Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel

Im Dorfe wohnte ein Steuereinnehmer, ein netter Mann, fast zu nett, jedenfalls aber netter, als er bei einem Einkommen von dreißig Gulden monatlich, zu einer Zeit, wo man drei Eier für einen Kreuzer kaufte, an und für sich zu sein brauchte. Außer seinem festen Gehalt hatte er sogar noch ein kleines Nebeneinkommen, das er seinem Fenster verdankte.

Dieses kostbare Fenster ging nämlich auf die Landstraße hinaus und gerade an der Stelle, wo sich der Schlagbaum befand. Kam nun ein Wagen daher, oder ein Reiter, dessen Pferd nicht zufällig über Zirkuskünste verfügte, so staute sich ihr Lebenslauf so lange, bis jemand an dem Fenster geklopft und auf einem dort angebrachten Brette einen oder auch zwei Kreuzer als Wegzoll abgelagert hatte. War dies geschehen, so sah man wie beim Gastmahl des Nebukadnezar eine Hand erscheinen, die das Geld einstrich, und bald darauf erschien auf der Straße ein freundliches, bewegliches Männchen, öffnete den Schlagbaum, verneigte sich ein halbes Dutzendmal, wünschte allerseits glückliche Reise und verschwand, während die Reisenden weiterzogen, wieder in dem Hause, um dort, über endlose Tabellen gebeugt, geduldig zu warten, bis wieder einer erschien und am Fenster klopfte. Dieser Nebenberuf eines Zöllners war gewiß nicht zu verachten, zumal er, abgesehen von dem Nachtdienst, kein schwieriger war und in manchen Monaten die horrible Summe von dreißig bis vierzig Kreuzern einbrachte.

Aus alledem wird soviel klar, daß unser Mann zu den Beneidenswerten gehörte, die an sich nicht zu sparen brauchten. Und gleichwohl sparte er. Nicht aus geiziger Lust am Besitz, sondern weil er einem andern Wesen eine Freude machen wollte. Er war nämlich verlobt, der kleine Schäker, und sollte bald heiraten. So schaffte er denn allerlei an, wovon er ahnte, daß man es in der Ehe brauchen könne. Seine weitausschauende Vorsicht begnügte sich nicht damit, in der Küche das Löffelbrett zu füllen und einen patentierten Kartoffelschäler anzuschaffen, er dachte allen Ernstes schon an die folgende Generation und als er bei einer Versteigerung billig zu einer Wiege kommen konnte, so erstand er sie und trug sie im Triumph in seine Wohnung hinter dem Schlagbaum.

Am Tage der Hochzeit, als die junge Frau aufzog, geriet sie über die ungeschickten Veranstaltungen ihres Männchens in Verlegenheit, nicht um seinet- oder ihretwegen, wohl aber wegen der Nachbarsleute, die Gott weiß was alles von ihnen denken konnten, aber sie verzieh ihm doch, dem lieben, guten, dummen Kerl, der nicht zu wissen schien, daß man den Teufel nicht an die Wand malen darf.

Übrigens lebten sie miteinander wie Philemon und Baucis. Sie half ihm an den Amtstagen der Einnehmerei und am Schlagbaum und er machte sich, wenn auch nicht gerade mit rühmenswertem Geschick, im Garten und in der Küche zu schaffen. Was sie da miteinander gekocht hatten, verzehrten sie an dem reinlich gedeckten Tische unter Necken und Schelten, indem eines dem andern unter allerlei Vorwänden die bessern Bissen zuzuschieben suchte.

»Bin ich aber heute so satt gegessen,« stöhnte das Männchen und tat so, als ob er nur mit Aufgebot aller seiner Kräfte den Knopf am Hosenbund öffnen könne. Aber sie durchschaute seine Absicht, daß er ihr zumuten wolle, sie möge den Zipfel von der Knoblauchswurst verzehren, der noch im Teller war. Sie parierte seinen Angriff mit der kleinen Notlüge, daß ihr der Arzt untersagt habe so viel zu essen, und damit legte sie ihm die Wurst auf den Teller. Er schob sie zurück mit der pyramidalen Aufschneiderei, daß auch er zur Korpulenz hinneige, und so wanderte eine Zeitlang der Wurstzipfel herüber und hinüber, bis man auf den Einfall kam, ihn zu teilen.

Zuweilen aber bekam der gute Mann Rückfälle in das Lasterleben seines Junggesellentums. Dann reckte er sich, stellte sich auf die Fußspitzen, legte die Hände auf dem Hinterkopf ineinander und erklärte nun von oben herunter seiner kleinen Frau: »Heute werden wir wieder einmal liederlich sein.« Dieser Pluralis war jedoch keineswegs so zu verstehen, als ob seine Frau mit inbegriffen sein sollte. Nein, es war der reine Pluralis majestaticus und er war mit einer so gewichtigen Betonung vorgetragen, daß man im Ernste meinen konnte, der Steuereinnehmer besäße ein Königreich, das im Gebiete von Lobenstein oder sonstwo gelegen wäre. Nach einer solch kategorischen Erklärung küßte er dann seine Frau so ausgiebig, als ihm dies bei dem Umstände, daß sie bekleidet vor ihm stand, möglich war, vertauschte seinen Hausrock mit einem Kleidungsstück, das er seinen Kneipkittel nannte, und ging zum Kaufmann Schmitt ins Nebenzimmer. Dort traf er von den Honoratioren des Dorfes den Apotheker und den Schullehrer Schneider, die schon eine geraume Weile dasaßen und nach der Tür schauten, ob nicht bald ein dritter Mann erscheinen möchte, damit sie »Franzefuß« spielen könnten, um den horrenden Einsatz von Kaffeebohnen.

Als der Steuereinnehmer erschien, begrüßte man ihn mit Freuden, und es dauerte nicht lange, so ertönten die Faustschläge auf dem Tisch und die korrigierenden Bemerkungen flogen oft in erregtem Tone herüber und hinüber gerade so, als ob man um ein Kindsvermögen spielte.

Wenn der glückliche junge Ehemann am Schlusse eines solchen Hasardspieles ein Häufchen Kaffeebohnen in eine Tüte von Katzenpapier streichen konnte, dann glänzte sein Gesicht wie ein neuer Kronentaler, und dieser Schimmer überdauerte die Nacht und leuchtete noch am nächsten Morgen, wo er mit seiner lieben Frau am Kaffeetisch saß und das Extrakt von seinem Gewinn mit Kennermiene auf seiner Zunge zerdrückte.

Ja, sie waren glücklich, die zwei braven Leute und ehrbar und ihr ganzes Benehmen bewies, daß im Gegensatz zu der Ansicht der Bibel auch Steuereinnehmer und Zöllner rechtschaffene Menschen sein können.

Wie schrecklich ist es doch, daß ein ganz klein bißchen Eitelkeit dies blühende Glück vernichten konnte.

Die junge reizende Frau war aus Rheinhessen.

Wie andere Menschen, liebte sie die Scholle, auf der sie geboren, die Straßen und Plätze, auf denen unter Spiel und Scherz die Tage ihrer Kindheit verronnen, und in Stunden der Einsamkeit, wenn ihr Männchen nicht bei ihr war, zog ein mächtig Sehnen, das Heimweh, durch ihre Brust und feuchte Tropfen trübten ihr klares Auge, den Spiegel ihrer ahnungsvollen Seele.

So legte sie denn eines Morgens nach dem Frühstück ihren blonden Lockenkopf an die Brust ihres Mannes und seufzte tief.

»Nanu!« sagte dieser erschrocken, »was soll das bedeuten?«

Verlegen wischte sie an seiner Weste herum und antwortete ausweichend: »Du machst Dich immer so schmutzig. Ich will etwas Wasser holen, Dich zu reinigen.« Aber sie ging nicht. Prüfend sah er an sich hernieder.

»Du mußt ein gutes Auge haben,« fuhr er fort, »denn Du siehst Dinge, die andere Leute nicht sehen, und doch bin auch ich nicht kurzsichtig. Ich sehe z. B., daß meine kleine Frau seit Tagen traurig ist und etwas zerstreut.«

»Ich muß so viel nach Hause denken, mir ist es zuweilen, als ob da was nicht in Ordnung wäre,« sagte sie seufzend.

»Nun, so geh doch hin, überzeuge Dich durch den Augenschein und komm fröhlich wieder.«

»Ja, aber was wirst Du derweilen anfangen?«

»Ich anfangen? Alles aufessen, was im Rauchfang hängt und austrinken, was im Keller liegt. Im Hotel dinieren und die Kellnerin in die Backen kneifen,« rief er launig, packte seine Frau um die Taille und drehte sich mit ihr vergnügt im Walzertakte durchs Zimmer. »Abgemacht, Du reisest, und ich genieße das Vergnügen, Strohwitwer zu sein.«

Die zartfühlende Frau, die wohl durchschaute, wie er mit seinem Bramarbasieren sich und sie über den Schmerz der Trennung hinwegtäuschen wolle, blickte schelmisch lächelnd zu ihm auf und lohnte seinen Edelmut mit einem langen, heißen Kuß. Aber sie hatte noch einen Wunsch, der auf dem Grund ihrer Seele ruhte und besser niemals den Weg zur Zunge gefunden hätte. Jetzt aber, wo ihr Mann so weich und biegsam war, wagte sie sich doch damit heraus zu ihrer aller Unheil.

Sie hatte zur Beschaffung ihrer Ausstattung von einem Onkel hundert Gulden geliehen. Und diesen Onkel sollte sie jetzt wiedersehen. Aber sie mochte ihm nicht als seine Schuldnerin unter die Augen treten. Sie war die Frau eines unabhängigen Beamten, sie war stolz auf ihren Mann und niemand sollte ihr nachsagen, daß er oder sie Schulden hätten. Sie kannte ihre Landsleute; sie wußte, daß man es ihr übel genommen hatte, als sie, die Tochter eines Mannes, dem ein Gaul im Acker ging, sie, die dereinstige Erbin eines Fünftels von einem hessischen Morgen Wingert, sie, die einen Onkel hatte, der imstande war, hundert Gulden auszuleihen, sich in den Odenwald verheiratete, in dieses Land, in dem kein Wein wächst, und dessen steriler Boden nur Heidelbeeren erzeugt, Besenbinder und Rechenstiele. Ja, jetzt bei ihrer Heimkehr wollte sie die Leute von dem Irrtümlichen ihrer Ansichten überzeugen, sie wollte wohlhabend erscheinen und sie wollte, daß Onkel und Tante, Vettern und Basen, all die engherzigen Geschöpfe, die den Wert eines Mannes an dessen Tagelohn messen, groß von dem Geliebten ihres Herzens denken sollten. Dazu brauchte sie hundert Gulden, eine wahre Lumperei für so viele Menschen, für die kleine Frau ein Schatz von entzückendem Wert.

All dieses war ihr unheilvoll durch den Sinn gezogen, als sie zögernd nach langer Pause fortfuhr: »Aber ich brauche mehr als das Reisegeld. Du weißt, daß ich Schulden habe. Du hast doch Geld in Deiner Kasse?«

»In meiner Kasse? Nein.«

»Nun, dann in der anderen, es ist doch einerlei, in welcher Schublade die Paar Taler liegen. Du hast Ausstände, die eingehen müssen. Gehe, Lieber, tue mir den Gefallen. Ach, wenn Du wüßtest, wie mich das Heimweh plagt und doch mag ich ohne das Geld dem Onkel nicht unter die Augen treten.«

Der Wunsch, seiner Frau gefällig zu sein, kämpfte einen harten Kampf mit seinem Pflichtgefühl und seine Blicke verschleierten sich. Jetzt erschien ihm das Antlitz der Geliebten minder schön, als noch kurz zuvor. »Das sind die Tränen,« dachte er, und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Jetzt fühlte er den weichen Sammet ihrer Lippen seinem Ohre nah und hörte die schmeichelnden Worte: »Um Deinetwillen will ich das Geld. Sie sollen sehen, daß sie Dich unterschätzt haben.«

In seiner Eitelkeit erstand ihr ein Bundesgenosse. Er wollte denen da überm Rheine zeigen, was er vermochte. Er rang sich los, aus den Armen seiner Frau. Je mehr seine Tugend ins Wanken kam, um so sicherer wurde sein Schritt. Er ging nach dem Pulte. Seine Hände zitterten, als er das Geld herausnahm, tränenden Auges gab er es seiner Frau. Diese sah nichts mehr als den Glanz des Goldes, war überglücklich und reiste ab.

Als sie das Haus verlassen hatte, brach der Mann gedrückt von der Schwere seiner Schuld ohnmächtig zusammen. Er war zum Verbrecher geworden. Er hatte das Geld nicht seiner Privatkasse entnommen; es waren öffentliche Gelder, die er veruntreut hatte.

»Jede Schuld rächt sich auf Erden.« Dieser Spruch bewährte sich diesmal mit der brutalen Rücksichtslosigkeit eines Naturgesetzes. Kaum war das Geld soweit vom Hause weggetragen, daß es für die Hände des Schuldigen nicht mehr erreichbar war; kaum hatte der treulose Beamte über die Mittel und Wege nachgedacht, wie er das Manko decken könne, so stand schon der Revisionsbeamte im Zimmer und verlangte den Kassenschlüssel.

Während der Revisor die Bücher nachrechnete und den Barbestand der Kasse zählte, hatte der geängstigte Steuereinnehmer Zeit gefunden, einen Eilboten mit einem Zettel zum Schullehrer zu schicken. Lesen und alles Geld, was er im Hause hatte, zusammenraffen, war bei diesem Manne das Werk eines Augenblicks. Leider reichte sein geringer Geldvorrat nicht aus, die Schuld zu decken. So lief er zum Apotheker. Dieser legte darauf, was fehlte, und nun ging es im Eilmarsch nach der Wohnung des armen Steuereinnehmers.

Leider hatte sich die Situation hier sehr verschlechtert. Der Revisor hatte das Manko entdeckt und drang wohlwollend in den Defraudanten, durch ein offenes Geständnis Klarheit in die Angelegenheit zu bringen; es würden sich dann wohl Mittel und Wege finden, das Fehlende zu ersetzen. Eine kleine Ordnungsstrafe würde dann die Sühne sein für das Vergehen.

»Es ist der Fluch der bösen Tat, daß sie fortzeugend Böses muß gebären.«

Der arme Steuereinnehmer, der mit Sicherheit darauf rechnete, daß in jedem Augenblick der Lehrer mit dem Geld eintreffen könne, wollte nicht, daß der blanke Schild seiner Ehre auch nur durch den trüben Hauch einer Disziplinaruntersuchung geblendet werde. Er suchte Zeit zu gewinnen und bediente sich einer Notlüge. Er behauptete, es müsse in der Addition der Ziffern oder im Zählen des Geldes ein Irrtum unterlaufen sein. Der Beamte überließ es dem Geängstigten, dessen Schuld auf seiner Stirn klarer zu sehen war als in den Geschäftsbüchern, nachzurechnen. Eben schickte er sich an, sich von dem Stuhle, auf dem er seither gesessen hatte, zu erheben, als ein leises Klopfen den Steuereinnehmer vor die Tür rief. Als er nach einer kleinen Weile wieder ins Zimmer trat, war sein Auftreten sicherer. Er verzichtete auf das Kollationieren der Bücher und verlangte nur den Barbestand des Geldes nachzählen zu dürfen. Bei diesem Geschäfte schmuggelte er das, was der Lehrer gebracht hatte, in die Kasse hinein. Aber er war in den Winkelzügen des Verbrechens ein unerfahrener Arbeiter. Gar zu ungeschickt hatte er seine Sache gemacht und, um alles zu verderben, versteifte er sich darauf, den Kontrolleur glauben machen zu wollen, daß sich dieser geirrt habe.

Dieses Betragen verbitterte den Mann und verschlechterte nur die Meinung, die er sich von seinem Untergebenen gebildet hatte. Ohne ein Wort weiter zu reden, setzte er sich nieder und schrieb ein Protokoll. Als er damit fertig war, reichte er dem von Angst und Scham verwirrten Menschen die Feder und ersuchte ihn kurz und gemessen, zu unterschreiben. Er tat es nicht. Jetzt blieb dem Revisor nichts anderes übrig, als die Hilfe der Gendarmerie zu requirieren und zur Verhaftung zu schreiten. Zu dem Zwecke verließ er eiligen Schrittes das Haus.

Als der Revisor in Begleitung des Wachtmeisters wiederkam, war das in Aussicht genommene Rechtsverfahren mit Beweisaufnahme, Voruntersuchung, Untersuchung, Urteilsfällung usw. längst überflüssig geworden. Von all diesen hochnotpeinlichen Prozeduren und von den bitteren Vorwürfen des eigenen Gewissens hatte den Angeschuldigten ein Stückchen Blei, herausgeschleudert aus der Mündung eines Revolvers befreit.

Da lag er mit dem Haupte auf dem gestickten Kissen seines Ehebettes, und sein Mund schien im Tode noch die verschlungenen Anfangsbuchstaben seines und ihres Namens zu küssen. Ach, dies armselige Monogramm, die Arbeit seiner Braut, aus Leinwand und Baumwollfäden geknüpft, hatte länger gehalten als der Bund, dessen Dauerhaftigkeit es symbolisch darstellte.

Von der Schläfe des Toten hernieder lief aus den verklebten Haaren eine kleine blutige Straße über die Wange hin, aber sie endete als Sackgasse. Es war, als ob das Blut zurückschauernd erstarrt wäre, als es das weiße Kissen beschmutzen sollte, auf dem vor kurzem noch in Glück und Zufriedenheit zwei Menschenhäupter ruhten und im Schlafe die Kraft sammelten, die sie nötig hatten, um im Wachen einander dienen zu können.

Vor der Majestät des Todes macht das Gesetz Halt. Diejenigen, die in seinem Dienste gekommen waren, standen wie vernichtet und verwünschten das Geschick, weil es sie gezwungen hatte, in diesem Drama eine Rolle zu spielen. Tief erschüttert und innerlich beunruhigt, verließen sie das Haus.

Jetzt drängten Männer im Schurzfell, Weiber und Kinder von Grausen und Neugier getrieben zur Tür herein, sahen das Entsetzliche und rangen, vor Schreck entstellt, die Hände. Der furchtbare Eindruck verdrängte aus ihrem Seelenleben im Wachen jede andere Vorstellung und füllte ihre Träume mit krausen Bildern, so daß sie schweißgebadet erwachten und sich nach dem Schein des ersten Tages sehnten.

Gemessenen Schrittes, wie einer, der sich auf einem Geschäftsgange befindet, nahte jetzt der Michael Hely. Die Menge, die noch immer Treppe und Hausgang füllte, machte ihm Platz und gehorchte sogar seiner Aufforderung, das Haus zu verlassen. Dann schloß er die Tür und war mit dem Toten allein. Sorgfältig wusch er das Blut aus dem bleichen Antlitz, legte ein Pflaster auf die kleine blauschwarze Öffnung an der Schläfe und kämmte die blonden Haare des Entschlafenen darüber. Dann zog er ihm seine besten Kleider an, befestigte am linken Knopfloch seines Rockes sein Ehrenzeichen und machte ihn so zurecht, als ob es sich um einen Kirchgang des Beamten handle, am Geburtstage des Landesfürsten.

Das war wieder einer von den ganz Verlassenen, die den Schutz des Michael Hely brauchten, und er sollte ihm reichlich zuteil werden.

Zwei Tage später war das Begräbnis. Kein Priester gab dem Selbstmörder das Geleite, und die wenigen Menschen, die hinter dem Sarge herschritten, sehnten den Augenblick herbei, in dem der Tote in die Ecke des Friedhofes verscharrt sein würde unter jenen Ausgestoßenen, deren Namen weder Kreuz noch Leichenstein verkündet. Als die kleine Herde innerhalb der Friedhofsmauer war, wandte sie sich rechts nach der Ecke der Namenlosen. Aber man fand nirgends ein Grab ausgehoben. Oben aber, dort wo die ehrlichen Menschen schliefen, und in stummer Trauer das Kreuzbild Gottes seine Arme ausspannte, als ob es alle seine Kinder umfassen wollte, die Glücklichen und die Unglücklichen, stand der Michael Hely vor dem offenen Grabe, mit dem er soeben fertig geworden war. Er winkte die Träger des Sarges zu sich heran, und diese folgten ihm, obwohl manche aus der Trauerversammlung heraus dagegen protestierten, daß ein Selbstmörder mit denen in einer Reihe liegen solle, die eines christlichen Todes gestorben waren. Schweigend lehnte der Michael Hely auf seiner Hacke, aber ein Blick aus seinen Augen unter die Menge geworfen, belehrte diese, daß er nicht gesonnen sei nachzugeben. Er sah so aus, als ob er den, der ihm zu widerstreben wagte, wie einen Pfahl ungespitzt in die Erde schlagen werde.

Auch die Mutigen mochten es nicht ratsam finden in diesem Augenblick mit ihm anzubinden. So senkte sich der Sarg in die Grube nieder. Mit zischendem Geräusch wurden die Stricke hochgezogen, Schaufel und Spaten arbeiteten fleißig und alsbald erhob sich ein kleiner Hügel, mit einem schwarzen Kreuze verziert, über dem Sarge des Unglücklichen.

Durch manches Lustrum noch sah man bei der Wiederkehr des Unglückstages, einem Schatten gleich, eine schwarzgekleidete Frau vor dem Grabe liegen. Neben ihr stand ein kleiner Junge, dem die Mutter gesagt hatte, daß hier unter dem Hügel sein Vater schlafe.

Sein Vater, was wußte dies Kind von seinem Vater? Seine Augen hatten ihn nie gesehen, seine Ohren hatten seine Stimme nie gehört, seine Arme hatten sich nie um seinen Nacken gelegt. Wie kam der Mann unter dem Hügel dazu, sein Vater zu sein, und warum weinte die Mutter, daß er hier schlief? Seltsame Dinge! Das Kind verstand sie nicht. Doch weil die Mutter weinte, so weinte es auch. Die heißen Tropfen aber, die über seine Wangen niederliefen, wurden von den Kelchen der Blumen aufgefangen, rollten au deren Stengeln nieder und wurden vom nächsten Regengusse mit in die Erde genommen. Sie waren Liebesbriefe eines Kindes an den Vater, auf die es keine Antwort gab.

Wenn das arme Weib durch Tränenbäche den Jammer von seinem Herzen heruntergeschwemmt hatte und müden Schrittes weiterging, um Friedhof und Dorf wieder auf ein Jahr zu verlassen, dann begegnete sie wohl zuweilen dem Michael Hely, der zwischen Kreuz und Leichenstein herumkriechend, für seine Toten sorgte. Bei solcher Begegnung mit dem Manne, der ihr aus den Trümmern ihres Glückes ein Grab gerettet hatte, belebte sich dann das Auge der Witwe, und der warme Strahl von Wohlwollen und Dankbarkeit senkte sich nieder in das scheinbar so verknöcherte Herz des Mannes und beruhigte wie ein Balsam den Schmerz alter Wunden, die doch kein Pflaster und keine Salbe heilen konnte.

 


 << zurück weiter >>