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Zwölftes Kapitel

Unsere Reisenden am Bahnhof hatten einigermaßen die Empfindung, daß sie sich lächerlich gemacht hätten, allein dieses Unlustgefühl wurde reichlich ausgeglichen durch die beruhigende Vorstellung, daß man nun im Sichern sei und nicht zu spät kommen könne, mehr aber noch durch den Hunger, der sich in jedem zu regen begann. In dem leeren Wartesaal setzte man sich zusammen und öffnete die mitgebrachten Bündel. Überall kam irgend etwas Genießbares zum Vorschein; und Brot, Eier, Käse und Gänsefett vereinigten sich zu einer kalten Platte, der jedermann nach Herzenslust zusprach. So verging die Zeit und bereits erschienen die ersten Passagiere, die offenbar auf den gleichen Zug reflektierten. Je mehr kamen, um so stiller wurde die Gesellschaft und ihr Gespräch dämpfte sich ab zu einem leisen Flüstern. Man war nicht mehr unter sich, man mußte das Zimmer und die Welt mit anderen teilen, das wirkte einschüchternd. Man hörte ein Glockensignal und später noch eins und man begriff, daß dieses das Annähern des Zuges signalisierte.

Jetzt wurde der Lorenz unternehmend. Er stand auf, Gott weiß, wo er auf einmal den Mut hernahm, öffnete die Tür und trat auf den Perron. Er sah den Schienen entlang, nordwärts und südwärts, äußerst gespannt zu erfahren, aus welcher Richtung das Ungetüm heranbrausen würde. Andere Reisende waren hinter ihn getreten, er merkte es nicht. Immer näher kam der große Moment, in dem der Lorenz zum ersten Male die Bekanntschaft einer Eisenbahn machen sollte. Bereits vernahm man aus der Ferne ein dumpfes Grollen und unmittelbar vor sich ein lautes Krachen, das aus den Schienen zu kommen schien. Um die Sache noch ängstlicher zu machen, fing auch die Erde an, leise zu zittern. Der Lorenz stand starr und unbeweglich, wie sein Namenspatron, der hölzerne Laurentius auf dem Hochaltar der heimatlichen Dorfkirche. Als er aber bei einem Blick nach Norden in einer ungeheuren Rauchsäule einen roten Feuerschein erblickte und ein schwarzes Ungetüm, das mit tausend gelenkigen Gliedern sich weiterzuarbeiten suchte, da herrschte von allen möglichen Gefühlen in seinem Innern nur noch die Furcht, und er hielt das Manöver einer schleunigen Rückwärtskonzentrierung für die einzige taktische Möglichkeit, sein Leben zu retten.

Leider hatte er das Terrain vorher nicht genügend rekognosziert und als er mit seinen genagelten Absätzen einem dicken Herrn auf eines seiner besten Hühneraugen trat, da erhielt er von hinten eine Ohrfeige, daß ihm der Kopf brauste wie ein Mühlenwehr. Derartig unzart von der eingeschlagenen Richtung abgelenkt machte der Lorenz eine Ganzschwenkung rechts und drängte sich mit allen Zeichen der Todesangst durch das – mit einziger Ausnahme des Herrn mit den Hühneraugen – höchlichst erheiterte Publikum dem Wartesaal zu.

Unterdessen war der Zug zum Stehen gekommen, die Kondukteure öffneten die Türen und drängten zum schleunigen Einsteigen. Auch unsere Reisenden hatten sich bereits ein Coupé ausgesucht und ihre Bündel hineingeworfen, als man mit Besorgnis den Lorenz vermißte. Man eilte in den Wartesaal zurück, fand ihn hinter der Tür und zerrte den Widerstrebenden den Trittbrettern des Wagens entgegen. Hier faßte ihn der Schaffner mit voller Faust am Rückenteil seines Tuchwamses und während die Frauen, die bereits im Coupé waren, an seinen Ärmeln zogen, hob er ihn mit kräftigem Arm im Rücken in die Höhe und schleuderte ihn mit einem Ruck in den Wagen hinein. Krachend fiel die Tür ins Schloß und die Räder fingen an zu rollen.

Eine Zeitlang saß der Lorenz blaß und zitternd wie ein Götzenbild aus Kälbersülze neben dem Fenster und blickte sprachlos nach den Vorderblättern seiner Stiefel. Als er aber merkte, daß ihm weiter nichts geschah, daß der Wagen ruhiger lief, als er je einen Wagen hatte laufen sehen, kehrte seine Courage allmählich wieder und er lachte mit den andern, denen jetzt sein Mißgeschick zum Gegenstand großer Erheiterung geworden war. Nach und nach wagte er zu husten und die Beine zu strecken; es dauerte nicht lange und er holte seine Pfeife hervor, ein Zeichen, daß er jetzt die innere Harmonie seines Seelenlebens voll und ganz wieder gefunden hatte. Innerhalb der nächsten zehn Minuten füllte er die kleine Abteilung so vollständig mit Tabaksqualm, daß es für die Reisenden immer schwieriger wurde sich zu sehen und zu erkennen. Man mußte auf Abhilfe sinnen und studierte so notgedrungen die innere Einrichtung des Wagens. Zunächst versuchte man das Fenster zu öffnen und Luftzutritt zu ermöglichen. Allein keine noch so scharfsinnige Überlegung förderte dies Unternehmen irgendwie vom Fleck. Als aber der kühn gewordene Lorenz aus Übermut an dem langen Lederriemen zog, der scheinbar zwecklos dahing, fiel zur allgemeinen Überraschung die Scheibe nieder, und ein kühler Luftzug durchfächelte in sehr erwünschter Weise den Raum. Von allen Seiten beglückwünschte man den erfindungsreichen Sohn des Odenwaldes zu seinem Erfolg, man war stolz auf ihn und wurde der Meinung, daß einer von solcher Findigkeit in Amerika der richtige Mann am richtigen Platze sein werde.

Den Lorenz erfreute die gute Meinung, die seine Mitreisenden von ihm hatten und er glotzte, um seine Kenntnisse von Welt und Menschen zu erweitern, auf der linken Seite des Wagens anhaltend zum Fenster hinaus, während der Michael Hely dies auf der andern Seite besorgte.

Auf einer Zwischenstation wurde die Tür aufgerissen, und in der Lichtung erschien, so breit wie ein Schilderhaus, mit hochrotem, dampfendem Gesicht die Gestalt eines Reisenden. Er gehörte zu jener Sorte, denen der ewige Jude bei seinem Scheiden von dieser Welt seine Unruhe vermacht hat. Sie besitzen kein Heim, sie leben auf der Eisenbahn und im Postwagen und wenn sie Glück haben, so sterben sie auch in einem dieser Behälter. Das Coupé ist ihnen, was dem Beduinen das Zelt: Speisesaal, Rauchzimmer, Schlafgemach. Sie fühlen sich als Eigentümer desselben und betrachten es förmlich als einen Eingriff in ihr Hausrecht, wenn irgendein anderer Mensch durch Lösung einer Fahrkarte sich ein Nutznießungsrecht daran erworben hat. Das erste, was er unsern Reisenden zuwarf, war ein vorwurfsvoller Blick. Dann schnauzte er den Schaffner an, ob man ihm, der für die Rentabilität der Anlage aufzukommen habe, kein besseres Unterkommen verschaffen könne. Als dieser demütig verneinte, warf er nacheinander unter Fluchen und Brummen einen Musterkoffer, eine Handtasche, eine Hutschachtel, ein Regenschirmgestell, einen Sommerüberzieher und ein Reiseplaid auf die von solchem selbstbewußten Auftreten eingeschüchterten Odenwälder. Zuletzt hob er seine werte, schwerwiegende Persönlichkeit von der Erde ab, drehte sie so, daß er mit der linken Schmalseite voran, die Tür nahm, was ihm auch gelang und suchte nun auf der Bank nach einer Stelle, die geräumig genug wäre, eine so weitläufige Persönlichkeit wie die seine bequem aufzunehmen. Nach einigem Überlegen ließ er sich zwischen die Weiblein aus dem Grafenlande nieder, wodurch diese wie Habannazigarren in einer Holzkiste förmlich aus der Façon gedrückt wurden und ängstlich nach Luft schnappten. Die Sorge für seine Habseligkeiten überließ er großmütig dem Alters Lorenz und dem Michael Hely, die, um den Gestrengen bei guter Laune zu erhalten, alle die Siebensachen unter den Bänken und auf dem Drahtnetz über den Sitzen, so gut es ging, aufzustapeln suchten. Aber alle diese Zuvorkommenheit zerstreute nicht die Wolke des Unmuts, die auf der Stirne des Commis voyageur lagerte, und seine kleinen Schweinsäuglein überschattete, aus denen zuweilen flammende Blitze nach dem Lorenz hinüberleuchteten. Dieser in seinem Ecksitz bereitete sich eben vor seine unterbrochenen Beobachtungen durch das Fenster wieder aufzunehmen, als der Haufen Unwille auf der Bank gegenüber sich aufrichtete und den Lorenz stark fixierend in dem Tone eines Mannes, der das Recht hat, so etwas von Amts wegen zu tun, an diesen die barsche Frage richtete: »Wo reisen Sie hin?« »Nach Buffalo hintere,« war die kleinlaute Antwort. »Dann müssen Sie sich herübersetzen.« Mit diesen Worten tauschte der Fremde für seine bedrängte Lage den bequemen Ecksitz unseres unerfahrenen Amerika Reisenden schweigend ein. Als er sich an der neuen Stelle einmal niedergelassen hatte, wurde er zusehends heiterer. Er überflutete mit der teigigen Lavamasse seines Körpers die Schenkel seiner Nachbarschaft, nieste, spuckte, holte ein kleines Kissen aus seiner Rocktasche hervor, schob es zwischen die paar Haare, die auf seiner linken Schädelseite noch vorhanden, und die Holzwand, gähnte zwei- bis dreimal und schlief ein.

Jetzt war wieder Friede in der kleinen Hütte. Mücken summten in dem heißen Raume. Durchs Fenster fiel ein heller Streifen Sonnenschein und erwärmte das Gepäck in den Drahtnetzen und eben noch die Stirne des Schlafenden, die sich mit kleinen hellperlenden Schweißtröpfchen überzog.

Als der wirsche Unhold eingeschlafen war, wich die Beklemmung auch allmählich von den Reisenden. Sie wagten wieder aufzuatmen und ihren Platz auszufüllen. Ihre Muskeln verloren die nervöse Spannung und legten sich wie ein Gipsbrei in die Höhlung des Sitzes. Die Räder sangen ein Schlummerlied, und Müdigkeit und Hitze drückten aller Augen zu bis auf die des Lorenz, den der Dorfteufel wach hielt.

Er hatte sich der Tabakspfeife bemächtigt und produzierte die unglaublichsten Kunststücke. Er konnte durch die Nase rauchen, durch die Ohren, er konnte Ringe blasen, kleine Ringe immer einen durch den andern, so daß in der Luft ein Gebilde entstand ähnlich einer Schalmeie aus Duft gewebt. Aber auch große Ringe brachte er fertig, die satt und behäbig weiter schwebten und das glattrasierte Gesicht des Reisenden mit einem Heiligenscheine umrahmten, so daß es in seiner steifgezwungenen Pose aussah wie ein Prophetenkopf, ausgeschnitten aus einem Bilde der umbrischen Malerschule. Als sie es so fast mit frommer Scheu betrachteten, geschah etwas, was dem Antlitz jeden Schimmer des Ehrwürdigen mit einem Male raubte. Von der Decke – niemand wußte woher – fiel etwas – niemand wußte was – gerade auf die gedunsene Oberlippe des Schlafenden. Das vorher so ruhige Antlitz verzog sich unter dem Reiz des aufgefallenen Gegenstandes zur Fratze und es erschien nach einer kleinen Weile die Spitze der Zunge und tastete vorsichtig die Oberlippe ab, bis das rätselhafte Ding verschwunden war. Dann kam wieder, ausgeschält aus der komischen Maske, der Heilige allmählich zum Vorschein bis ein neuer Tropfen aus der geheimnisvollen Höhe niederfiel und die Züge so verzerrte, daß deren Inhaber eher einem Geißbock als einem Menschen glich.

Das war etwas für das mimische Talent des Michael Hely. Er rückte dem Schlafenden näher, blies dicke Ringel aus der Pfeife und ahmte mit unwiderstehlicher Komik die Fratzen nach, die sein Gegenüber schnitt. So sah der Lorenz alles doppelt. Erst in großem Folioformat, dann, als ob er in umgekehrter Richtung durch einen Operngucker gesehen hätte, in Kleinoktav, in die Ferne gerückt, verkleinert, aber nur um so schärfer umrissen im Gesichte des Dorfteufels. Der Umstand, daß er seinen Gefühlen nicht freien Lauf lassen durfte, konnte geradezu gefährlich für ihn werden. Er schwoll auf, ringelte sich vor innerem Behagen, pustete, bekam etwas Schaum zwischen die Lippen, ringelte sich noch einmal und drückte unter zappelnden Bewegungen der Beine die ungeheuere Lachlust zu den Fußzehen hinaus.

Immer mehr der Tropfen fielen hernieder, doch nicht alle so, daß sie von dem Knaben zu künstlerischer Ausschlachtung verwertet werden konnten. Manche fielen auf das Vorhemd, die Weste, den Rock des Schlafenden. In immer kürzeren Intervallen folgte der Tropfenfall und er war schon beinah ein sanfter Regen geworden, als die Ihleins Lisbeth erwachte. Diese begriff sofort, was vorging. Der Topf mit dem Gänsefett war umgefallen, das letztere in der Sonne geschmolzen und auf den unseligen Reiseonkel heruntergeträufelt. Leise ermunterte man die andern Frauen und verständigte sie flüsternd von dem, was geschehen war. Mit Zittern und Beben sah man dem Moment entgegen, in dem der Schreckliche die Augen öffnen und erkennen würde, wie er zugerichtet war.

Doch das Glück in seiner Laune unterstützte diesmal die Furchtsamen. Der Zug war in den Bahnhof Mannheim eingefahren und stand still, ohne daß der Schlafende wach wurde. Wie Diebe schlichen sich unsere Freunde auf leisen Sohlen aus dem Wagen, stürzten dann aus dem Hauptportal hinaus, suchten einige Seitenstraßen auf und hatten zunächst nur das Bestreben, zwischen sich und den Bahnhof möglichst viel Häuserquadrate zu legen.

 


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