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Zwanzigstes Kapitel

So hatte die Kunde von dem unseligen Ausgange der Volksversammlung in Laudenbach, in ihrer Wirkung und ihren Folgen noch bedeutend übertrieben, durch die von der Furcht eingegebenen Erzählungen der Fliehenden, in jedes Haus des Odenwaldes Furcht und Schrecken getragen und die Leute zu unsinnigen Handlungen verleitet, die den Zweck haben sollten, ihr Hab und Gut zu retten.

Es verbarg der Erbhannädel den Stammbaum des erlauchten Hauses Reinhard, auf dem alle seine Hoffnungen beruhten, unter dem Hochaltar der Kirche. Der Schuster Ranz trieb zwei Ziegen und die Halbläufer eines Schweines ins Dickicht auf der Galgenhöh und war nicht wenig erstaunt, als er da den Stangefranz traf, der den Inhalt seines Rauchfanges, zwei Schinken und einen Schweinekinnbacken vergrub. Jeder im Dorfe tat in der Unglücksnacht irgend etwas Überflüssiges mit Ausnahme des Kappehans, der vor der brennenden Glut des gesammelten Dürrholzes saß und mit Ungeduld zusah, wie die nackten Leiber der gestohlenen Hühner sich langsam in seiner Pfanne bräunten, und mit Ausnahme der Frau des Stoffelsdick, die weinend in ihrer Kammer vor einem hölzernen Kreuzbild kniete und auf jedes Geräusch achtete, das aus der Straße zu hören war.

So oft der Fußtritt eines Menschen durch die stille Nacht hallte, spannte sie die Tätigkeit ihres Gehörorgans aufs äußerste, und ihr lebhaft arbeitendes Vorstellungsvermögen verglich die Eigentümlichkeiten der Geräusche mit der ihr so wohlbekannten Eigenart der Tritte ihres Mannes, um eine Ähnlichkeit herauszufinden, die ihrer Hoffnung auf seine glückliche Heimkehr, wenn auch nur für Sekunden, Nahrung geben könnte. Hundertmal hatte sie hingehört und dutzendemal war sie im Begriff aufzuspringen und den Fensterflügel aufzureißen, aber immer wieder war sie kraftlos und enttäuscht vor dem Bildnisse des Gekreuzigten liegen geblieben, unfähig etwas anderes zu leisten, als die Perlen ihres Rosenkranzes durch die bebenden Finger gleiten zu lassen.

Vom Bette her hallten die regelmäßigen Atemzüge ihrer Kinder und steigerten ihre Not. Vom Uhrkasten an der Wand tönte der Pulsschlag der Zeit und legte ihr die verzweiflungsvolle Frage vor: Wie soll's mit uns weitergehen, wenn er nicht mehr kommt?

»Geh' betteln, geh' betteln,« zirpte das Heimchen am Herde.

»Lumpenpack, Lumpenpack,« bohrte der Holzwurm im Kleiderspind.

Dann kamen Visionen über sie, und sie sah das Haupt des Getöteten blutüberströmt auf einem Bündel Stroh liegen, sah zwischen den halbgeöffneten Lidern das matte Grau verglaster Augensterne, sah die blutbesudelten Locken des Bart- und Haupthaares wirr das blaßblaue Gesicht umrahmen, und ein Grausen erfaßte das starke Weib, daß jede Faser ihres Nervensystems bebte, wie das Laub der Silberpappel im Herbstwind. Kein Trost mehr im Gebet und dabei diese unheimlichen Ratschläge der Verzweiflung: Wirf dieses Leben weg, sieh. Du verlierst nicht viel an ihm! Ein Sturz aus dem Fenster macht Dich frei, ein Strick tut's auch!

Erbarm Dich Gott der langen Liese! Und er tat's und wenn er auch die Nacht der Trübsal nicht von ihr nahm, so gab er ihr doch gute Menschen, die ihr im Dunkeln Führer waren.

Wie sie so dalag vor dem Kreuzbilde Gottes, streifte ein Luftzug von der Tür her ihr Gesicht. Erschrocken sah sie auf und gewahrte hinter sich, von weißen Locken umrahmt, das gutmütige Gesicht des greisen Dorfschullehrers.

Er war ein Mann des Friedens und der Tugend, zwei Dinge, die er predigte und ausübte. Während die andern zum Kampfe auszogen, war er zu Hause geblieben. Er hatte seine warnende Stimme gegen die gewaltsame Erhebung hören lassen, als man sie nicht beachtete, fügte er sich mit dem Bewußtsein, das Seine getan zu haben, ins Unabänderliche und wie immer, so wandelte er auch heute die Wege seines Berufes, zwischen den Schulbänken ermahnend und anfeuernd auf und nieder. Sobald aber am Abend mit den ersten Versprengten die Unglücksbotschaft ins Dorf kam, ging er an den Wegweiser vor dem Fuchsloch und beobachtete mit gepreßtem Herzen, ob auch alle wiederkämen, die am Morgen ausgezogen waren. Als er sich spät in der Nacht von seinem Beobachtungsposten entfernte, waren alle da, bis auf seinen Nachbar. »Wo blieb der Stoffelsdick?« Das war die Frage, die den wohlwollenden Alten auf dem Heimweg quälte und die ihn nicht zur Ruhe kommen ließ, als er seine Wohnung erreicht hatte. Er zog sich nicht aus, sondern pilgerte nachdenklich mit gesenktem Haupte durchs Zimmer. Zuweilen sah er durch die Scheiben nach den Fenstern des gegenüberliegenden Unglückshauses, die von der roten Glut einer Tranlampe erleuchtet waren, zuweilen narrte ihn sein Gehör und er glaubte die Tür drüben in ihren Angeln knarren zu hören.

Doch es war nur eine Sinnestäuschung. Jetzt hörte er, wie die Turmuhr die dritte Morgenstunde schlug, und er sah, wie das Frührot die kleinen Wolkenschäfchen färbte, die am östlichen Himmel standen. Jetzt war es ihm nur allzu wahrscheinlich, daß die Frau da drüben unter dem moosigen Ziegeldach eine Witwe sein möchte, und er machte sich auf, ihr in ihrer Trübsal nach seinem Vermögen beizuspringen. Mit dieser Absicht war er über die Straße gekommen und stand vor dem weinenden Weibe mit dem Vorschlag, daß er gehen wolle, ihren Mann zu suchen.

»Wecken Sie den Michael Hely, er soll mitgehen. So Gott will, bringen wir den Vermißten lebend heim.«

Fünf Minuten später sah man neben dem Schullehrer den Michael Hely die Kirchhohl hinaufsteigen in der Richtung gegen Hartenrod.

In der Hofraite des Fischers Philipp erglänzte aus den geöffneten Türen das Licht der Stallaternen, und man hörte die eisernen Henkel der Melkeimer auf den Dauben aufschlagen. Im Pferdestall wieherten die lustigen Fohlen, während ihre gesetzten Eltern ihr Frühstück bedächtig und mit vielem Anstand aus der Krippe fraßen. Der Bauer stand im Futtergang und überwachte die Arbeit des schlaftrunkenen Gesindes.

Ein Wort des Lehrers genügte, um den Besitzer des Hofes über den Zweck seines Kommens aufzuklären und willfährig zu machen, und bald scharrten die feurigen Füchse vor dem kleinen Bernerwägelchen mit der grünen Zaine aus Weidengeflecht den Boden.

»Ich werde für alle Fälle ein paar Gebund Stroh dahinten hineinwerfen,« sagte der Fischers Philipp.

»Tu das,« war die Antwort des Lehrers, »doch, wenn's Gottes Wille ist, hoffen wir sie nicht zu gebrauchen.«

Dann schwang sich der Sprecher auf den Sitz und nahm die Zügel in die Hand. Der Michael Hely saß neben ihm. Die Pferde legten sich ins Geschirr und fort ging's auf tiefgeleisigen Feldwegen der Walstatt von Oberlaudenbach entgegen.

Es schlug zehn Uhr als sie an Ort und Stelle waren. Im Schmutze des Vizinalweges, der sich auf der Talsohle endlos zwischen Häusern, Stallungen und Scheunen durchzuwinden suchte, sehen sie einen Mann in der Uniform eines Sanitätsoffiziers waten, dem der Lehrer gern ins Gesicht gesehen hätte. Er ermunterte deshalb die Pferde mit einem leichten Peitschenhiebe, lebhafter auszuschreiten, und als eben der Wagen den Offizier erreicht hatte, hob letzterer den Kopf und reichte mit dem Ausruf: »Holla, Herr Lehrer, wo kommen Sie her?« dem Fuhrmann die Hand.

»Ich bin noch da von gestern, Herr Oberstabsarzt,« sprach der Angeredete, und gab sich Mühe, verwegen wie ein Freischärler in die Welt zu sehen, während das freundliche Lächeln in seinem wenig kriegerischen Schulmeistergesicht seine Worte Lügen strafte.

»Wie ich Sie kenne, wird dem nicht so sein; aber vielleicht sucht Ihr einen, der gestern hier war und den Heimweg nicht fand,« sagte der Arzt mit einem vielsagenden Blick auf das Stroh, das hinten in der Zaine lag. »Wenn dem so ist, so will ich Euch gern behilflich sein.«

Es genügten wenig Worte, um dem Arzte klar zu legen, weshalb die zwei hergekommen waren und was sie fürchteten, als sie auf den Einfall kamen, einen Wagen mitzunehmen. Der Arzt sagte deshalb nur: »Nun gut, so bindet einmal die Pferde dort vor dem Wirtshause fest und kommt mit mir, aber lieber ist's mir schon, wenn Ihr leer heimfahren könnt', als beladen.«

So gingen die zwei hinter dem breitschulterigen Offizier her, auf eine Scheune zu, vor deren Tor ein Soldat Schildwache stand. In ihrer Brust arbeitete das Herz so ungestüm und laut, daß jeder der Männer seine Schläge bis zum Hals herauf spürte, ja hörte, und ein Grauen überkam sie bei dem Gedanken an das, was ihre Augen in der nächsten Minute ansehen mußten.

Die beiden Torflügel gaben einem leichten Zuge des Arztes nach und öffneten sich nach außen. Die Lichtströme der Mittagssonne fluteten über die Tenne und beleuchteten die schrecklich entstellten Züge von annähernd sechzig Toten, die hier den Riegelwänden entlang wie Korn zum Dreschen in zwei Reihen auf der Tenne lagen; eine grausige Ernte, die der Schnitter Tod gemäht und die jetzt der Taglöhner harrte, um sie einzuführen in die stille Scheune des Grabes.

Minutenlang standen die beiden, vor Entsetzen starr, im Anblick des schrecklichen Bildes. Die Tränen traten ihnen in die Augen und in der unregelmäßigen Strahlenbrechung, die sie erzeugten, reckten und dehnten sich die beiden unheimlichen Reihen fast ins Unendliche, eine sprossenreiche Leiter von Menschenjammer und Elend!

Unsere Freunde hörten nicht mehr die Zurede des Arztes, und fast unsanft griff dieser nach dem Ärmel des Schullehrers und zog ihn hinter sich nach in den Gang, zwischen die stillen Reihen der Toten. Willenlos folgte auch der Michael Hely. Das Auge brauchte Zeit, bis es auf dieser Klaviatur von Leichen die einzelnen Tasten unterscheiden konnte, und so dauerte es eine geraume Weile, bis man den Stoffelsdick herausgefunden hatte, obwohl er vom Tode nur wenig entstellt war.

Aus einer dunklen Öffnung in der linken Schläfe war Blut herausgelaufen ins Haar und über die Wange, aber heute war es bereits eingetrocknet und zeigte rissige Sprünge. Die Hände mit den blauen Nägeln waren schmutzig vom Fall auf das Ackerfeld. Neben der Leiche, an die Wand gelehnt, stand die Sense an der langen Stange, mit dem gutmütigen Haken daran, der so friedliche Absichten hatte und so mißdeutet wurde. Das Metall der Waffe war rein geblieben von Mord und nur am Stiele hingen Spuren von Menschenblut, das aber von ihrem unglücklichen Träger stammte. Auch der gab die Seele unbefleckt von Blutschuld in Gottes Hand zurück. Vom Wahnwitz betört, hatte er, der kein Hühnchen schlachten konnte, sich die Kraft zugetraut, Menschen umzubringen. Er hatte keine Gelegenheit gefunden. In dem Gedanken bloß gefiel er sich, die Tat selber hatte ihn nicht berührt, und es war gut so.

Dem Michael Hely hielt der tote Meister von dem kahlen Stroh seines Lagers die letzte eindringliche Rede: »Willst Du Deinen Willen zum Gesetz machen, dann sei vor allem stark. Tritt nieder, was Dir im Wege steht. Such nicht den Streit, doch sucht er Dich, dann führ ihn so, daß sich Dein Feind vor Dir verkriechen muß.«

Der Oberstabsarzt, der heute vielerlei zu besorgen hatte, drängte zum Fortgehen. Er versprach auf der Kommandantur die Erlaubnis zum Transport der Leiche zu erwirken und empfahl den beiden, sich derweilen in dem Wirtshaus an der Straße gedulden zu wollen.

Da saßen sie denn bald auf der Bank hinter dem blank gescheuerten Tische und blickten in das Glas Apfelwein, das vorerst die Fliegen für sich und ihre Verwandtschaft auszubeuten trachteten. Auch machten sich die Zudringlinge über eine kalte Mahlzeit her, die der Lehrer mitgebracht und vor dem Knaben ausgebreitet hatte. Niemand hinderte sie daran. Den beiden schweigsamen Gästen war die Lust an Speise und Trank vergangen. So harrten sie geduldig bis gegen zwei Uhr nachmittags. Langsam verstrichen für sie die Minuten, trotzdem eine Uhr auf der Kommode wütend den Pendel hin- und herwarf und es mit ihrem Tick, Tick, Tick sehr eilig zu haben schien.

Da eben öffnete sich die Tür, und auf der Schwelle erschien in feldmarschmäßiger Ausrüstung eine Ordonnanz, die mit herablassender Miene den Leichentransportschein überreichte. Die beiden sahen kaum zu dem Soldaten auf. Ein mit Furcht gemischtes Grausen erfüllte sie vor allem, was Waffen trug und das Menschenschlachten zu seinem Lebenszweck gemacht hatte.

Als der Soldat fort war, erhoben sie sich, spannten die Pferde vor den Wagen und bald zogen diese zwei Lebende und einen Toten aus dem Unglücksdorfe hinaus. Kein Wort wurde gewechselt, die keuchenden Atemzüge der Pferde waren das einzige, was die Totenstille des einsamen Weges unterbrach, und nur zuweilen fiel ein scheuer Blick der Fuhrleute rückwärts nach dem schweigsamen Fahrgast in der Weidenzaine und nach hinweggeworfenen Waffen, die am Wege lagen.

Es war Nacht, als man mit dem Toten vor seinem Hause hielt. Ein Haufen Menschen stand auf dem Pflaster und blickte bald nach dem Stroh im Wagen, bald nach der Haustür, unter der man das Erscheinen der unglücklichen Witwe erwartete.

Die Szene des Wiedersehens zwischen Mann und Frau fiel für die Gaffer etwas weniger effektvoll aus, als sie erwartet haben mochten. Der Lehrer hatte, um alles Aufsehen möglichst zu vermeiden, die Leiche in der Zaine ins Haus schaffen lassen und überließ sie dort in der stillen Kammer den Klagen der Witwe und den Tränen der Kinder.

Als man annehmen konnte, daß das Wüten des ersten Schmerzes sich vermindert haben würde, kam der Michael Hely und nahm das Maß von der Leiche seines Meisters. Dann arbeitete er die ganze Nacht hindurch in der Werkstätte, und ehe noch die Glocke vom alten Torturm die zwölfte Stunde des nächsten Tages verkündete, stand in der Wohnstube ein kunstvoller Sarg von gemasertem Fichtenholz, der letzte Dank des Lehrlings für den Meister.

Am offenen Grabe hielt der Pfarrer eine lange Rede über das Thema: »Seid untertänig«, und er zählte so viele Menschen auf, denen seine zerknirschten Zuhörer untertänig sein sollten, daß für diese in der Tat niemand mehr übrig blieb, über den sie herrschen konnten. So sorgte die Mutter Kirche, sie, die so vieles fertig bringt, frühzeitig dafür, daß, bevor noch die Leiber der rebellischen Freiheitskämpfer verfaulen konnten, auch die Ideen von Gleichheit und Brüderlichkeit begraben wurden, die in ihrem Geiste gehaust, für die sie gelitten und schwer bestraft worden waren, schwerer vielleicht, als sie verdienten.

 


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