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Zweites Kapitel

Sobald wir der Entstehungsgeschichte unseres Helden nachgehen, begegnen wir einem Lebewesen, dessen Schicksale wir näher kennen lernen müssen. Es ist dies seine Mutter. Sie war die Tochter eines ehr- und tugendhaften Siebmachers, der übrigens auch die Kunst des Schirmflickens nebenbei betrieb. Sie war geboren in einem grün angestrichenen Kastenwagen an einem Kreuzweg, so zwischen Pfingsten und Maria Heimsuchung. Sie war annähernd ein Dutzendmal getauft worden; das war auch der Grund, warum das Datum ihrer Geburt in den verschiedenen Kirchenbüchern so verwirrend schwankte.

An dem Orte nämlich, wo sie die Innenseite ihres wandernden Hauses zum erstenmal sah, zierte eine niedliche junge Frau das Pfarrhaus. Dieses herzensgute Wesen war der Stolz der Gemeinde, und das verdiente sie auch reichlich. Sie war offenherzig wie ein Kind und opferwillig bis zur Selbstentäußerung, und wie ihr großes feuchtglänzendes Auge alle Gegenstände wiederspiegelte, die in ihr Gesichtsfeld traten, so schlug ihr Herz in Liebe und Freude allem entgegen, was sich vertrauensvoll ihr nahte. Zu diesem Engel der Güte war die Kunde gedrungen von dem, was hinter den kleinen Vorhängen des Zigeunerwagens am Wege sich ereignet hatte. Sie eilte hin und wie die Tochter Pharaos fand sie ein Kindlein in einem Binsenkorb, der vor dem frohen Ereignis das Handwerkszeug des Siebmachers beherbergt hatte. Sie nahm die Kleine mit sich, reinigte und kleidete sie und ruhte nicht, bis ihr Gatte aus dem hilflosen Heiden durch die Taufe einen Christen gemacht hatte, wobei sie Pate stand. Dann ließ sie Kuchen backen, schaffte Kaffee und Zucker herbei und bereitete auch den Eltern ihres Pfleglings im Wagen am Kreuzweg ein kleines Kindtauffest.

Als der Tag des Abschieds kam und man den dürren Klepper suchte, der unterdessen bei Tag und Nacht die benachbarten Kleeäcker mit seinem Besuche beehrt hatte, damit er den Wagen weiter zöge, holte die gute Frau Pfarrer noch alles herbei, was in dem Hause nicht niet- und nagelfest war, und es fehlte wenig daran und sie hätte den alten graubärtigen Siebmacher in den Chorrock ihres Mannes gesteckt und die Abendmahlgefäße der Familie als Kochgeschirr überlassen. Die Leute im Wagen aber zogen aus dem Vorgang nach ihrer Art die Nutzanwendung. Wo immer sie auf der Straße ein Pfarrhaus erfragt hatten mit einer Pfarrfrau darin, da wurde ihnen ein Töchterchen geboren, und nun wiederholte sich mit großer Regelmäßigkeit die ganze Taufprozedur mit all' der Feierlichkeit und den Geschenken wie zum erstenmal.

So verhalf das brave Kind seinen Eltern durchschnittlich in jeder Woche einmal zu einem kleinen Familienfeste. Aber gerade die Häufung dieser Gastereien trug den Keim ihres Zerfalles in sich. Das monatealte Neugeborene war nämlich durch all diese Schmausereien zu solchen Dimensionen aufgeschwollen, daß auch den harmlosen Landpfarrern, die doch vom Glauben leben müssen, leichte Zweifel aufdämmerten, ob die gütige Natur wirklich reich genug wäre, um so viel Stoff an das Werk eines Tages vergeuden zu können.

Auch das biedere Paar der Siebmacher fühlte, daß es Zeit sei, dem heiteren Spiel ein Ende zu bereiten, damit nicht schließlich Taufe und Konfirmation oder gar Hochzeit bei ihrem Töchterlein zeitlich gar zu nahe nebeneinander zu liegen kämen. Dem Drang gehorchend, nicht dem eigenen Zug des Herzens, brach man das Taufen ab, zog ein paar Meilen weiter ins Land hinein und gab dem Kind den Künstlernamen Olga, obwohl sich gerade zu diesem weder auf Erden eine Patin, noch im Himmel eine Namenspatronin finden wollte.

Als dieser definitive Zustand endlich erreicht war, stand die Kleine bereits auf den Füßen und machte ihre ersten Gehversuche, oder lag neben dem Hunde auf der Pritsche, die unter dem Wagen pendelte, während ihre Mutter in den Dörfern die alten Regenschirme und zerbrochenen Siebe zusammentrug. Späterhin lief sie selber mit und erregte durch den Schmutz und die Lumpen, die sie einhüllten, das Mitleid der Bauersfrauen, so daß sie zum Verdienst des Vaters kleine Naturalienlieferungen an Brot, Käse und Kartoffeln, die ihr zwischen der Haustür und dem Herde geschenkt worden waren, dem gemeinsamen Haushalte beitragen konnte. Mithin bestritt sie die Kosten ihrer Ernährung frühzeitig selber und, da ihr jedes abgelegte Kleidungsstück paßte oder vielmehr passen mußte, so war auch die Sorge für ihre Bekleidung von den Eltern genommen. Was hinwieder in Fetzen von ihr fiel, hielt immer noch eine Zeitlang vor, um dem Hunde ein weiches Lager zu bereiten.

So gingen zwischen Wandern und Stillliegen die Jahre hin mit ihrem langweiligen Wechsel von Frost und Hitze, von Grünen und Verwelken. Im Sommer bewegte sich der Wagen langsam wie eine Schnecke auf der Landstraße vorwärts, und im Winter stand er hinter einer Gardine von Eiszapfen unter dem Vordache einer Dorfscheune, während die Familie in einem Winkel des Gemeindehauses so komfortabel, als es gehen wollte, untergebracht war.

Wenn der Herbst zur Neige ging, so pflegte man das abgemattete Pferd, da man die Kosten seiner Überwinterung scheute, einen kleinen Ausflug nach einer Pferdeschlächterei machen zu lassen, allwo sich dann die Seelenwanderung in Salamiwurst still und geheimnisreich vollzog. Kam der Frühling ins Land, so kaufte man einen neuen Renner, wobei man sich von dem Gedanken leiten ließ: Besser teuer und gut als billig und schlecht. Man wollte an diesem Punkte des Budgets nicht sparen und ob ein solch' edles Tier nun 75 oder 80 Mark kostete, darüber machte man sich im entscheidenden Augenblick des Einkaufs keine Skrupel.

Der Hund, der manchen dieser edlen Renner überdauerte, begrüßte alle schweifwedelnd mit dem gleichen Wohlwollen, wie er auch allen das Geleite gab bis zum Portal der Pferdeschlächterei, um dann traurig und in Gedanken versunken wieder heimzukehren. So ging es zwanzig Jahre lang, und es wäre ja wohl noch zwanzig Jahre so weiter gegangen, wenn nicht die allmächtige Liebe eine plötzliche Änderung in dieser transportablen Familienidylle herbeigeführt hätte.

Es war an einem schneeigen Dezemberabend. Wie immer kampierte man in dem Gemeindehause, vor dem ein schmaler Pfad durch den Schnee getreten war, der zu der benachbarten Bauernwohnung führte. Gar verlockend klangen von draußen kommend die Töne einer Ziehharmonika in den großen frostigen Raum des Zimmers herein, das durch die Kälte gleichsam noch an Kubikinhalt gewonnen hatte. Da waren leere dunkle Ecken weit entfernt vom Ofen, zu denen es eine Tagreise schien, um hin und zurückzugelangen. Selbst Licht und Wärme vermochten sie nicht zu erreichen. Da waren die Fenster von Eisblumen übermalt und geblendet, als ob es nötig gewesen wäre, das stimmungsvolle Halbdunkel noch mehr abzudämpfen. Vom Nachthimmel hernieder fing sich der Mondschein in den Tausenden von kleinen Eiskristallen und warf zwinkernde Lichter in den öden Raum. Durch die klaffenden Spalten der Fensterverkleidung strich streng und schneidend die kalte Nachtluft. Und dennoch verließ Olga ihren Platz am Ofen und trat an die Scheiben. Sie kratzte mit den Fingernägeln eine Öffnung in die Eiskruste und lugte hinüber nach dem hell beleuchteten Bauernhause, von dem noch immer der Klang der Ziehharmonika herüberlockte und das rhythmische Stampfen tanzender Paare. Vor ihren Sinnen entwickelte sich, fast greifbar wie eine Gesichtshalluzination, das Innere einer behaglichen Bauernstube. Da stand der große Kachelofen in der Ecke und erfüllte den Raum mit einer sanften Wärme, während die brennenden Scheite in seinem Innern leise klagende Sterbelieder sangen. Da hängt von der Decke hernieder gerade über dem blank gescheuerten Tischbrett die Lampe und trägt in alle Ecken Glanz und Helle, und die lieben Heiligen an den Wänden und selbst das Holzbild des Gekreuzigten, quer in die rauchgeschwärzte Ecke gestellt, lächeln und baden sich in ihren tanzenden Lichtwellen. Da ist im Hintergrunde etwas, was man mehr ahnt als sieht, da ein neidischer Vorhang den neugierigen Blicken den Durchgang verwehrt. Hochaufschwellend blähen sich in der weiten Bettstelle die molligen Federn der Kissen und scheinen die Nähte der bunt gewürfelten Überzüge sprengen zu wollen. Das ist die Lagerstätte der Eheleute, wie geschaffen den Schlaf an diese Stelle zu fesseln. Dabei im Kasten über dem Lehnstuhl das Brot, im Rauchfang das Fleisch, im Keller der Wein und auf dem Speicher das Korn. Und zu dem allem noch die Befriedigung des Herzens durch das Glück der Liebe. Welch verlockendes Bild für ein armes Mädchen, dessen muffiges Bett in einer Ecke auf dem Boden lag und dessen Tisch die Ofenplatte war, die auch seine karge Nahrung wärmte!

Jetzt faßte es sie unwiderstehlich, sie wollte und mußte hinüber in jenen Kreis, wo das warme Leben pulsierte. Hinweg aus der Umgebung der grämlichen Alten, die miteinander zankten und sich Vorwürfe machten, wenn sie nicht die Gesichter mürrisch verzogen und sich etwas vorschnarchten. Der Klang der Musik, das Lachen der Tanzenden zog sie an, wie das Licht den Nachtfalter. In ihrem kleinen Gehirn erwachte keine Gegenvorstellung mehr, die ihr das Gewagte ihres Tuns, die Möglichkeit einer schroffen Zurückweisung zum Bewußtsein gebracht hätte. Eilig ging sie an einen der herumstehenden Kästen, wählte unter den sieben Sachen das Beste, was sie anzuziehen hatte, warf die Kleider über sich und ohne die erstaunt fragenden Blicke der Alten nur im geringsten zu beachten, eilte sie schweigend nach der gebrechlichen Stubentüre, die bei ihrer Annäherung erzitterte. Als sie auf der Straße stand, warf der Mond ihre schwarze Silhouette über den weißen Teppich des Schnees, so daß sie einen Augenblick stehen blieb, um nicht ohne Selbstgefälligkeit ihr Bild zu mustern und da und dort ordnend an sich herumzuzupfen. Sie war mit sich selbst zufrieden, und eitel wiegte sie den Oberkörper über den runden Hüften, ehe sie weiter ging. Aber je näher sie der Tür des Nachbarhauses kam, um so unsicherer wurde ihr Tritt, um so mehr quälte sie der Gedanke, ob und wie man sie aufnehmen werde in dem Kreise der Jugend, zu dem sie doch, das fühlte sie, so ganz und voll gehörte. Wie eng zieht der hartherzige Besitz den Kreis um sich und bannt jeden aus seiner Nähe, dem die Armut ihr schmutziges Siegel auf die Stirn gedrückt hat.

Sie wurde wankend und unschlüssig, aber nur in ihren Vorstellungen, während die Beine, wenn auch unsicher, weiter gingen. So kam sie vor die Schwelle, und die vor innerer Erregung zitternde Hand drückte auf die Klinke. Die Tür öffnete sich fast zu ihrem Schrecken und plötzlich stand das Mädchen da, umflossen von dem hellen Schein der Lampe, umfächelt von der warmen Luft des Zimmers, die durch die Bewegungen der Tanzenden in wogende Schwingungen versetzt, schmeichelnd ihre Wange streichelte. Das Geräusch, das die Eintretende machte, und die kalte Luft die rücksichtslos hinter ihr hereinströmte, lenkte sofort die Augen aller auf sie. Überraschung, Staunen, Zorn und Schalkhaftigkeit erfüllte die Versammelten, ohne daß zunächst jemand ein Wort gefunden hätte, seiner inneren Seelenstimmung Ausdruck zu verleihen.

Der erste, der sich von seiner Gemütsbewegung, wenn er überhaupt etwas gefühlt hatte, erholte, war der Harmonikaspieler. Er legte den Arm um die Taille des Mädchens und, ohne sich zu erheben, zog er die Zitternde zu sich nieder auf die Bank, die an der Wand hinlaufend bei dem Kachelofen endete. Da saß sie nun und ließ sich willenlos die Zärtlichkeiten des grauköpfigen Schalksnarren gefallen, der den Verliebten spielte und sich zum Gegenstand des Spottes machte, um die Gesellschaft zu erheitern und aus dem kataleptischen Zustand zu befreien, in den sie durch das Erscheinen der Fremden gekommen war. Die Rolle, die er hierbei dein Mädchen zuwies, war für deren zarter besaitete Seele im ersten Augenblick peinlich und voller Verlegenheiten, ermöglichte ihr aber doch den Aufenthalt in dem gutdurchwärmten Räume und unter gleichalterigen Menschen, deren Freuden sie mitansehen, wenn auch vielleicht nicht teilen durfte.

Der prickelndste Genuß führt zur Übersättigung, und schließlich wurden es auch die Paare müde, die Siebmachers Olga und den alten Narren zu hänseln und wandten sich wieder dem Tanze zu, dem die Harmonika Rhythmus und Takt gab. So saß das Mädchen bald unbeachtet neben dem Alten, der übrigens dafür sorgte, daß die hölzerne Stütze mit dem Apfelwein nicht vorüberkreiste, ohne daß seine Nachbarin davon getrunken hatte, der ihr auch an Brot und Fleisch freigebig zusteckte, was er mit seinen Fingern, die gewohnt waren, tief zu greifen und fest zu fassen, nur irgend vom Ofengesims, das als Büfett diente, heruntertasten konnte. Ungewohnt von solcher Sorgfalt umgeben zu sein, öffnete sich ihr Herz in Dankbarkeit dem Taugenichts, der reichlich doppelt so alt war wie sie selber und der in seiner Armut mit ihr das gleiche Los teilte, von den Besitzenden zurückgestoßen zu sein, oder doch nur dann herangezogen zu werden, wenn man glaubte, sich seiner zu irgendeiner schmutzigen Arbeit oder Hanswursterei mit Vorteil bedienen zu können. Sie kannte ihn schon lange. Sie hatte ihm zugesehen, wie er vor den Häusern im Schnee stand und verdrießlich Holz sägte, wenn zufällig keiner das Bedürfnis fühlte, ihn in der Sargtischlerei zu beschäftigen. Sie sah ihn im Schnapsrausch über die Straße schwanken und wie ein Mauerbrecher die Häuser berennen. Aber sie hatte ihn auch gesehen, wie er verwegen und todesmutig aus der Dachluke eines brennenden Hauses stieg mit dem Säugling unterm Arm, den er über Dächer hinweg seiner verzweifelten Mutter zutrug. Und heute, wo er als der einzige sich ihrer annahm, da war aller Schmutz, den er selber auf sich gehäuft und den andere schadenfroh an ihn geworfen hatten, verschwunden, und er wurde für sie, wenn auch keine glorreiche, so doch eine erträgliche Erscheinung, deren täppisches, fast rohes Liebeswerben sie sich gefallen ließ.

Auch seine äußeren Verhältnisse erschienen, von ihrem Standpunkt aus betrachtet, keineswegs unvorteilhaft. Er hatte den Sitz in einem Hause, war seßhaft und hatte damit in der Entwicklung des Menschengeschlechtes bereits die zweite Stufe erreicht, während sie noch immer wie weiland Hirte und Jäger nomadisierend durch die Welt zog. Wer von meinen verehrten Leserinnen wird sich in Anbetracht des Umstandes, daß sich bis jetzt noch kein Mann um das Mädchen beworben hatte, daß ihr mithin eine eigentliche Wahl und die mit ihr zusammenhängende Qual erspart blieb, wundern, daß sie ja sagte, als der Harmonikaspieler sie auf dem Heimweg fragte, ob sie seine Frau werden wolle.

Die Zurüstungen zur Hochzeit waren einfach genug. Der Nachtwächter und der Gänsehirte waren Trauzeugen und als der Pfarrer den Segen über die ineinanderliegenden Hände gesprochen und den Psalm vollendet hatte: »Dein Weib soll sein wie ein fruchtbarer Weinstock vor Deinem Hause,« da waren alle Bedingungen erfüllt, die dem zukünftigen Stammhalter des erlauchten Geschlechtes der Hely einen ehrenvollen Eintritt in diese Zeitlichkeit gestatteten. Daß er diesen glücklich bewerkstelligte und wie er sich in der ersten Zeit seines Erdenlebens aufführte, weiß der Leser bereits aus dem vorausgehenden Kapitel.

 


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