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Drittes Kapitel

Wie es der Arzt angedeutet hatte, so kam es; aber es dauerte immerhin noch acht Tage. Unterdessen hatte der Winter seinerseits die Erde in ein Leichentuch gewickelt, und von der großen Toten sah nichts mehr heraus, als an Rainen und Abhängen die verschossene Farbe ihres abgetragenen, einstmals grünen Sommerkleides. Verschneit waren alle Wege. Die Menschen lagen träge auf den Bänken beim warmen Ofen. Der Hofhund lag in seiner Hütte und zeigte nur an der runden Öffnung seiner Wohnung sein mißvergnügtes Gesicht, und die Katze beschränkte ihr Bedürfnis nach Bewegung auf kurze Spaziergänge in die Küche und in das luftige Sparrenwerk des Bodenraumes. Heftig rüttelte der Wind an den Läden und preßte durch Lücken und Ritzen kleine Schneespuren bis in das Innere der Häuser. Kurzum, es war ein Winterwetter, daß man keinen Hund ins Freie jagen mochte.

Da ging bei dem Schreiner die Tür auf und mit den demütigen Worten: »Grüß Gott!« trat ein junger Mann herein, dessen verweinte Augen, blasse Wangen ebenso sehr wie das tiefe Schwarz seines Anzuges die Sprache des Kummers deutlich genug redeten. An seinen Schuhen und Kleidern hing der Schnee. Der Fremde kam von einem der Höfe weit draußen hinterm Walde und brachte die Kunde ins Pfarrdorf, daß sein Vater, der Rößliwirt Heiner, verstorben sei.

Beim Pfarrer und beim Lehrer hatte der Sohn die Beerdigung angesagt und nun kam er, den Schreiner abzuholen, damit er dem Vater das Maß nehme zu einem schönen Sarg. Nein, sie wollten an dem Toten nicht sparen. Eiserne Henkel sollten an den Seitenteilen sein und auf dem Deckel ein gekreuzigter Herrgott aus gegossenem Blei.

Der Michael Hely hörte seinem Auftraggeber mit Aufmerksamkeit zu, schlüpfte aber derweilen in die Ärmel seines Sonntagsrockes, nahm den Maßstab statt eines Stockes in die Rechte und zeigte sich bereit, aufzubrechen.

Vom Turme wimmerten die Glocken und riefen die Trauerbotschaft, daß der Rößliwirt Heiner gestorben sei, in alle Haustüren hinein. Fromm traten die Bewohner vor das Kreuzbild Gottes, das in jeder Stube über der Kammschachtel an der Wand hing, falteten die Hände und beteten, daß Gott seiner Seele ein gnädiger Richter sein möge und daß er ihm den Frieden gebe, den auf Erden das fernste, tiefste Tal nicht geben kann. Dann schwiegen die Glocken, ein jeder Beter ging wieder an sein Geschäft, und unsere zwei Männer stampften durch den kniehohen Schnee hinauf zum Sterbehause.

Zwei Tage später war die Beerdigung des Verstorbenen. Man hatte den Sarg auf einem Holzschlitten befestigt. Einige der Leidtragenden setzten sich oben darauf. Vor die vorderen Kufen trat als Lenker des Fuhrwerks der Michael Hely und fort ging es über die glatte Decke des gefrorenen Schnees dem Kirchhof von Rickenbach entgegen.

Wo das Gefälle es erlaubte, stellte sich der Michael Hely auf die Kufen und überließ den Schlitten dem Gesetz der Schwere. So sauste er denn auf der glatten Fläche blitzschnell in die mit Schnee gefüllten Mulden, und die letzte traurige Reise des Rößliwirts Heiner in das trübselige Reich der Schatten gewann stellenweise etwas Lustiges.

Von allen Höhen sah man schwarzgekleidete Menschen, die dem Verstorbenen die letzte Ehre erweisen wollten, ins Tal heruntersteigen und die Mauern des Kirchhofs füllen. Der Pfarrer segnete die Leiche ein und hielt am offenen Grabe eine Leichenrede seiner besten Sorte, denn der Heimgegangene war ein reicher Mann. Gar manchem wurde jetzt erst klar, was er verloren habe. Es flössen reichliche Tränen und laut weinend spendete die treffliche Witwe dem Heimgegangenen das höchste Lob, was man ihm spenden konnte: »Jetzt muß ich wieder heiern, jetzt muß ich wieder heiern und so einen krieg' ich so leicht nicht wieder.« Dann kollerten die gefrorenen Erdschollen polternd auf den Sargdeckel nieder, und die Trauerversammlung ging hinter dem Pfarrer her zur Kirche, wo für den Toten das erste Seelenamt gehalten wurde. Man war noch immer gerührt, andächtig, selbst zur Mildtätigkeit geneigt, und als man während des Gottesdienstes in einer langen Reihe um den Hochaltar zum Opfer ging, da überdeckte sich der Zinnteller, der auf der Epistelseite stand, gar bald mit größern und kleinern Kupfermünzen. Hatte sich unter diese schäbigen Proletarier des Geldes ja einmal ein feudales Silberstückchen verirrt, so konnte man sicher sein, daß sein innerer Wert nicht ganz einwandfrei war. Der Bauer stellt sich mit dem lieben Gotte auf den gleichen Fuß wie mit jedermann, und wo er einen betrügen kann, tut er's. So hängte man dem Herrn der Welt die minderwertigen österreichischen Sechser auf und auch die längst außer Kurs gesetzten Vogelsgroschen brachte man ihm zum Opfer, wobei man sich dachte, daß er in seiner Stellung ein gutes Einkommen habe und den kleinen Verlust eher verschmerzen könne, als im Wirtshaus das arme Bärenweible, dem ihr seliger Mann außer einem Haufen Kinder und einem schlechtgehenden Geschäft nichts weiter hinterlassen hatte.

Übrigens machte der Pfarrer heute schrecklich lang, bis er mit der Seelenmesse fertig war. Die meisten Leidtragenden froren an den Füßen, und auch die Finger waren so steif geworden, daß sie kaum mehr das Gebetbuch halten konnten. Außerdem meldeten sich der Hunger und der Durst und vertrieben die elegische Stimmung, die der Anblick des gähnenden Grabes, wenn auch nur vorübergehend, in den Gemütern erzeugt hatte.

Als Gott zur Einsicht kam und erkannte, daß er die arme Menschheit für die Apfelnascherei im Paradiese doch gar zu hart gestraft habe, da gab er, um den Fluch abzuschwächen: »Dornen und Disteln soll die Erde tragen«, allen denen, die sie bebauen müssen, einen guten Magen. So steht der Bauer des Morgens auf und freut sich auf das Mittagessen, ja über dreihundertfünfundsechzig Tage hinweg rechnet er von einem Kirchweihschmause zu dem andern. Dazwischen hinein nimmt er mit, was der Zufall bringt, ein Kindtaufsmahl oder einen Leichenschmaus. Und wie die Juden ihre Zeitrechnung nach dem Auszuge aus Ägypten bestimmten, so teilt er seine Tage ein nach bemerkenswerten Schmausereien, und nicht selten begegnet man der Zeitbestimmung: »dazumal als wir den Luxefriedle, oder sonst eine hervorragende Persönlichkeit unter den Boden gegessen haben.«

So entwickelte sich denn auch rasch nach dem Gottesdienst in dem Gastzimmer des Löwenwirts und beim Bärenweible ein kleines Bacchanal, dem niemand ansah, daß es seine Entstehung einer so traurigen Gelegenheitsursache verdankte. Da drückten sich beim vollen Glase alte Bekannte die Hand, und alte Feinde stießen in der Weinlaune miteinander an und ließen den Toten hochleben. Zwischen den Gläserklang hinein tönte das Singen reihenweise geordneter Leberwürste, die in den Pfannen über dem Herdfeuer sich lieblich bräunten und streckten.

Kleine Gruppen von Leidtragenden saßen zusammen und besprachen, nachdem sie satt waren, das traurige Ereignis und dessen nächste Folgen. Man war der Ansicht, daß die Witwe noch zu jung sei, um ledig bleiben zu können, und man munkelte bereits allerlei Namen von jungen Männern, die geeignet schienen, den Verewigten in jeder Beziehung zu ersetzen.

Von den Trauerfeierlichkeiten sprach man, wie das Theaterpublikum einer Großstadt von einer Premiere. Man fand, daß der Lehrer mit den Schulkindern in gesanglicher Beziehung den Erwartungen nicht ganz entsprochen habe. Der Pfarrer entbehrte in seiner Rolle nicht der Feierlichkeit, aber seine allzu getragenen Bewegungen wiederholten sich zu oft und wirkten ermüdend, zumal da die Kälte eine Abkürzung der Zeremonien dringend wünschenswert erscheinen ließ.

Unbedingt einig aber war man darüber, daß der Sarg mit seinem feinen Anstrich, seiner glanzvollen Ausstattung mit Henkeln und Zinkbeschlägen das beste sei, was man in Rickenbach noch gesehen habe und man bedauerte nur, daß ein so feines Möbel keinen andern Zweck habe, als von jetzt ab ungesehen unter der Erde mit seinem Inhalt zu verfaulen. Selbst die Witwe näherte sich mit schüchternen Schritten dem Michael Hely, um ihm zu danken. Sie fand trotz ihrer Niedergeschlagenheit, daß er in seinem Sonntagsstaat ein sehr stattlich aussehender junger Mann sei, und wenn sie es sich selber auch nicht eingestehen mochte, so war es doch so: ihre Augen, die noch in Tränen schwammen für den Verlorenen, gingen bereits ein wenig auf Freiersfüßen nach einem Zukünftigen.

Den jungen Gesellen freute die Anerkennung, die sein Werk gefunden. Das Vagabundenleben auf der Heerstraße war ihm verleidet. Er sehnte sich nach der Behaglichkeit eines eigenen Herdes und hier, wo man all das, was ihm von seiner Geburt an nachhing, nicht kannte, wo man seine Persönlichkeit augenscheinlich nur nach dem abschätzte, was sie war und zu leisten vermochte, hier, wo er ein Bedürfnis ausfüllen und sich nützlich machen konnte, hier wünschte er zu bleiben.

Während er sich so im stillen mit der Zukunft beschäftigte, wurden die andern immer lauter in der Gegenwart. Die von Todesahnung gedrückte Stimmung des Vormittags wich der reaktionären Gegenströmung des Lebens und wuchs wie jede Reaktion ins Extreme. Bereits sang man in der Runde, als Übergang von einer Gemütsverfassung in die andere: »In einem kühlen Grunde,« aber es war bereits klar, daß man in progressiver Steigerung demnächst bei den Schelmenliedern ankommen würde.

Die Witwe, die aus Erfahrung wußte, daß es sich so entwickeln werde, entfernte sich deshalb in schicklicher Weise, um die allgemeine Fröhlichkeit nicht zu stören und übernachtete bei einer befreundeten Familie im Dorf. Damit war der letzte Grund, sich einige Zurückhaltung aufzuerlegen, geschwunden. Nun griff auch der Michael Hely mit seinen Talenten ein, und Walzer- und Mazurkamelodien, aus der Harmonika herausgelockt, begeisterten in reizvoller Abwechslung die stark angeheiterte Trauerversammlung.

So war die Mitternacht lärmend, aber doch friedlich vorübergegangen. Von einem Bedürfnis nach Schlaf war bei den durch das winterliche Sistieren der Feldarbeit gut ausgeruhten Bauern keine Rede. Je näher man dem Tage kam, um so tumultuarischer wurde das Gelage und es nahm mit zunehmender Trunkenheit stellenweise den Charakter eines Raufhandels an. Alter Familienzwist wurde ausgegraben und bei den täppischen Versuchen, ihn zu schlichten, belebte er sich wieder durch heftige Reden und Gegenreden. Schon griff der eine gelegentlich nach dem Brustlatze des andern und schüttelte seinen Gegner, daß man das Übermaß der genossenen Speisen und Getränke im Magen schwabbeln hörte, als die Glocken ertönten und den Streitenden verkündeten, daß für den Verstorbenen die zweite Seelenmesse beginne.

Mit dem ersten Glockentone, der die eisige Winterluft in bebende Schwingungen versetzte, war aller Streit beigelegt. Jeder besann sich auf den eigentlichen Zweck seines Hierseins und suchte in seiner Rocktasche nach Rosenkranz und Gebetbuch. Man wunderte sich, wo nur so schnell die Nacht hingekommen sein möchte, war plötzlich wieder fromm und eilte in die vom Kerzenlicht erhellte Kirche, wo man den Seelenhirten im schwarzen Meßgewand bereits am Altar stehen sah und hörte, wie er leise Gebete für das ewige Heil des Verstorbenen vor sich hin murmelte.

Als der Gottesdienst beendet war, ging man, von der Kälte zur Eile angespornt, ins Wirtshaus zurück und setzte das Luderleben von gestern fort. Man hatte am morgigen Tag noch das dritte Seelenamt zugute, und da lohnte es sich nicht, daß man wegen einer Nacht nach Hause ging und morgen wiederkam.

Wenn nun der Leser über sechsunddreißig Stunden hinwegdenken kann, so sieht er einen Teil dieser Bauern mit blutigen Schädeln beim Doktor sitzen, einen andern in der Abenddämmerung schwankenden Schrittes teils einsam, teils unter Assistenz einiger Frauen über den knisternden Schnee nach Hause schwanken. Zuweilen ereignete es sich wohl einmal, daß einer liegen blieb und später mit erfrorenen Händen und Füßen, oder auch wohl ganz erfroren aufgefunden wurde. Allein unter solchen oder ähnlichen Zeremonien und Gebräuchen pflegten allenthalben landauf und landab in den bäuerlichen Distrikten vor fünfzig Jahren unsere Großeltern begraben zu werden.

Für den Michael Hely, der sich an dem blutigen Finale des Stückes erfreulicherweise nicht beteiligte, bildete die erhebende Feier eine äußerst wirksame Reklame. Man hatte ihn von zwei Seiten kennen gelernt, einmal als tüchtigen Handwerksmeister und dann als einen durch sein Harmonikaspiel sehr anregend wirkenden Gesellschafter. Das kam dem Geschäft zugute. Bald liefen die Bestellungen bei ihm ein, für kleine Bedürfnisse des Haushaltes. Tellerbretter, Holzgesimse und Sitzmöbel fanden Abnehmer und gute Bezahlung.

Auch die Witwe des Rößliwirts Heiner fand, daß sie, ihren neuen Verhältnissen entsprechend, mancherlei im Gehöfte umzuändern habe, und beschäftigte ihn öfter im Hause, als nach Ansicht anderer Leute absolut nötig und dem Gedeihen ihrer Witwentrauer dienlich war. Sie kam ins Gerede, daß sie dem Schreinergesellen, der ihrem Seligen zu einem Sarge verholfen hatte, zu einem Bett verhelfen wolle, in welchem er die Seligkeit finden sollte, auf welche der andere durch seinen Weggang in die bessere Welt verzichtet hatte. Dieses Gerücht, das zunächst gewiß kein wohlwollendes war, förderte eigentlich die Absichten des Michael Hely und, indem es vornweg als sicher annahm, was beiden ausschlaggebenden Teilen doch noch zweifelhaft erschien, schuf es eine allgemeine Meinung, zu der man schließlich nur noch ja und Amen zu sagen brauchte, um eine Tatsache daraus zu machen.

Gewiß, dem Michael Hely kam es bei dieser eventuellen Verbindung auf kleine Nebensächlichkeiten nicht an. Daß die Frau eine Witwe war mit Kindern, konnte er recht gut übersehen, obwohl ihm ein Mädchen lieber gewesen wäre. Auch wäre es nicht nötig gewesen, daß sie gerade so aussah, wie sie aussah. Sie hätte auch schöner sein dürfen und nicht verschiedene Gebrechen an sich zu haben brauchen, aber derartige Zutaten fielen kaum mehr ins Gewicht, als der Bewurf bei einem Hauskauf.

 


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