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Einundzwanzigstes Kapitel

In den ersten Tagen nach dem üblen Ausgang der Volksversammlung herrschte in Waldmichelbach eine beengende Furcht. Die Straßen waren leer, oder doch nur von Kindern bevölkert. Die Männer waren zu Hause oder verließen ihre Wohnungen unter dem Schutze der Dunkelheit auf den Schleichwegen, die längs der Gartenzäune von Haus zu Haus führten. Frauen sah man selten und wenn man sie sah, so hielten sie mit der Schürze die Augen verdeckt, »weinend um das eigene Leiden in des Reiches Untergang«.

Auf dem Boden der allgemeinen Notlage erblühten übrigens Tugenden, deren Spur man in andern Zeiten vergeblich gesucht hätte. Das Gefühl der Solidarität erzeugte eine Verschwiegenheit, die dem Beichtgeheimnis nahe kam.

Wer ein gutes Gewissen hatte und bar Geld, der half mit letzterem dem Nachbar, der an beidem Mangel litt, über die Landesgrenze, bevor die Soldaten einrückten.

Diese benahmen sich, als sie einmal da waren, wie Eroberer. Auf der Suche nach Freischärlern durchstachen sie mit ihren Bajonetten den Vorrat der Heuschober nach allen Richtungen der Windrose. Auch in den Fässern der Keller suchten sie die Präskribierten, und wenn sie statt deren Wein fanden, so tranken sie denselben mit lobenswerter Gründlichkeit, ohne Rücksicht darauf, ob sie einen besseren oder geringeren Jahrgang vor sich hatten.

Als das Militär abgezogen war, begann die gefährliche Spionierarbeit der Gendarmerie und extra zu dem Zweck importierter Geheimagenten. So dauerte es denn nicht lange, und sie hatten von den heiligen Dreikönigen zwei, während der dritte glücklich über die Grenze entwischt und geleitet von seinem Stern, der diesmal ausschließlich zu seiner Benützung stand, in der Schweiz angekommen war.

Als der Schuster Ranz und der Stangefranz mit eisernen Armbändern an den Handgelenken von einem Pikett Gendarmen durch das Dorf nach dem Untersuchungsgefängnis geführt wurden, herrschte unter der Bevölkerung ein allgemeines Knirschen des innern Menschen und selbst solche, die den Gefangenen manches zu verzeihen hatten, wie der Michael Hely, waren empört über die schnöde Behandlung, die man so ehr- und tugendhaften Männern anzutun wagte.

Im Gefolge der Schnüffler und Demokratenriecher kamen dann lederne Chaisen in den Ort, gefüllt mit Untersuchungsrichtern und Kriminalisten. Diese stiegen im Gasthaus zum Odenwald ab, und während sie die Revolutionäre erwürgen halfen, mästeten sie sich und den Wirt mit gutgemessenen Diäten.

Am Morgen saßen sie auf dem Bureau und nahmen Meldungen der Gendarmerie entgegen. Diese Tätigkeit nannten sie ihren Amtstag, obwohl es kaum ein halber war. Am Nachmittag lagen sie auf der Kegelbahn oder sie gingen auf die Jagd und obwohl sie nichts trafen, so richteten sie doch unter dem wenigen Wild, das die Tage der Bauernfreiheit überlebt hatte, durch unsinniges Schießen eine solche Panik an, daß Rehe und Hasen und selbst alteingesessene Rebhühnerfamilien den Kompetenzbereich des Amtsgerichtes verließen und sich gegen das Steinachtal auf badisches Gebiet zurückzogen.

Als diese Beamten mit gemächlicher Eile das Material der Akten so weit aufgearbeitet hatten, daß sie fürchten mußten, abberufen zu werden und ihre Felddienstzulage einzubüßen, hatte einer von ihnen einen Gedanken, der ihnen die Möglichkeit eröffnete, ihr Schlaraffenleben noch eine Zeitlang fortzusetzen.

Der Leser erinnert sich wohl des grausigen Instrumentes, das bei der Leiche des Stoffelsdick aus dem Straßenkot aufgehoben worden war. Die entsetzliche Waffe fand sich natürlich auch in den Akten und kam in natura als corpus delicti zuhanden einer hohen Obrigkeit. Hier erzeugte diese Höllenmaschine bei der gerichtsseitig bekannten geistigen Beschränktheit dessen, der sie getragen hatte, die Vorstellung, daß sie möglicherweise unter strafbarer Beihilfe eines andern entstanden sein könne. Auf der Suche nach einem Komplizen der Tat verfiel man natürlich auf den Lehrling des Getöteten, dessen getrübtes Vorleben ebensowohl, wie das von einem hochwürdigen Pfarramt einverlanqte Leumundszeugnis die Unterstellung zuließen, daß man sich von besagtem Individuum einer solchen Tat versehen könne. Da es fernerhin bekannt war, daß der Michael Hely des Schreibens soweit mächtig war, daß er die Buchführung seines Herrn mit Kreide an der Kammertür besorgte, so vermutete man in der Schreinerwerkstätte ein revolutionäres Korrespondenzbureau. Bei einer Haussuchung selbst fand man das Fragment eines von seiner Hand geschriebenen Briefes mit der äußerst belastenden Stelle: »Wier habe keine Macht; ich mus die Kinner selber ...«

»Wier habe keine Macht.« Was konnte man sich darunter nicht alles vorstellen, und in der Tat suchte man viel dahinter, nur nicht den Umstand, daß es sich um einen orthographischen Fehler handeln könne.

So verdichtete sich die Vermutung zum Verdacht.

Deshalb erschienen denn an einem Vormittag zwei Gendarmen in der Werkstätte und holten den Michael Hely von der Hobelbank hinweg ins Untersuchungsgefängnis. Da saß er denn in der weißgetünchten Gefangenenzelle und entzifferte die Namenszüge aller derer, die vor ihm hier gehaust hatten und diesen Raum nicht verlassen wollten, ohne eine Spur ihres Dagewesenseins hinterlassen zu haben.

Als er dieses Verbrecheralbum durchstudierte und hinter jedem Namen unter der Angabe, wie lange die Haft gedauert, die Bemerkung fand, »aber unschuldig«, kam er zu der Überzeugung, daß über die Regeln, durch welche die menschlichen Lebensverhältnisse in erzwingbarer Weise normiert werden sollen, zwischen Angeklagten und Richtern oft genug große Meinungsverschiedenheiten herrschen müssen. Dieser Umstand allein war es, der ihn beunruhigte und das Behagen störte, mit dem er seine Gefangenenkost und seine unfreiwillige Muße mit gutem Gewissen genoß.

An einem der berühmten Amtstage wurde er dem Untersuchungsrichter vorgeführt. Alle Wände des Zimmers waren mit Regalen überkleidet, so daß man nirgends die Tapete sah. In den viereckigen Holzfächern lagen Aktenstöße und auf diesen grauer Staub, dessen Dicke jeder Windstoß, der durch die geöffneten Fenster drang, noch um Bruchteile von einem Millimeter erhöhte.

Zwischen all dieser Geschichtsschreibung der Rechtsverletzungen promenierte in grauer Uniform mit blauen Aufschlägen und Messingknöpfen, auf denen der hessische Löwe die Vorderpfote erhob, als ob er ein Stearinlicht putzen wollte, seine Gestrengen, der Herr Untersuchungsrichter. Sein Gesicht, das offenbar mehr vom Biergenuß, als vom Studium des römischen Rechtes aufgeschwemmt war, zierten auf der Quartseite ein paar tiefe Narben, die dafür zeugten, daß auch der bezahlte Hüter des Rechts nicht immer den Weg der Tugend gewandelt sei. Mehr aber als diese Indizien, die einen Rückschluß auf sein Vorleben zuließen, verletzte die dumme Dreistigkeit seines Ignorantengesichtes und die prätentiöse Haltung der ganzen Figur mit dem Paradedegen an der Seite als Zeichen der Machtfülle, die man auf dieses Wesen gehäuft hatte. Durch diesen Mann bekam das Zimmer einen penetranten Geruch nach Bierresten und Rechtsirrtümern.

An einem kleinen, schwarz gestrichenen Tisch saß ein Schreiber und beugte seinen dicken Kopf, der so struppig war wie ein Spinnenfänger, über ein Aktenfaszikel mit der Aufschrift: »In Sachen des Michael Hely wegen Landesverrats.« Den Gänsekiel hatte er bereits im Tintenfaß gebadet und nun saß er erwartungsvoll da und schielte mit den schwarzen Luchsaugen seitlich heraus nach dem Munde des Herrn Amtsvorstandes, von dem jetzt der Honigseim des Rechts niederträufeln sollte. Zwischen der Tür und dem Ofen stand der Angeschuldigte; an seiner Seite, den Helm auf dem Haupte, der Gendarm. Mit würdevollen Schritten, die Augen nachdenklich an die Diele geheftet, durchmaß der Richter noch immer schweigend das Zimmer. Offenbar bewegte ihn zunächst die Frage, ob er sein Bier am gestrigen Abend bezahlt habe oder nicht. Jetzt hellte sich sein Gesicht auf; er mußte in seiner Gedankenarbeit zu einem befriedigenden Abschluß gekommen sein, und er wandte sich dem Angeschuldigten zu mit den gewichtigen Worten: »Wir müssen zunächst Ihre Personalien aufnehmen. Sie heißen?«

»Michael Hely,« lautete die Antwort. »Welcher Konfession?« »Katholisch.« »Sie sind sechzehn Jahre alt?« »Ja.« »Ledig oder verheiratet?« »Ledig.« »Sie standen zu dem verewigten Riesinger, genannt Stoffelsdick, in dem Verhältnis eines Lehrlings zum Meister?« »Ja.« »Verwandt oder verschwägert waren Sie nicht?« »Nein.«

Hier hörte das Schema auf, und die eigene Gedankenarbeit des Richters hätte beginnen sollen. Allein da haperte es: Ja wenn der alte Korpsbursche so viel Furchen unter seiner Schädeldecke gehabt hätte, als in seinem aufgedunsenen Gesicht lagen, dann hätte er wohl ein Protokoll zustande gebracht; allein sein Gehirn war glatt und gedankenarm, wie ein Reisauflauf. Der Gewaltige, ganz erschöpft von der geistigen Anstrengung, machte Halt, um zu verschnaufen, während der Gänsekiel des Schreibers, der offenbar hinter dem mündlichen Verfahren etwas nachhinkte, noch immer wie wütend auf dem Papier hin- und herkratzte. Endlich kam auch er zur Ruhe und in der Gerichtsstube herrschte wieder eine feierliche Stille, wie in den allermeisten Stunden des Tages.

Jetzt meldete sich die Wanduhr zum Wort und verkündete die elfte Stunde. Der Untersuchungsrichter, gewohnt, jeglicher Angabe, die nicht eidlich erhärtet war, zu mißtrauen, verglich die Richtigkeit ihrer Aussage mit seinem amtlich gestempelten Normalchronometer und konstatierte die erfreuliche Tatsache, daß es für ihn Zeit sei, zur Mette zu gehen.

»Ich muß jetzt zum Frühschoppen, man wird ›Ihm‹ den Termin der nächsten Verhandlung durch den Gefangenwärter kund tun,« rief er dem Angeklagten zu und griff nach seiner Dienstmütze.

Als der Schreiber Miene machte, auch den letzten Satz, der über die Lippen seines Vorgesetzten gedrungen war, pflichtschuldigst zu Protokoll zu nehmen, winkte der Gestrenge zornig ab, machte ein Gesicht, als ob er hätte sagen wollen: »Und so ein Kamel will Aktuar werden« und verließ das Zimmer, dessen Tür er polternd ins Schloß warf.

Der Gendarm war außer Dienst ein seelenguter Mann, und konnte er mit gutem Gewissen im Dienste irgendeinem eine Erleichterung verschaffen, so tat er es auch. So führte er jetzt den jugendlichen Kapitalverbrecher durch den Garten des Amtsgerichts und ließ ihn eine Zeitlang von den Himbeeren essen, die da wuchsen, ehe er ihn dem Gefängnisverwalter zum Einsperren übergab.

Dieser aufgeklärte Subalterne, der den eigentlichen Grund der gegen seinen Pflegbefohlenen eingeleiteten Untersuchung durchschaute, gestattete dem Gefangenen allerlei Freiheiten. Er ließ die Tür seiner Zelle über Tags unverschlossen und erlaubte ihm den Zutritt in seine Privatwohnung, wo er sich durch kleine Handreichungen in der Küche und in der Kinderstube nützlich machen konnte. Wahre Wunder der Technik vollzogen sich. Den Stühlen wuchsen Beine an den Rumpf und der Uhrkasten, der seit Jahren gebrochen dastand, erhob sich wieder und sah voll stolzer Zuversicht ins Zimmer herein.

So vergingen weitere vier Wochen, während deren man sich den Anschein gab, als ob man Indizien sammle. Man hatte einen oder den anderen Zeugen vorgeladen. Allein da das Landvolk hier, wie überhaupt vor jedem Richter von nichts nichts wußte, und nur die eine Antwort kannte: »'s kann sein, 's kann a nit sein,« so enthielt nach Ablauf von mehr als einem Monat das Aktenfaszikel mit der Aufschrift »In Sachen des Michael Hely wegen Landesverrats« außer seinen oben erwähnten Personalien und dem hochwürdigen Leumundszeugnis rein nichts.

Da sich jetzt auch der Herbst mit langen Abenden und rauhen Nächten meldete, so fanden die Stadtherren den Aufenthalt auf dem Lande allmählich ennuyant und wünschten in die Residenz zurückzukehren, wo Theater, Bälle und Abendunterhaltungen eine größere Abwechslung versprachen, als das von dem Froste in dumpfe, überfüllte Stuben zurückgedrängte Leben einer bäuerlichen Bevölkerung. Das waren in letzter Erwägung die Gründe, weshalb der Michael Hely abermals vor den Richter zitiert und ihm durch den fungierenden Gerichtsschreiber sub dato so und soviel eröffnet wurde, daß das Verfahren gegen ihn, da eine tatsächliche Beihilfe zum Landesverrat nicht genügend erhärtet und eine Verleitung zu demselben nicht wahrscheinlich sei, wegen Mangels an Beweis eingestellt, und somit der Angeschuldigte aus der Haft entlassen sei.

Nachdem der Richter nun noch sein persönliches Bedauern ausgesprochen hatte, daß es leider nicht gelungen sei, einen derartigen Galgenvogel zu überführen, schloß er die Verhandlung.

Somit sagte der Michael Hely den Verwaltersleuten für alles, was sie Gutes an ihm getan, herzlichen Dank und stand bald darauf mit einem roten Sacktuch, in das er ein Hemd eingepackt hatte, unterm Arm, vor dem eisenbeschlagenen Tor der hohen Gefängnismauer. Er sah blaß aus, und teilnahmslos schweifte sein müder Blick über das schmale Wiesental und über die herbstlich-öden Stoppelfelder, die es begrenzten. Er glich der Apfelblüte, vom Mehltau bedrückt; welk der Blütenkelch und die Aussicht auf die Ernte geschwunden. Seine Gesundheit hatte durch die Entziehung der Freiheit ersichtlich eingebüßt, mehr aber noch der Fond der moralischen Kraft und des guten Willens, der trotz alledem in ihm stak.

Da stand er nun und hatte das Haus der Schande, das ihn wochenlang beherbergte, im Rücken, aber er fühlte wohl, daß dies schwerfällige Gebäude Füße bekommen habe und ihm folgen werde, daß ihm von jetzt ab ein neues Brandmal aufgedrückt sei, und daß er keinem unter die Augen treten könne, der nicht den Namen Zuchthäusler ihm von der Stirne las.

Wodurch hatte er soviel Schmach und Mißachtung verdient? Warum besaß er nicht auch Eltern, die durch das Ansehen ihrer Person, ihrer Stellung oder ihres Geldes ihn zu beschützen vermochten vor der Willkür streberhafter Beamten, vor dem Hohn und Spott der blöden Menge, welche die juristische Spitzfindigkeit zwischen Untersuchungs- und Strafhaft nicht zu fassen vermochte?

Ein unsäglicher Ekel überkam ihn vor der menschlichen Gesellschaft, die ihn wie einen Verfemten behandelte. Wer von all den Frommen, die vor dem Kreuze knien und den unschuldig verurteilten Gottmenschen beklagen, erinnerte sich des Wortes: »Was ihr einem meiner Brüder tut, habt ihr mir getan.« Wer nahm sich seiner an? Ihretwegen hätte er im Kerker verfaulen können und so wie er eben dachte, seinetwegen auch. Was sollte ihm eine mit Verachtung, Not und Elend gepaarte Freiheit? Eine ungeheure Verbitterung nagte an seiner Seele und drohte den Faden guter Grundsätze zu durchreißen, der ihn noch mit der Menschheit verband.

Es war ein kritischer Moment. Wenn er seinem Richter begegnet wäre, wer weiß ob er nicht wie eine Tigerkatze an ihn gesprungen wäre, um ihm die Kehle zu durchbeißen.

Da kam ihm der Gedanke an die Ihleins Lisbeth und bange, es möchte ihm jemand begegnen, schlich er mit niedergeschlagenen Augen über die Stoppelfelder zur Hintertür ihrer Wohnung. Er fand sie zu Hause. Sie hatte einige Worte des Mitleids und Trostes für ihn. Er saß an ihrem Tisch und weinte sich aus, und unter den Tränen schmolz der Haß und die Erbitterung von seiner Seele hinweg, wie das Eis von den Wiesen schmilzt im warmen Märzregen. Das junge Grün der Hoffnung kam wieder zum Vorschein.

Auch seinen Eltern machte er einen kurzen Besuch. Er traf den Alten bei guter Laune. »Mach Dir nichts draus, mach Dir nichts draus, mein Junge! Die Haasebäuerin war länger eingesperrt als Du, und ist doch eine angesehene Frau. Wart bis der Bub mit dem Geld kommt, dann fahren wir in der Chaise und sperren die andern ein.«

Bei diesen Worten seines Vaters sah der Sohn, der sich noch nicht zu der abgeklärten, heitern Weltanschauung seines Erzeugers durchgerungen hatte, nach der Mutter hin. Sie hantierte am Ofen herum, und ihre Züge verrieten nur eine stumpfsinnige Resignation, und fast schien es, als ob sie von dem Unrechte, das ihr Kind erlitten, keine Kenntnis habe.

 


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