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Neuntes Kapitel

Pfingsten war vorüber, und die Kirchweih war so nahe gerückt, daß gottbegnadete Nasen bereits den Schweinebraten rochen. Auf dem Markt strömte das fahrende Volk zusammen, das diesem Feste vorauszufliegen pflegt, wie die Schwalben dem Sommer. Die Seiltänzer rammten lange Stangen kreuzweise in die Erde und spannten armdicke Schiffstaue darüber. Der Karussellbesitzer hatte seine grünen, blauen, gelben und weißen Pferde einstweilen an die Mauer »Zum goldenen Engel« angelehnt und arbeitete an dem großen Regenschirmgestell, an dem sie später aufgehängt werden sollten. Derweilen drehte der Orgelmann mit dem Stelzfuß, um den Leuten einen Vorgeschmack dessen, was da kommen mußte, zu geben, seine Orgel, und der blinde Klavierspieler hörte zu, bis er den Takt des neuesten Walzers glücklich im Ohre hatte. Auf diese Art vervollständigte der Arme sein Repertoir und war imstande, allen denen, die nach seinem Spiel tanzen wollten, mit Neuheiten auf dem Klavier aufzuwarten.

Zwischen den Menschen trieben sich die halbgeschorenen Pudel herum, gelehrte Schweine und Geißböcke, die auf Flaschen stehen konnten. Den Boden überdeckte graues Zeltleinen, buntgestrichene Stangen und schreiend bemalte Aushängeschilder, auf denen Konradin von Schwaben enthauptet wurde, oder auch ein Krokodil einen Handwerksburschen fraß.

Da, als ob es des Guten immer noch nicht genug wäre, humpelte, von einem Pferdeskelett gezogen, noch ein weiterer grüner Wagen das Pflaster herunter. Das Brustbild des »Patrones« guckte an der vorderen Stirnseite zum Fenster heraus, rauchte eine kleine Holzpfeife und dirigierte mit einer Hand die Zügel, mit der anderen die Peitsche. Für einen Augenblick ruhten all die fleißigen Hände, die auf dem Marktplatz beschäftigt waren. Man ließ fallen, was man eben aufgehoben hatte und eilte zum Wagen, den »alten Fritz« zu begrüßen, der das Wunder des neunzehnten Jahrhunderts, das allerdings schon im achtzehnten geboren war, das Riesenkind Evelina bringen sollte.

Zum allgemeinen Leidwesen erfuhr man die betrübende Nachricht, daß dieses zwischen der Kirchweihe zu Aglasterhausen und Osterburken im Badischen leider Gottes an Altersschwäche gestorben sei. Dieser schwere Schicksalsschlag mußte nach menschlicher Berechnung den »alten Fritz« mit seinen siebzig Jahren zum hilflosen Waisenkinde machen und ihn von den Bahnen der Kunst in irgendein Armenhaus zurückwerfen. Deshalb war die Trauer unter seinen Kunstkollegen im ersten Augenblick eine ebenso tiefgehende wie allgemeine und erstreckte sich ebensosehr auf den Hinterbliebenen wie auf die Heimgegangene, bis man zu seiner großen Freude erfuhr, daß es dem genialen Alten gelungen sei, einen neuen Stern aufzutreiben.

Wie und mit welchen Mitteln der routinierte Geschäftsmann sein Glück zu machen gedachte, war zunächst das Geheimnis weniger Intimen, wanderte aber bald die vertrauliche Straße vom Mund des einen zum Ohr des andern und erzeugte allenthalben unter den Kunstkollegen fröhliche Gesichter.

Den ganzen Vorgang umstand natürlich mit offenem Munde die Dorfjugend, und es ist selbstverständlich, daß der Held unserer Geschichte sich gleichfalls als Neugieriger im Volkshaufen befand.

Im Laufe des nächsten Tages, der ein Sonnabend war, stand bereits die improvisierte Stadt aus Zeltleinen und nur hie und da war an dem Eingang zu den Sehenswürdigkeiten noch eine Lampe anzubringen, oder ein Reflexspiegel, um am Abend die fromme Lüge gläserner und messingener Herrlichkeit noch zu vergrößern.

Die geschäftige Fama hatte von dem Geheimnis des »alten Fritz« so viel durchsickern lassen, daß man wußte, es habe derselbe etwas, was in Europa noch nie da war, einen leibhaftigen Menschenfresser mitgebracht und er werde denselben in voller Tätigkeit vorführen. Der Michael Hely, der wohl wußte, daß er aus Mangel an Kleingeld in legitimer Weise keinen Zutritt zu all diesen staunenerregenden Merkwürdigkeiten finden würde, suchte als Vorempfang herauszuschlagen, was herauszuschlagen war. Als die Künstlergesellschaft sich zum Abendschoppen in den umliegenden Wirtschaften versammelte, schlich er sich an die Seite der Menschenfresserbude, dahin, wo der Mond einen dichten Schlagschatten warf, löste an der unteren Horizontallatte einige Nägel los, legte sich auf den Bauch, hob die Leinwand und streckte auf die Gefahr hin, bei lebendigem Leibe verschlungen zu werden, den Kopf ins Innere des Zeltes. Zu seiner großen Überraschung fand er, daß außer seinem eigenen Schädel nichts weiter in der Bude war. Also, schloß er, mußte das Ungetüm noch in dem Wagen sein, und er machte sich auf, diesen zu untersuchen. Er kroch unter die Räder und lauschte. Er hörte nicht das geringste. In einer der Bodendielen war ein Astloch; er streckte den Finger hinein, dann ein Reisig und zuletzt ein Stück von einer brennenden Wachskerze, so daß er das Innere erleuchtete und die Möglichkeit gewann, den Raum zu durchmustern. Nirgends war die Spur von einem Indianer. Dagegen hingen von der Decke herunter ein Paar Mokassins aus Kaninchenfellen und ausgefranste Hosen, die an den Seitennähten mit Gänsefedern auf das phantastischste ausstaffiert waren.

Drüben saß beim scheelen Eilfnersjockel der »alte Fritz« mit seinen beiden Gehilfen und würfelte mit dem Holzebein, einem Invaliden aus den Befreiungskriegen. Man sah sie durch die offenen Fenster in der erleuchteten Stube sitzen. Aber wo war der Indianer? Vielleicht hat niemals ein Gelehrter über die Quadratur des Kreises so intensiv nachgedacht, wie der Dorfteufel über diese offene Frage. Da man von dem Heute keine Antwort mehr erwarten konnte, so hoffte er auf das Morgen und ging grübelnd nach Hause.

Der Sonntagvormittag mit seinem Hochamt und der Festpredigt war zum Sterben langweilig. Die Begierde zu erfahren, wie das Kaninchen schmecken würde, das die Mutter in den Topf gesteckt hatte, und die Erwartung dessen, was der Nachmittag bringen mußte, streckten jede Minute zu einer Viertelstunde, so daß der Knabe, wie er so mit seinen Schulkameraden im Chore kniete und mit seinem Rosenkranze spielte, zu der Überzeugung kam, daß selbst die Zeit zu seinen Gegnern gehöre, weil sie so gar nicht herumgehen wollte, heute, wo ihm einmal etwas Gutes winkte.

Endlich war der Pfarrer fertig, und in einem schwarzen Strom ergoß sich die Schar der Andächtigen zwischen den Stühlen hin, der weitgeöffneten Kirchtür zu. Auf allen Gesichtern lagerte breit und behaglich die Festesfreude. Grüßend winkte einer dem anderen zu, und Auswärtige, die der Duft des Festes herbeigelockt hatte, drängten auf die Ortsangesessenen zu, drückten ihnen die Hand, lachten und schwatzten und das ganze Treiben glich mehr dem zwischen den Buden eines Jahrmarktes üblichen, als dem eines Gotteshauses würdigen. Vor der Tür staute sich die Menge auf dem Pflaster. Man beglückwünschte sich gegenseitig zu dem schönen Wetter, verabredete, wo man sich im Laufe des Nachmittags treffen wolle und wünschte sich einen guten Appetit, obwohl man besser getan hätte, sich eine Magenerweiterung zu wünschen, die Raum geschafft hätte für das, was der ohnedies schon zu gute Appetit dem Körper zuführen mußte. Jetzt hatte man auch die Kinder aus der Kirche entlassen. Lachend und scherzend ergossen sie sich in muntern Sprüngen über die Kirchentreppe, so wie der Waldbach plätschernd über die Felsen springt und wie dieser sich zwischen bemooste Steine verliert, so verschlüpften sie sich unter den Gruppen der grauhaarigen Erwachsenen, kamen einzeln an weit entfernten Stellen wieder zum Vorschein und eilten nach Hause, jedes voller Begierde zu erkunden, was die heutige Mittagstafel bringen würde.

Zur Essenszeit schien das ganze Dorf wie ausgestorben. Nirgends in den sonnendurchleuchteten Straßen war ein Mensch zu sehen, ja nicht einmal ein Hund oder eine Katze. Alles, was Beine hatte und nicht angebunden war, drängte sich um die Tische, die sich unter dem Gewichte des Schweinebratens beugten und zu brechen drohten. Welch ein Fest! Wie stempelt doch die Entbehrung verhältnismäßig geringfügige Dinge, die der Reiche alle Tage hat, zu hohen Festgenüssen! Wie lobte man die Hausfrau, wie beglückwünschte man den Hausherrn, der eine Fran sein eigen nennt, die so zu kochen, so zu backen versteht!

Nach dem Essen setzten sich die Alten auf die Bank vorm Hause oder auch auf geschälte Fichtenstämme, die den Häusern entlang lagen. Man war zu unbehilflich zum Laufen geworden; man rauchte und erzählte sich von vergangenen Zeiten. Die Jugend aber war nicht zu halten. Sie eilte auf den freien Platz im Dorfe, wo die Reitschule sich unter Orgelschall zu drehen begann, wo die Trompetenklänge des Seiltänzers ankündeten, daß es gleich los gehen könne, wo Trommelwirbel, Cymbalschläge, das Geschrei der Ausrufer und klatschende Flintenschüsse aus den Schießbuden sich zu einem wahren Konzert der Hölle mischten, dem nur das derbe Trommelfell der Bauernohren, ohne zu platzen, stand halten konnte.

Auch der »alte Fritz«, der das Äußere seiner Bude mit haarsträubenden Szenen aus Coopers Lederstrumpf und Robinson Crusoe dekoriert hatte, suchte sich in dem betäubenden Lärm Gehör zu verschaffen. Während er mit seinem scharfmarkierten Künstlergesicht und seinem in lange Spitzen gedrehten Schnurrbart unter den Fransen des halb gerafften streifigen Vorhangs saß, stak der eine seiner Gehilfen in einem weißen Harlekinanzug mit apfelgroßen, knallroten Knöpfen. Er hatte sich den Kopf über und über mit Mehl gepudert und auf jede Backe ein Dreieck aus rotem Papier aufgeklebt. Die Mundöffnung hatte er durch rote Schminke vergrößert und die Schleimhaut der Wangen durch den Genuß von Heidelbeeren schwarz gefärbt. Wenn er nun die Kiefer voneinander entfernte, so hatte der Beschauer durch die Kontrastwirkung von hell und dunkel den Eindruck, als ob er vor einem Kellerloche stehe. Daß dieser Hanswurst, indem er die Sehenswürdigkeiten des Institutes – dem anzugehören er die hohe Ehre hatte – hervorhob, wie ein halbausgewachsener Löwe brüllte, ist zu selbstverständlich, als daß man es besonders hervorzuheben nötig hätte. So sammelte sich denn vor diesem seltenen Exemplar der Spezies » Homo sapiens« ein Haufen Volk, Kinder mit sehnsuchtsvollen Blicken, kichernde Mädchen, derbe Bauernburschen, den Daumen und Zeigefinger der rechten Hand bereits in der Westentasche. Alle begnügten sich zunächst damit, den Ausrufer gebührend anzugaffen und empfanden ein wenig zurückgehaltenes Entzücken darüber, daß man dies ohne jegliches Entgelt beliebig lange fortsetzen könne. Unfähig, auf zwei Leitungen gleichzeitig ihrem Gehirn die äußeren Eindrücke zu übermitteln, mußten sie sich zuerst einmal satt gesehen haben, ehe sie zuhören konnten.

Allmählich erholte sich der eine oder der andere von seinem berechtigten Erstaunen soweit, daß er verstand, was der Ausrufer eigentlich wolle und gestachelt von der prickelnden Begier, einen Menschenfresser in Aktivität sehen zu dürfen, löste sich einer nach dem anderen von dem Haufen los, zahlte an der Kasse seinen Obolus und verschwand im geheimnisvollen Dunkel hinterm Vorhang.

»Kommen Sie, kommen Sie,« mahnte der Ausrufer seine Stimmittel verstärkend, immer dringender. »Nur zehn Mann fehlen noch zur erforderlichen Zahl, wegen zwanzig Personen ist es nämlich nicht der Mühe wert, einen Handwerksburschen verzehren zu lassen. Kommen Sie meine Herrschaften, aber rasch!« Während nun der Schlaumeier den weiblichen Teil seiner Zuhörerschaft durch ein gewinnendes Lächeln heranzuziehen suchte, zerrte er eine Anzahl Kinder an den Kleidern hinter sich nach und trieb die Männer mit belehrenden Fußtritten vor sich her der Kasse entgegen.

Nachdem das Haus soweit gefüllt war, als man für nötig hielt, um ein Geschäft zu machen, verschwand der Kassierer und gleichzeitig der Bajazzo mit der Trommel vom Podium. Gleich darauf begann im Innern der Bude ein ohrenzerreißender Spektakel, bei dem die ungeheuerlichsten Musikinstrumente eine betäubende Rolle spielten. Solcherart wurde das in dem Halbdunkel des Zuschauerraumes sitzende Publikum in eine spannungsvolle Erwartung gebracht, die ihm eine Gänsehaut über den ganzen Rücken spannte. Nach dieser musikalischen Ouvertüre hörte man in dem Nebenraum ein unheimliches Kettengerassel und schloß daraus mit Fug und Recht, daß nun der Wilde von seinen Fesseln befreit demnächst vor aller Augen auf der Bühne erscheinen werde.

Wirklich, da stand er, ein Bild voller Grausen. Die Gänsefedern wuchsen ihm direkt aus dem Schädel heraus. In dem kupferbraunen Gesicht wälzte sich das Weiße zweier Augäpfel so groß wie Hühnereier unheimlich hin und her. Die Nase war gebogen wie ein Geierschnabel und ihre Spitze sah zwischen den roten Wulsten der Lippen in einen fürchterlichen von scharfen Zähnen starrenden Rachen herein, entsetzlich wie der eines Haifisches. Den Oberkörper deckte ein mit kühnem Schwunge über die Schulter geworfener Fetzen aus gestreiftem an den Rändern ausgefranstem Wollstoff, während die federbesetzten Hosen, die wir bereits von früher kennen, die Beine überkleidend, sich in die pelzbesetzten Mokassins verloren. Hatte der greuliche Menschenfresser anfangs vollständig steif gestanden, so begann er jetzt nach dem Taktschlag eines Tamburins einen Kriegstanz zu stampfen, wobei er mit der Keule und dem Speer in gefährlicher Weise in der Luft herumhantierte. In der höchsten Ekstase der Wut schleuderte er die Lanze zur Erde, griff nach dem Gürtel und warf über die Köpfe der Zuschauer hinweg den mit Silberpapier überzogenen Tomahawk aus Pappedeckel nach einem entfernten Ziele, so daß jeder Mann und jede Frau im Parterre wie Gänse beim Gewitterregen ängstlich die Hälse einzogen. Solch haarsträubende Leistungen bereiteten die Stimmung vor und gewöhnten allmählich die Zuschauer an den Gedanken, Augenzeugen einer Kannibalenmahlzeit sein zu dürfen, so daß man eigentlich, nachdem der Wilde für einen Augenblick abgetreten war, ruhiger als man dies von sich selber geglaubt hatte, dieser Hauptnummer des Programms entgegenharrte.

Man war deshalb höchlich erstaunt, ja fast entrüstet, als vor Beginn des zweiten Aktes der Intendant auf den Brettern erschien und ankündigte, daß leider Gottes durch ein Versehen der Handwerksbursche augenblicklich nicht in der Lage sei, sich auffressen zu lassen, da er noch nicht gebeichtet habe und man ihn doch unmöglich in seiner Sündenlast als reines Teufelfutter direkt in die Hölle befördern könne. Des weiteren erklärte er, daß das Versäumte innerhalb der nächsten Stunde nachgeholt werden solle und daß darum das verehrliche Publikum höflichst gebeten werde, sich zu den Abendvorstellungen noch einmal einzufinden. Übrigens habe die Direktion nicht versäumt, den hochmögenden Herrschaften für den Ausfall der einen Programm-Nummer einen ausreichenden Ersatz zu bieten und bitte dringend, sich noch einen Augenblick gedulden zu wollen.

Derart höfliche Worte, unterstützt durch religiöse Rücksichten, die man dem Handwerksburschen, als einem ehrlichen Christenmenschen schuldig war, verfehlten ihren Zweck nicht. Man fand den Aufschub zwar bedauerlich, aber immerhin erklärlich und beschloß, sich mit dem zu begnügen, was als Ersatz des Ausgefallenen versprochen war.

Gleich darauf erschien der Wilde wieder, diesmal ohne den Schmuck der Waffen. Er hatte ein ausgestopftes Kaninchen zwischen den Fingern und zerrte, während der Intendant mit virtuoser Naturtreue die Todesklage eines solchen Geschöpfes nachahmte, mit den Zähnen an dessen Fell herum. Bei diesem Geschäfte beschmierte er sich dann das Gesicht mit Hausrot, so naturgetreu, daß in der Tat bei seinen Zuschauern die optische Täuschung entstehen konnte, es sei vor ihren Augen ein lebendes Tier mit Haut und Haar aufgezehrt worden.

Nachdem die Theaterbesucher auf diese Art, wenn auch kein Menschenblut, so doch wenigstens Blut gesehen zu haben glaubten, erklärten sie sich zufrieden und verließen den Kunstpalast.

Draußen hatte sich, angelockt durch die geheimnisvollen Töne, die von Zeit zu Zeit aus dem Innern drangen, der Haufen eher vergrößert als verkleinert. Da waren hochangesehene Männer wie der Schuster Ranz vom Gemeinderat, der Stangefranz, ein Mitglied der Feldbereinigungskommission, und der Kappehannes, seines Zeichens ein Mützenmacher, alle drei Männer von ungewöhnlichen Geistesgaben, die deshalb der Volkswitz die drei Weisen aus dem Morgenlande nannte. Diese Erleuchteten berieten allen Ernstes, ob es gesetzlich zulässig sei, einzig nur zum Zwecke einer frivolen Schaustellung das Leben eines armen Handwerksburschen zu opfern.

Doch es gab in der Menge auch Zweifler, welche die Sache für Humbug erklärten und der Meinung waren, man solle zunächst den Bericht derer abwarten, die der ersten Vorstellung beigewohnt hatten.

Zwischen den Gläubigen und Ungläubigen trieb sich ein einziger Denker herum und dies war der Dorfteufel. Ihm war es aufgefallen, daß der alte Fritz mit zwei Gehilfen angekommen war. In dem Bajazzo erkannte er den einen, wo aber war der andere? Im Wagen war er nicht, da hatte er bereits nachgesehen; also mußte er in dem Leinwandzelt sein. Diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen, das war's, was er sich für den Nachmittag zum Ziele gesetzt hatte.

Gleich neben dem Zelte drehte sich um eine alte Orgelfrau als ihren Mittelpunkt die Reitschule. Für ihn war sie nicht da, er hatte kein Geld, sie zu benutzen. Drüben im zweiten Stock der Wirtschaft »Zur Starkenburg« sah man die dampfenden Paare kreisen, und aus dem weit geöffneten Fenster strömten heiße Passatwinde, über und über gesättigt mit Blechmusik. Wahrscheinlich, daß es ihm Freude bereitet hätte, ein wenig zuzusehen, allein der Eintritt war Schulknaben verboten. Was sollte er treiben? Zufällig fand er irgendwo einen Zigarrenstummel, den setzte er in Brand und nun kreiste er, wie die Motte um das Licht, beständig um das eselsgraue Zeltleinen, angezogen von dem Geheimnis der Bude.

Da geschah es, daß sich mit einem Male an der Leinwand eine sanfte Vorwölbung bildete, die in verschwommenen Umrissen die Gestalt eines Menschen formte und aussah, wie die schlechte Prägung eines Merkur auf einer antiken Münze. Wie es kam, wußte der junge Hely nun selber nicht. Ohne daß er sich die Folgen überlegte, hatte ein Gedanke, der wie ein Blitz sein Gehirn durchleuchtete, den Weg zur Tat gefunden. Mehr aus Spielerei als in der Absicht einen Schelmenstreich auszuführen, hielt er die brennende Zigarre gegen die prominenteste Stelle der rätselhaften Erscheinung und erfreute sich an den bläulichen Rauchwolken, die sich unter derselben hervorstahlen, bis mit einem Male ein entsetzlicher Angstschrei seine lyrische Seelenstimmung in ungeahnter Weise zerstörte, so daß er ängstlich der Schallrichtung nacheilte und so schnell er konnte um die Ecke des Zeltes bog.

Hier gewahrte er in zappelnder Bewegung einen unförmlichen Klumpen Menschenfleisch, der wie eine von der Angelschnur des Fischers aufs Trockene geworfene Qualle, fortwährend Arme und Beine ausstreckte, fliehen wollte und doch nicht vom Platze kam. Auf dem Podium der Bude aber, erhaben über das Erdenwimmeln unter ihm, da wo vorhin noch still und friedlich der Bajazzo thronte, da sprang der Wilde, mit beiden Händen sein Hinterteil bedeckend, auf und nieder und gab sich alle Mühe aus seiner Haut zu fahren. Bis auf die Hosen war ihm dies bereits gelungen. Diese aber sowie die Mokassins an seinen Füßen leisteten hartnäckigen Widerstand, zumal, da es ihm der Brandwunde wegen nicht möglich war, sich niederzusetzen. »Er rief die Menschen an, die Götter, sein Flehen drang zu keinem Retter,« da die wilde Übermalung seiner Gesichtszüge ein unheimliches Grausen gebar und die ängstlichen Gemüter der Dorfbewohner noch immer in ehrfurchtsvolle Entfernung bannte.

In seiner Hilflosigkeit warf er nun alle Rücksichten über Bord und einzig nur von dem Verlangen getrieben, seine feuergefährlichen Hosen vom Leibe zu bekommen, erklärte er vor allen Ohren, die ihn hören wollten, daß er gar nicht der Indianer Umu-Guggu-Waiha sei, für den man ihn ausgegeben, sondern Philipp Lebkuchen aus Großzimmern bei Darmstadt, der eheliche Sohn eines ehrlichen Zinngießers. Auch fügte er bei, er selber wolle lieber wieder Löffel gießen. Unter solchen Umständen möge der Teufel den Wilden machen, der sei feuerbeständiger als er.

Da er nun bereits einen Teil der Schmiere aus seinem Gesicht gewischt hatte, so fand er endlich Glauben; einige Verwegene wagten es, sich schüchtern zu nähern. Mitleidige Seelen brachten Wasser herbei, das er abwechselnd benutzte, um sein Gesicht zu waschen und sein Gesäß zu kühlen.

Unterdessen hatte sich der Menschenknäuel auf dem Pflaster entwirrt. Einige erhoben sich und lachten über den ausgestandenen Schrecken, andere schämten sich und schlichen von dannen. Drei aber blieben länger liegen, als nach der Ansicht der Zuschauer nötig gewesen wäre, nachdem doch die Situation sich so erfreulich geklärt hatte.

Diese waren keine geringeren als die drei Weisen aus dem Morgenlande. Auf der Flucht hatten sie einige Kinder niedergetreten, waren selber zu Fall gekommen und über ihren Körper türmte sich dann die Masse der Nachstürmenden. Als dieses Häufchen erleuchteten Elends sich immer noch nicht erheben wollte, griff man endlich zu und schleppte die drei orientalischen Majestäten, von denen der eine hinkte, der andere gar nicht gehen konnte und der dritte mit Nasenbluten behaftet war, nach der Spelunke »Zum vergnügten Sägebock«. Allda befeuchtete man sie äußerlich ein wenig mit Wasser und innerlich etwas mehr mit altem Zwetschgenschnaps und besprach inzwischen das fatale Ereignis, seine Ursachen und Folgen, die beide unterdessen sich genügend aufgeklärt hatten.

In der Wirtsstube mit der rauchgeschwärzten Decke lag eine wahre Wolke von Unmut und Ingrimm, aus der in scharfen, zischenden Lauten Blitze zuckten, die auf die nächste Zukunft des Michael Hely schauerliche Reflexe warfen.

Der ehrsame Zunftgenosse von Hans Sachs tat einen bis dato noch ganz unerhörten Fluch und wünschte, daß ein Milliondonnerwetter den Lausejungen durch Sonn' und Mond durchschlagen möchte.

Etwas milder gesinnt als sein Vorredner verschwur sich der Stangefranz bei Gott und allen vierzehn Not-Helfern, daß er dem Satansbengel, sobald er seiner ansichtig würde, ein Bein aus dem Leibe reißen wolle.

Der Kappehans endlich, dessen Redefluß durch ein sanftes Nasenbluten störend unterbrochen wurde, seufzte tief und drückte, die Augen wie im Gebet erhebend, den Wunsch aus, daß Gott ein Einsehen haben und dieses gemeingefährliche Ungetüm zu sich in den Himmel nehmen möchte.

Nach diesen Stoßseufzern hörte man nur noch ab und zu ein leises: »O Jerum, o Jerum!« bis nach einigem Nachdenken in obiger Reihenfolge die wohlwollenden Ansichten zum Vorschein kamen:

»Zu Wurst gehört er zerhackt.«

»In einen Eselsdarm gefüllt.«

»Und vor die Hunde geworfen.«

Gerade war dieser Kollegialbeschluß verkündet worden, als der »alte Fritz« in die Schenke trat. Er hatte jetzt mehr Zeit als ihm lieb war. Sein Geschäft lag danieder. Er war ein ruinierter Mann. Schweigend setzte er sich in die Ecke neben die Einschenk an dieselbe Stelle, von der aus er am gestrigen Abend noch der ganzen lustigen Tafel von Kunstgenossen präsidiert hatte. Ohne daß er zu bestellen brauchte, setzte der Wirt ein kleines Gläschen Kognak vor ihn auf den Tisch, denn er kannte die Neigungen seines Gastes seit Jahren, Dieser schien den Lippentriller kaum zu beachten, er war für äußere Eindrücke offenbar unempfindlich. In seinem Innern, da fochten Trauer, Scham, Zorn und Reue einen heftigen Kampf aus, der je nach der größern Siegeschance der kämpfenden Seelenstimmung dem zu mimischer Ausdrucksfähigkeit erzogenen Gesichte ein anderes Aussehen verlieh.

Jetzt hingen dem Alten die Augendeckel tief herunter, die Cilien überschatteten die Höhlen und in den äußeren Augenwinkeln bildeten sich zahlreiche kleine Fältchen, die wie die Strahlen eines Heiligenscheines von einem Punkte ausgingen und divergierend nach außen strebten. Die Mundwinkel hingen schlaff herab und selbst das knöcherne Gerüst der Nase schien nachgiebig, so daß deren Spitze sich wie der Zweig einer Trauerweide nach dem Boden sehnte. Offenbar war er traurig und dachte des heimgegangenen Riesenkindes und was es ihm gewesen in Liebe und Treue durch all die Jahrzehnte des Umherziehens. Wie konnte er Arm in Arm mit ihr sein Jahrhundert in die Schranken fordern, nach außen geachtet, nach innen wohl arrangiert durch ehrlich erworbenen Lohn! Und jetzt!

Hier veränderte sich sein Gesicht. Der Mund verzog sich ins Breite, die Nase richtete sich auf, die Augen öffneten sich ein wenig, die seitlichen Fältchen glätteten sich, aber gerade über der Nasenwurzel entstanden drei tiefe Furchen, die ebenso vielen Erhöhungen entsprachen und bildeten aus der Stirn eine Reliefkarte von zwei hell erleuchteten Ebenen rechts und links und einem stark zerklüfteten Gebirgszug in der Mitte. Er schämte sich, daß er in seinen alten Tagen noch von der festen Straße des redlichen Erwerbs auf den schlüpfrigen Pfad des Betrugs herabgeglitten war. Aber lebte nicht er und alle seine Zunftgenossen mehr oder minder von der Vorspiegelung falscher Tatsachen? Mußte dieses gerade bei ihm offenkundig werden? War es denn nicht einerlei, ob dem Publikum ein echter oder unechter Wilder vorgeführt wurde? Wenn sie nur an den unechten glaubten, nun gut, so war der für sie eben ein echter, und damit war alles im reinen. Es gab weder einen Betrogenen noch einen Betrüger! Wenn nur dies Stoppelkalb, nachdem es doch einmal angebrannt war, nicht gebeichtet hätte!

Im Kommen und Gehen der Gedanken trat wieder ein Kulissenwechsel in seinem Gesichte ein. Über die ganze Stirn herüber legten sich tiefe Furchen, so daß diese wie ein frisch gepflügter Acker aussah. Die Haut der Augendeckel, über Gebühr zu Faltung der Stirn herangezogen, verkürzte sich und zeigte den Augapfel nach oben gerollt, so daß wenig mehr als das Weiße sichtbar war. Die Zähne knirschend aufeinandergepreßt ließen die Kaumuskeln kantig hervorspringen. Alles im Gesicht wurde eckig und nur das Kinn, stark gegen die Wirbelsäule herabgedrückt, erhielt Sukkurs von der Haut des Halses, so daß es etwas runder und voller erschien als vordem.

Wie war er aber auch dazu gekommen, ein solches Rindvieh aus Großzimmern auszuwählen! Warum hatte er sich nicht für den Valtin Korzeborn aus Gräfenhausen entschieden, den er hätte haben können, und der zweifellos ein besserer und diskreterer Wilder geworden wäre? Es war unbegreiflich! Er schlug sich mit der Faust vor die Stirn, sprang auf, stürzte seinen Kognak hinunter und eilte über die Straße, um seine Bude abzubrechen.

Als er fort war, kam auch der angebrannte Philipp Lebkuchen in das Künstlerheim. Er machte trotz seines süßen Namens ein sauer Gesicht, verzehrte im Stehen, – was man nach dem Vorausgegangenen gewiß verzeihlich finden wird, – ein Paar Knoblauchswürste, zahlte und hinkte, als es bereits zu dämmern begann, zum oberen Tore der Feststadt hinaus.

Eine halbe Stunde später zog man das Pferdeskelett aus dem Stall, schirrte es an, und bald darauf schwankte im verklärenden Dämmerschein des aufgehenden Mondes der grüne Wagen des »alten Fritz« zum untern Tore hinaus.

Als das Tageslicht wiederkam, sah man auf dem Festplatz zwischen der Waffelbude und dem historischen Kabinett eine Lücke, die aussah, als ob in einem sonst tadellosen Gebiß ein Zahn fehle, für jedes ästhetisch geschulte Gemüt gewiß ein störender Anblick.

Wie andere Menschen, so benützte auch der Dorfteufel, wie ihn heute jedermann nannte, den Kirchweihmontag zum Ausschlafen und als er so gegen acht Uhr die Augen endlich aufschlug, sah er den Nägele vor seinem Kasten sitzen, der, wie es schien, auf sein Erwachen gewartet hatte. Sein Gesicht sah etwas bleifarben und zweifelhaft aus, wie der Himmel an einem Novembertag, wo er nicht weiß, ob er für einige Stunden den Regen oder die Sonne gewähren lassen soll. So sehr sich der würdige Dorfbarbier auch Mühe gab, über seine Züge – den ernsten Eröffnungen, die er zu machen hatte, entsprechend – düstere Schatten zu lagern, so leuchtete doch aus seinen Augen so etwas, das wie Schadenfreude aussah, und wenn er sich ehrlich Rechenschaft gegeben hätte über das, was ihn heute hierherführte, so hätte er sich eingestehen müssen, daß es eher das Verlangen war, sich an der Seelenqual seines Spielzeuges zu weiden, als diesem nützlich zu werden.

Mit vieler Weitschweifigkeit begann er dem wie betäubt auf seinen Hobelspänen ausgestreckten Knaben auseinander zu setzen, in welcher Weise die drei Weisen aus dem Morgenlande mit ihm zu verfahren gedachten.

Nach seiner Kenntnis der Anatomie und hochnotpeinlichen Halsgerichtsordnung könne man mit Vorteil sich zur Vernichtung eines Menschen des Rades bedienen, den Missetäter darauf flechten und dieses einen hohen Berg hinabwälzen, wodurch dann das Knochenbrechen so quasi von selbst, ohne menschliches Zutun von statten ginge. Er bezweifle jedoch, daß die Gekränkten diesen Weg einschlagen würden, denn einerseits seien die Berge des Odenwalds doch nicht genügend steil, und dann glaube er auch nicht, daß der Schuhmacher Ranz ein anderes Rad besitze als ein recht baufälliges Schubkarrenrad und dieses sei zu dem beabsichtigten Zwecke doch nicht recht geeignet. Viel wahrscheinlicher sei es ihm, daß derselbe von jetzt an beständig einen Schälprügel von der Länge eines Stuhlbeines mit sich führen würde und daß er ihm damit, wenn er ihm zwischen Tag und Dunkel zufällig begegnen sollte, bei den größern Röhrenknochen beginnend, das ganze Skelett zermalmen würde, so daß er nachher, ohne jede Möglichkeit sich zu erheben, daliege wie eine abgezogene Kuhhaut.

Freilich fügte er zur Beruhigung hinzu, daß damit voraussichtlich auch das Schlimmste überstanden sei, denn das Beinausreißen, womit ihn der Stangefranz zu beglücken gedächte, sei – freilich nur im Verhältnis zu der vorausgegangenen Prozedur – eine durchaus harmlose Sache. Viel ängstlicher mache ihn seinethalben eine andere Erwägung.

Nach einem Paragraphen des katzenellenbogischen Landrechts, das hier zuständig sei, ließe sich die Tat von gestern, von der er persönlich annehme, daß sie unüberlegterweise geschehen sei, als durchaus beabsichtigte und in ihren Folgen reichlich erwogene Brandstiftung charakterisieren, ein Verbrechen, auf dem, so viel er sich erinnere, die Todesstrafe oder Zuchthaus bis zu zweihundert Jahren stehe. Übrigens, fuhr er fort, sei es für ihn immer noch vorteilhafter, in die Hände der Justiz zu fallen als in die des Schuhmachers Ranz, denn der sei in der Tat in seinem Zorn grausam und unerbittlich, wie Belzebub, der Oberste der Teufel.

Als der großmütige Redner sah, daß unter seinem wohlwollenden Zuspruch dem gequälten Kinde der Angstschweiß aus allen Poren brach, entschloß er sich, einige strafmildernde Gesichtspunkte in den Vordergrund der Erwägung zu rücken. So dessen Jugend, den Umstand, daß er durchaus vorschriftsmäßig geimpft sei und sein unbescholtenes Vorleben, in welch letzterem Punkte es freilich einen Unterschied machen würde, ob das Leumundszeugnis vom Lehrer oder Pfarrer ausgestellt werde.

Nach alldem faßte er zum Schlusse seine Meinung in der direkten Anrede zusammen: »In Deiner Haut möchte ich für die nächsten zwei Monate nicht stecken,« erhob sich, schlug, wie das so seine Gewohnheit war, mit der rechten Faust etwas Seifenschaum in der linken Hohlhand und tänzelte zur Tür hinaus.

Jetzt erst fand der Knabe die Tatkraft wieder, sich zu bewegen. Er kroch aus seinem Kasten, schlüpfte in seine Werktagshosen, denn für ihn waren die Kirchweihtage vorüber, und verließ durch die Hintertür das Haus. Vorsichtig suchte er die Fluren ab und kroch am Rande der Kornfelder weiter, bis er so weit vom Dorfe entfernt war, daß er sich sicher fühlte. Hier unter einem Apfelbaum, der für seine nächsten Bedürfnisse gutmütig zu sorgen versprach, überlegte er, was zu tun sei und kam zu der Überzeugung, daß er eine Zeitlang wo anders leben müsse.

»Inmittels ändert's sich,
Und man verkennet mich.«

 


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