelschäfte seines Trägers leiten konnte. Auch Pelzkappen waren da mit grünen Böden und seiner Posamentierarbeit, ebenso wie Strumpfhauben und Strohhüte.

In die Monotonie der Herrentracht kam bald etwas Abwechslung durch die Pfauenhäubchen auf den Köpfen der Bäuerinnen und durch die bunte Stickerei der Halstücher auf deren Schultern.

In langen Zügen kamen die Lehrer von den Nachbardörfern mit ihren Schulklassen, die Knaben in Hemdsärmeln mit den roten Hosenträgern, die Mädchen in ihrem Sonntagsstaat. In militärischer Haltung marschierten sie auf und nahmen ihre Aufstellung so, wie sie ihnen vom Festordner vorgeschrieben wurde.

Auch der Herr Pfarrer erschien im schwarzen Chorrock mit dem Barett auf dem Haupte und den frisch gewaschenen Beffchen unter dem gut genährten Kinn und verlor sich händedrückend unter der Menge.

Noch fehlte der Landrichter, auf dessen Erscheinen man mit Sicherheit rechnete, weil der Glanz seiner Uniform das Gepränge der festlichen Veranstaltungen vermehren mußte. Aller Augen waren nach dem eisernen Tor seiner Dienstwohnung gerichtet, und als dieses sich öffnete und der Ersehnte in goldgestickter Uniform erschien, war alt und jung voller Entzücken und fühlte sich persönlich geehrt.

Während am Fuße des Turmes in gehobener Stimmung die Menge sich sammelte, sah der Michael Hely oben durch die Einschnitte des Zinnenkranzes und beobachtete den Pfad, der vom Storrbuckel nach dem Tal niederleitet. Auf der kahlen Plattform dieses Berges hatte man Wachen aufgestellt, welche die aus dem Weschnitztale nach dem Stallenkandel herausführende Chaussee beobachten und das Nahen der Wagen durch Hüteschwenken rechtzeitig signalisieren sollten. Sie glichen, von weitem gesehen, mehr einem Strauche oder einer Baumgruppe als Menschen.

Mit einemmal aber bemerkte der Michael Hely, daß das Bündel oben sich löste und daß mit großen Sprüngen drei bis vier Personen den Berg herunterflogen. Diese Beobachtung genügte, um die Situation klar zu legen. So formte er die Handteller vor seinem Munde zu einem Schallbecher und schrie so laut er konnte: »Sie kommen, sie kommen!«

Wie der Funken in einem Pulverfasse, so hatten diese wenigen Worte in der dichtgedrängten Menge eine explodierende Wirkung. Einen Moment schien es, als ob der Haufen nach allen Richtungen der Windrose auseinanderfahren wollte. Dann aber schloß er sich dichter zusammen, und wie der Strang aus der Schürze des Seilers, so wuchs aus dem regellosen Klumpen der Volksmenge in leidlicher Ordnung der Festzug heraus.

Rasch griff jedermann nochmals nach seinem Hut und überzeugte sich von dessen Gegenwart, jede Frau befühlte ihre Stirn und strich ein Bündel Haare unter die Haube, auch wenn keines aus der glattgestrichenen, wohlgeölten Frisur sich losgelöst hatte.

Die Blechmusik setzte mit einer Fanfare ein. Sofort kamen die Füße aller in Bewegung, und wer noch nicht so weit war, gehen zu können, stampfte, wenn auch zwecklos, einstweilen die Stelle, auf der er widerwillig festgebannt war. Die Schuljugend vorauf, dann die Erwachsenen, so wälzte sich, einer ungeheueren Schlange gleich, der Festzug über die Landstraße und verschwand hinter der Einsattelung der Kreidacher Höhe spurlos, als ob er sich aufgelöst hätte in dem blauen Äther, wie Nebelschwaden in der Morgensonne.

Das Dorf war wie ausgestorben; selbst die Wiegen standen leer, denn die verehrlichen Säuglinge mußten auf den Armen ihrer neugierigen Mütter Augenzeugen sein des großen Ereignisses. Nur vor dem Feuer der Herde konnte man noch eine oder die andere Person treffen, die mit der Bereitung des Mittagsmahles beschäftigt war.

Welch köstliche Einsamkeit für Diebe!

Wer fürchtete, daß sein Gemüse nicht ausreichen würde, ging ungeniert in des Nachbars Garten und stahl, was er brauchte. Auch der Polizeidiener, der berufene Wächter des geheiligten Eigentums, wußte die Gelegenheit zu benützen. Wie er so, die Hände auf dem Rücken, vor der Auslage des Metzgers vorüberging, verirrte sich unversehens eine Wurst in die Hintertasche seiner großherzoglichen Uniform.

In der Einsamkeit einer Schankstätte stürzte eine Weinflasche glucksend ihren Inhalt in seine Kehle und Zigarren liefen wie braune Raupen auf eigenen Füßen in seine Westentaschen.

Jetzt störte ihn der Ton der Glocke, der aus der Ruine des alten Turmes herunterklang.

Der Michael Hely hatte von seinem hohen Standpunkt aus bemerkt, daß die Spitze des Festzuges eben auf der Kreidacher Höhe sich wieder zeige, und er zog an den Glockensträngen. Wehmütig wimmerte der Ton hinaus in die Luft. Er klang nicht wie Festjubel, weit eher wie Grabgeläute oder wie das Moriture te salutant der Gladiatoren.

Alles, was jetzt noch im Dorfe anwesend war, stürzte auf die Straße. Auch der Invalid vom Jahre 1813 machte sich, obwohl er über diesen gesegneten Pluralis nicht verfügte, auf die Beine und suchte nach seinem reservierten Platze. Anfangs war er leer, allein es dauerte nicht lange, und eine Mauer von schaulustigen, aber wenig zum Geben geneigten Menschen türmte sich um ihn auf. Schon kamen die müßigen Gaffer zurück, die dem Zuge entgegengegangen waren und die jetzt, um ja nichts von dem Schauspiele zu verlieren, den kürzeren Weg übers Feld genommen hatten.

Alte Mütterlein, denen die faltigen Wangen um die zahnlosen Kiefer schlotterten wie welke Segel, verließen ihre Auszugsstübchen auf den Nebenbauten der Hofraiten und pflanzten sich, auf ihre Stöcke gestützt, längs der Mauern der Häuser auf.

Kinder, die ihr Spielzeug an einem Faden hinterherzogen, trieben sich getreten und gestoßen heulend zwischen den Beinen der Erwachsenen herum.

In dieses Chaos von Menschen jeglichen Alters mußte der Polizeidiener soviel Ordnung bringen, daß dem Festzug eine Straße frei blieb, die so breit war, wie die Radspuren eines Wagens. Das war keine kleine Aufgabe. Das Volk der Weiber, hier wie überall zum Widerspruch geneigt und an Subordination nicht gewöhnt, kümmerte sich wenig um seine Befehle und überflutete im nächsten Augenblick wieder die Straße, die der Mann der Ordnung eben erst freigelegt hatte. Wie im Frühling die auftauenden Böschungen niedergleiten und die Wege überdecken, so drängte das Volk an hundert Stellen vor und engte immer wieder den Spalt ein, in welchem der Festzug sich entfalten mußte.

Wütend rannte der Polizeidiener auf und nieder, er war allgegenwärtig, trat und stieß in die Menge hinein; aber wo immer er Ordnung schaffen wollte unter den Störrigen, erhob sich Schreien und Widerspruch. In seiner Not zog er blank und fuchtelte mit dem Eisen gefährlich in der Menge herum. Man lachte ihn aus und hätte ihm die Waffe abgenommen, wenn ihm nicht sein Freund, der Holzebein, zu Hilfe gekommen wäre.

Dieser stempelte mit seinem Stelzfuß die Hühneraugen der Zunächststehenden und schuf so Platz für die schweren Ackergäule, die blumengeschmückt den Wagen mit den Glocken hinter sich herzogen. Dann kamen die eisernen Reifen der Radkränze, und auch ihnen, die das Gewicht der Glocken in die Erde zeichneten, machte man Platz.

Als hinter diesen die Festjungfrauen, die Vereine mit ihren Fahnen, die Behörden und die Schuljugend mit ihren Lehrern wieder erschienen, war ein jeder Gaffer damit beschäftigt, aus der Menge dasjenige Individuum herauszusuchen, das ihm am nächsten stand und zu beobachten, inwiefern es sich unterscheidend oder gar hervorragend von der Menge abhob.

Jede Mutter, die ihren »Schorsch« oder ihren »Seppel« wiedererkannte, akklamierte ihn mit Stolz und machte ihre Umgebung auf diese kostbare Perle in der Ordnung des Zuges aufmerksam.

Hinter dem letzten offiziellen Teilnehmer schlug dann die Woge des Volkes zusammen, und der Haufe der Gebrechlichen und Altersschwachen, der Tauben und Einäugigen übertraf an Größe den eigentlichen Festzug um ein Beträchtliches.

So kam man vor dem Glockenturm der protestantischen Kirche an.

Gewaltige Haken, die an dicken Tauen aus den Schalllöchern niederhingen, griffen in die Kronen der Glocken. Die Räder der Flaschenzüge drehten sich. Schwerfällig hoben sich die Ungetüme von ihrem Lager und schwebten zur Glockenstube des Turmes empor. Das bot wenig mehr des Interessanten. Die Leute zerstreuten sich in die Wirtshäuser und in ihre Wohnungen. Die meisten trugen mit sich ein Gefühl der Enttäuschung. Sie hatten sich die Sache pläsierlicher vorgestellt.

Am nächsten Tage hörte man von der Höhe des Turmes den Schlag der Hämmer, das Nagen der Sägen und ab und zu ein leises Klagen der Glocken, wenn zufällig ein Handwerkszeug oder ein Span auf sie niedergefallen war. Arbeiter waren beschäftigt, die Achsen auf den Stühlen zu befestigen. Sonst ging im Dorfe alles seinen gewohnten Gang, und nur die Kränze, die welk und lebensmüde von den Häusern niederhingen, und einige Betrunkene erinnerten noch an den verrauschten Jubel des Festes.

 


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