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Zehntes Kapitel

Es kam der Abend und hüllte die Erde in seine Schleier von grauem Musselin. Dem Jungen war damit gedient. Im Schutze der Dunkelheit machte er sich auf und schlich dem Dorfe wieder zu, wo man ihn über tags kaum vermißt haben dürfte. Gleich am Eingange des Städtchens wohnte die Ihleins Lisbeth, eine Frau, die für eine Witwe gelten konnte. War ihr Mann auch nicht tot, so war er für sie doch nicht lebendig, denn er tat nichts für die Seinen und trieb sich vagabundierend auf den Landstraßen herum.

Aus der halbgeöffneten Tür ihres Lehmhauses drang an diesem Abend ein freundlicher Feuerschein und das Zwiegespräch geselliger Menschen. Vorsichtig ging der Knabe näher und erspähte in einem Gefache der alten Riegelwand ein Loch, das ihm gestattete, auf den Hausflur zu blicken, der zugleich die Küche war. Auf dem Herde loderte ein offenes Feuer um einen kleinen Kessel, der aus dem schwarzen Rauchfang an einer Kette niederhing. Der Schein der brennenden Scheite warf rote Reflexe auf eine Anzahl runzeliger Frauengesichter, die er, soweit dies möglich war, etwas verjüngte, oder ihnen zum mindesten ein freundlicheres Aussehen verlieh, als sie dies sonst wohl gehabt hätten. Die Frauen saßen zumeist auf Bündeln, die sie offenbar mitgebracht hatten und schienen sich die Zeit mit Scherzen zu vertreiben, derweilen der Kessel melancholische Weisen vor sich hinsang.

Über die um den Herd versammelten Frauen sind wir dem Leser einige Aufklärung schuldig. Sie waren ihrer sechs und kamen aus dem hinteren Odenwald. Ihr Ziel war die Rheinebene, wo sie Jahr um Jahr in der Hopfenernte Beschäftigung fanden und einige Taler verdienten, mit denen sie dann während der langen Wintermonate den Hunger von ihrer verschneiten Hütte scheuchen konnten. Sie bildeten unter sich ein Arbeitskonsortium, dem die Ihleins Lisbeth präsidierte, weil sie mit den örtlichen Verhältnissen der Rheinebene vertrauter war und durch gelegentlich eingezogene Erkundigungen die Ernteaussichten kannte. So kamen diese Kinder des wenig ergiebigen Grafenlandes in jedem Jahre um die gleiche Zeit zusammen, tranken Kaffee zu abgekochten Kartoffeln, übernachteten in der Hütte der Ihleins Lisbeth, ihr Bündel als Kopfkissen benützend, und zogen am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe weiter, eben dahin, wohin die Ihleins Lisbeth sie dirigierte. Und wenn man nun den Trupp Frauen mit den seltsam geformten Pfauenhäubchen, wie man sie in ihren abgelegenen Tälern damals noch trug, durch die Dörfer ziehen sah, so wußte jedermann, das sind die Hopfenzupfer und jung und alt freute sich über ihre Energie zur Arbeit und über den Mut, mit dem sie es wagten, sich mit Stromern herumzuschlagen, in die Fremde zu ziehen, um sich etwas zu verdienen.

Wie der von Hause verschlagene Junge die Frauen so freundlich redend im Feuerscheine sitzen sah, wurden alle insgesamt und jede einzelne für ihn ein Gegenstand der Anziehungskraft, und er wünschte sich nichts Besseres, als daß sie ihn mitnehmen möchten, denn er kannte ja, wie alle Welt, ihr Ziel. Eine Zeitlang kämpfte er mit seiner Schüchternheit; als aber der Kessel immer lieblicher sang und als die Gastgeberin bereits anfing, auf dem Rand des Herdes die Tassen aufzustellen, da half die Begierde, etwas Warmes zu essen, seinem Mut auf die Strümpfe, er trat beherzt zur Haustür hinein und brachte freimütig sein Anliegen vor. Anfangs verhielt man sich seinem Ansinnen gegenüber reserviert: man sah sich gegenseitig fragend und den Knaben mißtrauisch prüfend an. Allein die Ihleins Lisbeth, die wohl wissen mochte, was den Armen zu dem Entschlusse trieb, nahm sich seiner an und versprach für den Verwahrlosten während der ganzen Erntezeit zu sorgen. Jetzt waren alle Schwierigkeiten beseitigt, man ließ ihn zum Abendessen gerne zu, betrachtete ihn als Zunftgenossen und jede der Frauen suchte nun unter Schlüsseln, Fingerhüten und Hemdenknöpfen in ihrer Tasche, ob sie vielleicht einen blechernen Nagel fände, der für seinen Daumen passe, damit auch er sich beim Abpflücken der Hopfenblüte nützlich machen und Geld verdienen könne. Von jetzt ab war aus dem Gemüt des Kindes die Sorge wieder gebannt. Der Kleine fühlte sich sicher unter den Frauen, er dachte nur daran fortzukommen und nichts – so hoffte er – sollte ihn je wieder in die Heimat zurücktreiben. Als er gegessen hatte, setzte er sich auf einen kleinen Schemel, legte auf den Stein des Herdes seine Arme, auf diese seinen Kopf und entschlief sanft, gewärmt von der mitleidigen Flamme. Auch die anderen legten sich zur Ruhe.

Zuletzt von allen suchte die Ihleins Lisbeth ihre Lagerstätte auf. Sie war noch einmal aus dem Hause gegangen, hatte an der Helyschen Wohnung geklopft und sich die besseren Kleider ihres Schützlings geben lassen. Sie wollte, daß er an den Sonntagen in der Fremde ordentlich aussehe und sie wünschte, daß er wie ein ganzer Hopfenzupfer sein Bündel habe, wenn sie gemeinsam durch die Dörfer zögen. Sorgsam wickelte sie seine kleine Habe in einen Bogen grauen Katzenpapiers, band es mit einem Bindfaden zusammen und stellte dazu einen Krückstock ihres davongelaufenen Mannes. Der Gedanke, daß sich der arme Dorfteufel am nächsten Morgen über so viel Aufmerksamkeit freuen könne, raubte ihr noch ein halbes Stündchen ihrer Nachtruhe, dann schlief auch sie.

Am nächsten Morgen, lange vor Tag, pochte es ungestüm an ihrem Laden und sie öffnete. Draußen stand der Alters Lorenz von Hartenrod.

Er war der zweite Sohn eines Hofbauern und gehörte demnach, da das Gut nach dem katzenellenbogischen Landrecht auf den Erstgeborenen überging, zu den Enterbten. So nahezu zwanzig Jahre war er zwischen dem Hornvieh auf der väterlichen Scholle herumgekrochen, war wie dieses zur Zeit der Fütterung zur Hofraite gegangen, und wenn er und das Vieh satt waren, wieder ins Feld. Er so wenig wie seine vierbeinige Kameradschaft hatten je über ihre Zukunft nachgedacht. Sie lebten planlos in den Tag hinein und überließen die Sorgen denen, die Zeit hatten, sich damit abzugeben.

Da kam der Staat und störte dieses Idyll der Gedankenlosigkeit. Der Lorenz war vor die Ersatzkommission geladen und sollte Soldat werden. Man fragte den Schullehrer um Rat, was in so verzweifelter Lage zu machen sei. Dieser meinte: Wenn die Plattfüße nicht ausreichen sollten, den Lorenz frei zu machen, so solle er nur noch einen kleinen Bruchteil seiner Dummheit durchblicken lassen, und man werde gewiß seine Befreiung vom Militärdienste erreichen. So freundlich auch die Perspektive war, die der Lehrer mit seiner Auskunft eröffnete, so wollte man doch das Sichere dem Zweifelhaften vorziehen, da der Lorenz zum Leutumbringen absolut keinen Beruf zu haben versicherte.

Er beschloß, sich nach Eiterbach im Badischen zu verdingen, eine Stunde von seiner Heimat entfernt. Wenn dann die Kommission kam und fragte, so wußte niemand, wo er war und in der Stammrolle hinter seinem guten Namen fand sich für alle Zeiten der Vermerk: »Hält sich im Auslande auf, unbekannt wo?« Dieser vernünftige Plan hatte die Billigung aller, die man darüber zu Rat gezogen hatte – und deren waren nicht wenige – gefunden, kam aber gleichwohl nicht zur Ausführung, da sich, wie dies zuweilen geht, noch ein anderer Weg zeigte, der gangbar war.

In der Gemarkung Hammelbach, wo seit den Zeiten Siegfrieds, der dort in den Waldungen von Hagen erstochen wurde, ein reicher Mann so selten war, wie ein Haifisch in dem Mühlgraben, war ein Millionär wie ein Magnetstein vom Himmel gefallen. Niemand kannte ihn, niemand wußte, woher er kam und alle betrachteten ihn wie eine überirdische Erscheinung, mit scheuer Ehrfurcht. Freigebig streute er das Geld unter die Leute und das gefiel, aber es entfernte doch nicht so ganz das Mißtrauen, das man ihm und seinem Reichtum entgegenbrachte, bis er eines Tages erklärte, daß er der Johann Valentin Neff sei, der noch vor zwanzig Jahren im Brachfeld vor dem Dorfe die Gänse hütete. Alle Leute erinnerten sich jetzt seiner und fanden, daß er sehr viel Ähnlichkeit habe mit seinem Alten, der, wie es sich für den Vater eines so reichen Sohnes ziemte – natürlich unschuldig – im Zuchthause gestorben war. Viele rühmten sich, mit ihm befreundet gewesen zu sein, andere betonten mit Nachdruck ihre Überzeugung, daß sie den leider zu früh Verstorbenen stets für einen Ehrenmann gehalten hätten. Jeder aber fragte voller Verwunderung nach dem Herkommen des Geldes, denn man war erstaunt, daß es möglich sein solle, auch irgendwie anders als mit einem Achtelchen der Braunschweiger Lotterie Geld zu verdienen. Man erhielt die lakonische Antwort: »In Amerika liegt das Geld auf der Straße.«

Eine solche Überschwemmung der Wege mit Silbergeld hatte auch für den Lorenz etwas Verlockendes und da er ob des Soldatenlebens Grund hatte, dem Vaterlande auszuweichen und nur die Wahl hatte zwischen dem armseligen Eiterbach und Amerika, so beschloß er kurzerhand nach Amerika zu gehen und zwar mit dem Neff, der ja bald wieder dorthin zurückzukehren gedachte.

Zwar gab es Leute, die ihn vor dieser Gesellschaft warnten, weil sie wissen wollten, daß dieser Mann sein Geld nur erworben habe, weil er seine Seele dem Teufel verschrieben, und sie hatten für diese Ansicht ihre gewichtigen Gründe. An seiner Uhrkette sah man einen kleinen bleichen Totenschädel baumeln und ein Winkelmaß mit Kelle. Daraus schloß man, daß er Freimaurer sei und mit Leib und Seele dem Satan verfallen.

Die Zukunft seiner Seele machte dem Lorenz keine Sorge, konnten andere Leute die Hölle aushalten, so brachte er es auch fertig. Er war der Ansicht, daß man sich an alles gewöhnen könne. So wollte er für ein glückliches Diesseits gern dem Fürst der Unterwelt das Jenseits verpfänden, wenn auch nur mit drei Kreuzen unter dem höllischen Dokument, da er des Schreibens unkundig war. Kurzum sein Entschluß stand fest und der Tag der Abreise war nahe.

Seine gute Mutter hatte ihm sechs Hemden gemacht von Wergtuch, die so steif und unzerreißlich waren wie Sturzblech, und blaue leinene Hosen und einen nagelneuen Anzug aus ihrem vertragenen schwarzen Sonntagskleid. Auch der Lorenz hatte zur Kultivierung seines äußeren Menschen manches getan. Beim Förster hatte er sich eine blaue Feder aus dem Flügel eines Hähers auf den Hut gesteckt, hatte sich ein Paar neue grüne Troddeln an seine Pfeife gekauft und im Hag von einem Haselstrauch einen Stock geschnitten, von dem er die Rinde so losgelöst hatte, daß eine schöne weiße Spirale von unten nach oben zog. So ausgerüstet hoffte er, nicht ohne berechtigten Stolz auf jeden Amerikaner und jede Amerikanerin einen vorteilhaften Eindruck zu machen.

Was Wunder, daß er dem Tage der Abreise mit Ungeduld entgegenharrte und die erste beste Gelegenheit benützte, um die Wartezeit abzukürzen. Auch er hatte in der Abenddämmerung die kleine Schar der Hopfenzupferinnen auf dem Sandweg zwischen den Hofraiten wandern sehen und da er der Ansicht war, daß es von da, wo die Hopfen wachsen, nicht mehr weit sein könne nach Amerika, so versprach er sich eine angenehme Reisegesellschaft und beschloß, sich den Frauen anzuschließen. Den Neff hoffte er auf dem Rheinschiff zu finden.

Noch lag der Morgennebel taubengrau über dem Tale und wogte über dem klaren Forellenbächlein ungeduldig hin und her, als der Lorenz sich erhob und in seine Kleider schlüpfte. Etwas Mundvorrat legte er in den buntgewürfelten Überzug eines Kopfkissens, nahm ein Paket »A. B. Reiter« vom Fenstergesimse, steckte es in die Tasche seines Wamses, ergriff den Ringelstock und ging die Treppe hinunter, unter deren dreieckigem Verschlag bereits der Hahn hinter dem Schieber saß und mit nörgelndem Glucksen verlangte, daß man ihm öffne.

In der Küche saß seine Mutter halb schlafend vor dem Feuerloche am Herd und schob von Zeit zu Zeit das brennende Reisig unter den Kessel, gefüllt mit kochenden Rüben, dem Frühstück der Schweine. Vom Stall her hörte man das Klappern der Melkeimer und zuweilen einige höfliche Worte, die eine Magd dieser oder jener Kuh zurief, damit sie die Güte haben möge, aufzustehen und sich melken zu lassen.

Bei dem Gedanken, daß er all die Wesen, die ihm von Kindesbeinen auf so vertraut waren, für längere Zeit nicht mehr hören solle, ward es dem Lorenz doch seltsam eng ums Herz und um der Rührung rasch ein Ende zu machen, ging er auf seine Mutter zu und redete sie an: »Mutter, wenn der Vater aus dem Stall kommt, kannst Du ihm sagen, daß ich einstweilen fort wäre nach Amerika.« Seine Mutter sah ihn traurig an, hob mit der linken Hand die Schürze zu den Augen und reichte ihm leise zitternd die Rechte. »Lorenz,« sprach sie unter Schluchzen, »was sein muß, muß sein. So geh denn mit Gott, mein Sohn, und seh', daß Du reich wirst. Aber um eines bitt' ich Dich, verschreib' Deine Seele nicht dem Teufel wie der Neff.« Der Lorenz sagte: »Ja, Mutter,« und dachte bei sich: »Soll ich mich ums Kalb kümmern, bevor die Kuh beim Fassel war? Kommt Zeit, kommt Rat und je nachdem.« Dann zog er seine Hand aus der seiner Mutter, bückte sich, legte noch eine Kohle auf die Pfeife und ging zur Tür hinaus.

Draußen begegnete ihm der graue zottige Hofhund und drückte sich schmeichelnd an seine Schenkel. Er kratzte ihm ein wenig den alten ehrlichen Kopf und ging weiter querfeldein durch das Wiesental. Er hörte die Sense eines frühen Mähers durch das nasse Gras rauschen und nach und nach entwickelte sich dessen Gestalt aus der wogenden Nebelmasse. »Wohin so zeitig?« rief ihm der Mäher zu. »Nach Buffalo hintere,« sagte der Lorenz und zeigte mit dem Daumen über seine rechte Schulter. Während, seinen Gesten nach zu urteilen, sein Ziel hinter ihm liegen mußte, schritt er doch wacker nach vorwärts aus. Ein Glück für ihn, daß die weitläufige Welt wenigstens rund ist, so oder so, wenn er nur lange genug in einer Richtung weiter reiste, mußte er hinkommen wohin er wollte.

Zunächst aber kam er, wie wir bereits wissen, vor die Haustür der Ihleins Lisbeth, der er sein Vorhaben auseinandersetzte. Man nahm ihn gerne auf und ließ ihn teilnehmen an dem Morgenkaffee. Nach dem Frühstück griff jedes nach Stock und Bündel. Als letzte verließ die Ihleins Lisbeth, ihre Tochter an der Hand, die Wohnung. Sie schloß die Tür, steckte den Schlüssel in die Tasche und empfahl das Haus dem Schutze des heiligen Florian, der es vor Feuersgefahr schützen sollte; vor Einbrechern und Räubern schützte es die eigene Dürftigkeit, weshalb man den Schutzpatron der Diebe, den heiligen Crispinus, nicht zu belästigen brauchte.

 


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