Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Elftes Kapitel

Von dem Moment ab, wo sie die Straße betreten hatten, mußten diese Leute mit der Zeit rechnen, weil sie von der Bergstraße ab die Eisenbahn benützen wollten. So war es der exakte Betrieb dieser Verkehrsinstitution, der seinen Zwang, mit der Minute zu rechnen, bis in die entlegensten Täler des Odenwaldes vorschob und diese Naturkinder, von denen kaum eines imstande war, das Zifferblatt der Uhr zu lesen, in die Notwendigkeit versetzte, sich in irgendeiner Weise Kenntnis zu verschaffen, in welcher Stunde sie lebten.

Soeben gingen sie am Gemeindebrunnen vorbei. Hier hielt der Peter-Anton, ein Postknecht, und tränkte seine Pferde, die bereits aufgeschirrt waren. Jetzt wußte man, daß es halb fünf sei und daß man sich nicht zu beeilen brauche. Man unterhielt sich im Weitergehen über die Eisenbahn und der Alters Lorenz, der so etwas noch nicht gesehen hatte, fragte, ob die Wagen so eingerichtet wären wie die Heuwagen, daß man sich auf die Leiterbäume setzen könne, oder ob Sitzbretter quer gelegt wären wie damals, als der Singverein einen Ausflug machte. Auch war er begierig zu wissen, ob man auf der Langwiede Platz nehmen und so recht bequem die Beine in der Luft baumeln lassen könne. Als die Ihleins Lisbeth ihm erklärte, daß die Wagen das ungefähre Aussehen von Zigeunerwagen hätten, so wollte er wissen, ob auch Betten darin ständen und Blumenstöcke vor den Fenstern und anderes mehr.

Als man am Pfarrhaus vorüberging, warf der Michael Hely einen scheuen Blick nach den Fenstern und musterte die Vorhänge, ob nicht in irgendeiner Ecke der Kopf des Pfarrherrn zu sehen sei. Das Kind hatte das beklemmende Gefühl, daß sich ein Fenster öffnen und ein geistliches Machtwort seiner Reise ein unerwünschtes Ziel setzen könne.

Endlich hatte man das Dorf hinter sich und steil ansteigend kam man auf die Wasserscheide zwischen der Weschnitz und dem Olfenbach. Eben küßte der junge Tag die lichten Höhen, während in den Tälern sich die Nebel langsam hoben und schwerfällig wieder zur Erde niedersanken. Aus dem grauen Einerlei unter sich hörte man zuweilen das Bellen eines Hundes, während man über sich im blauen Äther die Lerchen schweben sah und ihr frohlockendes Morgenlied vernahm.

– Die qualmende Erde zu unseren Füßen, den weitgeöffneten Himmel über unserem Haupte, ach, wer vernichtet das Gesetz der Schwerkraft, den einzigen Faden, der uns an die träge Scholle bindet und uns hindert, dem Zuge des Herzens folgend, uns in die Unendlichkeit des Weltenraumes zu verlieren! –

Ein nie gekanntes Gefühl fesselloser Freiheit schnellte unsere Reisenden gleichsam von der Erde los, so daß der Lorenz Luftsprünge machte wie ein junges Stierkalb, und der Michael Hely folgte seinem Beispiel, und das Volk der Weiber freute sich und lachte wie Kinder vor dem Kasperltheater.

Selbst die Ihleins Lisbeth fühlte einen unwiderstehlichen Drang, etwas Außerordentliches zu tun und schlug deshalb vor, daß man ein Lied singen wolle. Die Köpfe mit den Grafenländerhäubchen nickten beifällig und allsogleich kramte jedes in den Winkeln seines Gedächtnisses und suchte nach einem passenden Texte, der allen bekannt auch der Situation gerecht werden möchte. Beiden Anforderungen zu genügen war nicht leicht; aber diesen Leuten, denen die Kirche alles vermittelte, Trost im Leiden, den Himmel nach dieser Welt, Gelegenheit ihren Putz zu zeigen an Sonn- und Festtagen, Befriedigung ihrer Wanderlust durch Wallfahrten zu den Gnadenbildern, hatte sie auch für ein Lied gesorgt. Zwar paßte es nicht durchaus, denn allzuweltlich war ihr Ziel, das die einen in die Hopfengärten von Schwetzingen führte, und den andern in die Riesenschlachthäuser der Metzgerstadt Buffalo. Aber es war doch ein Wanderlied und so sangen sie denn alsbald ohne Gewissensbisse in Baß und Tenor, in Diskant und Alt in Gottes Namen darauf los:

»Wir ziehen zur Mutter der Gnade
Zu ihrem hochheiligen Bild.
O lenke der Wanderer Pfade
Und segne Maria uns mild« etc.

Mit dem Vorrücken der Stunde belebte sich die Gegend mehr und mehr. Aus den Tälern erklang das Aveläuten der Glocken. Es kam ein Bauer und trieb ein Joch Ochsen auf das Feld. Man wollte kein Aufsehen erregen und beendete das Singen. Da aber der Mund nicht ganz unbeschäftigt bleiben konnte, so unterhielt man sich mit müßigen Fragen und nichtssagenden Antworten.

»Wie weit ist es noch von Mannheim nach Amerika?« fragte der Lorenz.

»Wohl an hundert Stunden und darüber,« war die Antwort der Ihleins Lisbeth, die für den unerfahrenen Bauernbuben in geographischen Fragen eine Autorität ersten Ranges war.

»So lange noch zu laufen?« fragte der Lorenz und schüttelte, erschreckt über eine derartige Weitläufigkeit der Erde, den Kopf. »Lieber kehre ich wieder um.«

»Zu laufen gerade nicht. Du kannst ein gutes Stück fahren, zu Schiff über das große Wasser.«

»Über das Wasser? Na, Durst braucht man dann wohl nicht zu leiden. Aber die Kost soll drüben in Amerika schlecht sein.«

»Die Kost schlecht?« sagte die Lisbeth. »Wievielmal habt ihr in der Woche auf dem Hofe Kraut mit Speck gegessen?«

»In der Regel zweimal, wenn wir aber den Schulmeister im Futter hatten, dann viermal.«

»Nun gut, drüben hast Du alle Tage Kraut mit Speck und abends Dickmilch und Kartoffeln und zum Nachtisch noch Limburger Käse.«

Die Aussicht auf ein solches Schlemmerleben schien den Lorenz um den Verstand gebracht zu haben, denn er warf sich auf die Erde nieder und wälzte sich wie ein mutwilliges Pferd, alle viere gegen Himmel streckend, auf dem blumigen Wiesenteppich.

Man hatte die Paßhöhe der Straße überschritten und trabte in einem freundlichen Wiesentale bergab. Jetzt kam ein Landbriefträger, die Hosen in den Stiefelschäften und das Kalbfell des Ranzens auf dem Rücken. Man stellte ihn und suchte zu erfragen, wann der Zwölfuhrzug gehe. Er wußte es nicht genau, meinte aber soviel als gewiß behaupten zu können, daß dies zwischen elf und ein Uhr der Fall sein werde. Mit dieser Erklärung waren die Reisenden zufrieden.

Die Sonne stand bereits hoch. Sie hatte die Feuchtigkeit von Gras und Blättern geküßt und brannte zuweilen recht unbarmherzig auf unsere kleine Reisegesellschaft. Die Spannkraft der Morgenfrühe war bereits verraucht, die Schwere des Bündels machte sich bemerkbar, und man schleifte die Füße mehr hinter sich nach als man sie vom Boden abschnellte, man fragte bereits, wie weit der Weg noch sei. Ermüdet setzte man sich in den Schatten der Nußbäume und ruhte sich aus.

Jetzt kamen die Reisenden nach Birkenau und hatten ein Interesse zu erfahren, wie viel Uhr es sei. Aus der geöffneten Schultür stürzte ein Rudel Kinder. Sobald man wußte, ob diese katholisch seien oder protestantisch, wußte man auch die Zeit. Bei ersteren fing der Frühmesse halber die Schule später an und wurde Punkt elf Uhr geschlossen.

Statt die Tageszeit zu bieten, grüßten unsere Freunde mit dem Gruß: »Gelobt sei Jesus Christus,« und als die Kinder nicht antworteten: »In Ewigkeit,« sondern scheu und verdutzt dastanden, da wußte man, daß man Protestanten vor sich hatte, und man schloß, daß es zehn Uhr sei.

Von hier nach dem Bahnhof Weinheim hatte man noch eine gute Wegstunde zurückzulegen und beschleunigte jetzt vom Eisenbahnfieber gepackt das Marschtempo. Als man den sprudelnden Wasserfällen des Weschnitztales nachgehend zur alten Holzbrücke kam, die ihre morschen Joche von einem Ufer des Baches zum andern spannte, stand ein in der Gegend wohlbekannter Kaufmann unter seiner Ladentür. Sein Rock leuchtete, – abgesehen von einigen Vitriolflecken, – von Steinölglanz und Wagenschmiere, sein Gesicht aber von Schalkheit und Wohlbehagen. Er war bekannt im halben Odenwald und jedermann wußte, daß er freundlich und gefällig war. Im Vorbeigehen riefen die Wanderer, ohne sich einen Augenblick Rast zu gönnen, den Geschäftsmann an und fragten, ob sie noch recht kämen zum Zug. Er lüpfte ein wenig das seidene Stulpkäppchen und da sie, noch ehe er eine Antwort gefunden hatte, in Eilschritten an ihm vorbei waren, so rief er ihnen, ohne zu wissen, in welcher Richtung sie überhaupt fahren wollten, nach: »Ja, aber Sie müssen sich eilen.« Diese Worte entfachten eine wilde Jagd der Chaussee entlang im Schatten alter Kastanienbäume. Wer den Wanderern nachschaute, sah nichts als die bunten Kleiderbündel, die auf dem Rücken ihrer Träger wie besessen auf- und niederhüpften. Unter den Füßen der Laufenden wirbelte eine dicke Staubwolke auf. Ganze Gänseherden stoben in wilder Flucht auseinander und stürzten sich kopfüber in die Fluten der Weschnitz. Erwachsene blieben stehen und sahen dem seltsamen Aufzug mit freudigem Erstaunen nach. Schulkinder liefen mit und feuerten die Eilenden durch Zurufe zu größerer Geschwindigkeit an. So erreichten die Übereifrigen atemlos und triefend von Schweiß den Bahnhof und erfuhren hier, daß sie noch eine Stunde Zeit hätten.

Der Kaufmann war von seiner Ladentür hinweg mitten in die Straße getreten, um das ergötzliche Schauspiel, dessen Regisseur er war, so lange wie möglich genießen zu können. Bald sank er in die Kniee, als ob er sich setzen wolle, bald streckte er sich und schien übermenschliche Verhältnisse anzunehmen. Als er endlich den Trupp aus den Augen verloren hatte, konnte er sich vor Lachen fast nicht mehr aufrecht halten. Er wälzte seinen vor innerem Behagen bebenden Körper auf sein Kontor und ließ sich auf das Ledersofa niederplumpsen, daß die Sprungfedern krachten. Hahaha – hahaha! scholl es durch das ganze Haus bis zum Speicher hinauf. Erschrocken kam seine Frau herbeigestürzt und goß ihm Pain-expeller ins Genick, weil er bereits im Gesicht ganz blau geworden war und weil sie fürchtete, daß ihn der Schlag rühren könne. Zwar ließ unter dem beruhigenden Einfluß des verdunstenden Äthers der Lachkrampf allmählich nach, allein zum ruhigen Sitzen oder zum Schreiben kam der Kaufherr an diesem Tage nicht mehr.

 


 << zurück weiter >>