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Achtzehntes Kapitel

Mitten im Dorfe, und manchem im Wege, stand ein alter, baufälliger Turm. Lange, lange hatte er seine Zeit überlebt und deren Bedürfnisse und er war der großen Masse ein Rätsel geworden. Niemand in der Gemeinde wußte, was er einst den Vätern war: Zuflucht und Schutz den Lebenden und den Toten. Aus seinen Flanken reckte er, wie starke Arme, gigantische Mauern, mit denen er die Ruhestätte der Toten schützte und in den unruhigen Zeiten der Bauernkriege Hab, Gut und Leben derjenigen, die sich ihm anvertrauten. Den Feinden war er der trotzige Torturm, den Freunden das hochgeschätzte Bollwerk eines befestigten Kirchhofes. In den Gewölberippen des Torbogens drohten einst die eisenbeschlagenen Pfähle des Fallgatters und aus den Schießscharten blinzelte vordem der eiserne Lauf der Donnerbüchse.

Heute war alles anders. Der Wallgraben von ehedem war verschüttet, die Ringmauer war verwittert und abgebröckelt, die Gräber waren eingesunken, und man hatte die schiefstehenden Leichensteine herausgenommen und bei Neubauten verwendet oder auch wohl aus Pietät den einen oder andern der morschen Mauer entlang aufgestellt. Die verwaschenen Inschriften erzählten den Spätgeborenen nichts mehr von dem, der hier seine Ruhe gefunden und nur zuweilen noch ließ eine aus dem Stein gehauene Hostie, die über einem Kelche schwebte, vermuten, daß der, den man hier zu langem Schlafe gebettet, ein Priester war.

Auf diese Reliquien aus den Tagen seiner Jugend sah der alte Torturm trübselig hernieder und wenn der Wind in stillen Nächten die eingerostete Wetterfahne über seinem mit Hohlziegeln gedeckten Dache drehte, dann hörte man den Alten schmerzlich seufzen und stöhnen. Mißverstanden und ohne Zweck war er wie ein gebrechlicher Greis, der kärglich von dem Ausgeding lebt – den Menschen zur Last und sich selber. Und wie man dem Urgroßvater ein Kind, ein Schaf, eine Gans oder ein ähnliches Ungeheuer zum Hüten übergibt, so hatte man ihm die Feuerspritze anvertraut und eine Glocke. Über ersterer spannte er wie ein Regenschirm die gotischen Gewölberippen des untersten Stockwerkes und schützte sie so vor Regenschauern und Schneewehen. Freilich war er, weil es ihm an Toren fehlte, nicht in der Lage, auch den Schwarm der Dorfjungen fernzuhalten, die zu ihrem Privatgebrauche das Hebelwerk der Pumpe in eine Schaukel und die Wasserbehälter in ein Magazin für Apfelpußen, Zwetschenkerne und andere Reste ihrer Mahlzeit verwandelt hatten.

War somit die Feuerspritze mehr oder minder dem groben Unfug eines jeden überlassen, so war die Glocke so aufgehoben, daß sie nahezu ihren Beruf verfehlte und nur mit Lebensgefahr in Gebrauch genommen werden konnte. Sie hing hoch oben im Dachstuhl, und der Wind, der durch das lockere Gefüge der Hohlziegel strich, fing sich gerne in ihrer Wölbung und spielte, wenn er wollte, feierlich getragene Akkorde und kleine lustige Weisen.

Auch die Zeit wußte die Glocke zu finden. Aus dem Zifferblatt, das im Giebelfelde der Dorfkirche hing, spannte sich quer über einen freien Platz ein starker Draht, auf dem im Sommer ungezählte Scharen von Schwalben ausruhten, und verlor sich unter der Dachtraufe des Turmes. So oft nun an der Uhr im Kirchenspeicher den Zipfel ein eiserner Zacken häkelte, zuckte der Draht, die Schwalben flogen erschreckt von dannen, an der Glocke aber hob sich ein Hammer, schlug nieder und verkündete, wie das seine Schuldigkeit war, allen, die es hören wollten, daß sie um eine Stunde dem Grabe näher gerückt seien.

Viel schwieriger als für den Wind und die Zeit war es für die Menschen, der Glocke beizukommen. Der Baumeister, der einst den Turm erbaut, hatte nämlich die Eingänge in die Stockwerke so gelegt, daß man nur von dem Wehrgang der Umfassungsmauer in den Raum über der Torwölbung gelangen konnte. Seit nun die Umfassungsmauer gefallen war, hing das spitzbogige Türgesimse, als ob es nur eine Verzierung wäre, zwischen den Schallöchern und Schießscharten hoch oben an der altersgrauen Wand des Turmes. Einige Trümmer und hier und da ein Stein, der aus der Mauerflucht hervorsprang, deuteten die Möglichkeiten an, wie man das Bauwerk ersteigen und zur Glockenstube gelangen könne. Allein wer immer aus Liebe zum Sport oder aus Beruf die gefährliche Straße wandern wollte, tat gut daran, sich von seinen Lieben zu verabschieden. Denn hatte der Verwegene wirklich die Tür erreicht, so stand er vor neuen Schwierigkeiten, wenn er sich in den Kopf gesetzt hatte, nach der Glockenstube vorzudringen.

Er sah sich nämlich einer Treppe gegenüber, die an Gebrechlichkeit alles leistete, was man von einem Stück Holz, in dem seit zweihundert Jahren der Holzwurm seine Tunnels gräbt, nur verlangen kann. Da waren Fußbretter, die ganz da waren und solche, die ganz fehlten. Zwischen beiden Extremen lag eine unendliche Reihe von solchen, die man für ein Dritteil, Vierteil oder Fünfteil dessen was sie sein sollten, ansprechen konnte. Alle aber hatten das Gemeinsame, daß sie bezüglich ihrer Tragfähigkeit kaum mehr Vertrauen verdienten als einnächtiges Novembereis.

Derjenige, dem das Wagestück gelungen war, auf dieser Hühnerleiter seinen Körper bis zum Gebälk hinauf, zuschrauben, fand oben vor seinen Füßen dunkel gähnende Abgründe, in denen er die Rückreise, wenn er nur der Anziehungskraft der Erde keine Hindernisse entgegenstellte, in einem verschwindend kleinen Bruchteil der Zeit zurücklegen konnte, die er gebraucht hatte, um heraufzukommen. Längst nämlich war die Dielung unter dem Einfluß der Nässe vermodert und in die Tiefe gefallen und nur die schweren eichenen Balken, die man zum Abschluß der Stockwerke eingemauert hatte, waren übrig geblieben. Wer übrigens jetzt über diese noch glücklich wegzubalancieren verstand, der fand als Lohn seiner Arbeit in einer Ecke noch so viel Fußboden, als nötig war, um zwei bis drei Menschen das Stehen zu ermöglichen und über dieser Oase in der Wüste des Zerfalles baumelte dann auch, aufgefranst wie ein Pferdeschweif, das Glockenseil.

Wer von unsern geneigten Lesern über der Schilderung des alten Gemäuers nicht vor Grausen gestorben ist, der wird uns jetzt gerne den Gefallen tun und offen bekennen, daß er um keinen Preis der Welt unter so erschwerenden Umständen die Bürde eines Glöckners tragen möchte, selbst dann nicht, wenn ihm außer einem christlichen Begräbnis der Himmel und als Lohn in dieser Zeitlichkeit in jedem Jahr ein baumwollbiberner Anzug und ein Paar nagelneue Schuhe aus feinem Rindsleder versprochen wären.

Respekt also vor dem Opfermute des Michael Hely, der das Amt des Glöckners annahm. Den Wechsel fürs Jenseits wies er zurück, zumal dieser das Visum des lieben Herrgottes, auf das es doch wesentlich ankäme, nicht trug, und er begnügte sich mit der obengenannten erbärmlichen Entschädigung.

So tastete er sich denn an den kalten Wintermorgen lange vor Tag an den Steinen in die Höhe, über den Hühnersteig hinweg und über die gähnenden Abgründe zu seinem Seile hin und schwang die Glocke, daß ihr feierlicher Ruf weit durchs Tal hallte und melodisch in die Ohren der Erwachenden drang, während der Glöckner selbst über seinem Haupte nur das ängstliche Stöhnen und Seufzen des Glockenstuhls hörte, der unter dem Gewichte des schwingenden Erzes in all seinen Lagern und Fugen bedenklich krachte.

Zuweilen löste sich ein Balken los und stürzte donnernd in die Tiefe, so daß die Schläfer in der Nachbarschaft des Turmes den Kopf über das Kissen erhoben und sich fragten, ob der Dorfteufel von den Gelegenheiten, die sich ihm boten, der Armenpflege zu entrinnen und in das Himmelreich zu gelangen endlich eine ergriffen haben könnte oder nicht.

War es die Sorglosigkeit der Jugend, war es bereits eine frühreife Verachtung des Lebens, die den Jüngling furchtlos all diesen Gefahren trotzen ließ, so gab es doch auch einen materiellen Grund für ihn, den Turm zu lieben. Was er nämlich an Brot und Käse von seiner Freundin, der Ihleins Lisbeth, bekam und was er selber von dem Erntesegen der Bauern an Obst und Nüssen für sich erbeutet hatte, das rettete er auf die luftige Höhe des Bollwerks und sicherte es so vor dem gefährlichen Kommunismus der Nachkommen seines Lehrherrn.

Diese ehrenwerten Leute bestritten bei ihrem reichen Kindersegen eigentlich nur die Herstellungskosten, während sie den Nießnutzen an denselben mit der Sorge für deren Fortkommen großartig ihrem Lehrling überließen. Er war es, der die Milch aus dem Euter der Ziegen holte, die Kartoffeln vom Felde, das Brot aus dem Ofen. Bei der ungeheuren Vielseitigkeit dessen, was man von ihm verlangte, war es nicht zu verwundern, daß seine Lehrzeit ihn in seiner beruflichen Ausbildung nur wenig förderte. So kam es, daß er nach drei Jahren gerade so weit in der Benutzung des Werkzeuges fortgeschritten war, daß er seiner Meisterin das Brennholz sägen konnte.

 


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