Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Dritter Teil

Erstes Kapitel

Man kann nicht verlangen, daß ein Schriftsteller alles weiß; man kann nicht verlangen, daß er alles sagt, was er weiß; und man kann noch weniger verlangen, daß er etwas sagt, was er nicht weiß. In dem letztern Falle befinden wir uns zur Stunde. Wir sind nämlich außerstande, den Jahrgang zu nennen, mit dem unsere Geschichte ihren Fortgang nimmt. Wir wissen nicht, ob es ein guter war oder schlechter, ein nasser oder trockener, ob die Kartoffeln mißraten waren oder das Korn. Das einzige, was wir von Zeitbestimmung geben können, ist: daß es in dem Moment, wo wir unsere Erzählung ihre Fortsetzung nehmen lassen, ein abscheulicher Winterabend war, und daß der schwarz und gelb gestrichene Postwagen von Thurn und Taxis noch den Verkehr vermittelte zwischen der Bahnstation Weinheim und den fernen Odenwalddörfern.

Vor dem altmodischen Chaisenmodell mit seinem Höcker nach hinten und seinen Höckern nach oben, mit seinen von kleinen Eisblumen überkleideten Fensterscheiben und seinem Postillon in dem Mantel mit dem Kragen von Hundefell und dem Hut von Wachstuch, gingen mit demütigen Schritten zwei gequälte Postgäule. Wie alle ihre Kollegen im Dienste der Thurn- und Taxisschen Familie waren sie gebrechlich und so mager wie die Schullehrer, die von Liebesgaben lebten und unendlichem Sauerkraut, das sie am Wandertische fanden.

Wenn die Strahlen des in roter Glut sich verzehrenden Baumwolldochtes der Laterne neben dem Kutschersitz über den Rücken der Tiere hinglitten, sah man, daß die Ärmsten dampften und daß es ihnen warm war trotz der grimmigen Kälte, die den Kutscher veranlaßte, zuweilen ein Zähneklappern hören zu lassen, so klar und deutlich, als ob es von einem Totenschädel herrührte.

Der frierende Postknecht war übrigens in gewöhnlichen Zeitläuften bei weitem keine so umfangreiche Persönlichkeit, wie er heute erscheinen mochte. Der beißenden Kälte wegen hatte er nicht nur den ganzen eigenen Kleidervorrat auf sich gehängt, sondern er hatte auch, um dem heulenden Nordwind den Zutritt zu seiner Haut zu wehren, den Kleiderschrank seiner Großmutter geplündert.

Der festgefrorene Schnee auf der Straße trug das Gewicht eines solchen Fuhrmannes und seines Wagens ebensowenig mit Freuden, wie die Pferde es zogen, aber er war weniger geduldig als die Tiere. Er weinte und wimmerte in einem fort, so daß es die Schottersteine erbarmte, die er überdeckte. Mancher von ihnen gab nach und wurde zerdrückt, andere suchten dem kantigen Druck der Radreifen auszuweichen und sprangen auf die Seite. Nun fiel die ganze Last auf die Achsen, so daß auch diese unter Seufzen und Stöhnen Protest erhoben. So kam unter Weinen, Zähneklappern und mancherlei anderen Schmerzensäußerungen das Gefährt vor der Haltestelle zu Mörlenbach an.

Das verschneite Posthaus lag in Todesschweigen und Dunkel. Einzig aus den kleinen ausgesägten Herzen der geschlossenen Läden drang ein matter Lichtschimmer und warf einen langgezogenen hellen Kegel über die Straße hin, der das funkelnde Feuer von Millionen kleiner Schneesterne und Eiskristalle weckte.

»Oh, hüh!« rief der Postillon vom Bock, und die Pferde, die offenbar schon lange auf diesen Zauberlaut gewartet hatten, standen still und pflanzten die Beine in den Schnee, als ob sie die Absicht hätten, nie mehr im Leben einen Huf vor den andern zu setzen.

Auf dem Bocke knüpften unterdessen zehn steifgefrorene Finger das Spritzleder los, und bald darauf glitt an der Seitenwand des Wagens ein umfangreicher Klumpen nieder, steif und unbeweglich wie ein schweres Kollo, das an der Kette eines Kranen niedersteigt. Dieses unförmliche Bündel wälzte sich an die Tür des Wagens und öffnete die Kutsche. Aus deren Bauch fiel eine Gestalt, deren wir jetzt zum ersten Male ansichtig werden, die wir aber nicht kennen, weil sie in Mantel und Reiseteppich eingewickelt ist; auch dann erkennen wir sie noch nicht, als sie unter der offenen Haustür der Posthaltestelle an dem Posthalter vorübergeht, und das Licht von dessen Laterne auf sie fiel.

Hinter dem Fahrgast warf der Postillon den Kutschenschlag ins Schloß, woraus jedermann ersehen kann, daß der Mann, der eben ausgestiegen, sein einziger Passagier war.

Wer übrigens denkt, daß jetzt niemand mehr im Postwagen sein könne, täuscht sich gleichwohl. Nach kurzer Frist streckte nämlich einer seinen Kopf unter dem Spritzleder des Kutscherbockes heraus, gähnte ein paarmal in die kalte Winternacht hinein und sprang dann mit einem resoluten Satz herunter in den Schnee. Hier humpelte er der Haustür zu, auf drei Beinen, denn er hatte es sich zur Regel gemacht, in der Bilanz seiner Lebensführung das Haben immer etwas das Soll übersteigen zu lassen. Obwohl er vier leidlich gute Beine hatte, so pflegte er auf Eis oder Schnee, im Staub und Schmutz bald ein Vorder- bald ein Hinterbein zu heben, um es erst dann wieder zu benützen, wenn eines von denen, die eben gerade aktiv waren, aus irgendeinem Grunde marode wurde.

Der geneigte Leser wird es uns nicht übel nehmen, wenn wir diesem klugen Mitreisenden den Vortritt lassen und uns nach ihm in die Gaststube begeben, wo wir das Glück haben, seine nähere Bekanntschaft zu machen, oder auch eine frühere zu erneuern.

Sobald nun dieser seltsame Reisende, den wir nur mit Bedauern einen Hund nennen, die Schenke betreten hatte, sah er sich die Leute an, die an den Tischen saßen.

Da war ein Handwerksbursche, der vor seinem halbgeleerten Schnapsglase eingeschlafen war, oder so tat, als ob er es wäre, um ein unentgeltliches Nachtlager in einem geheizten Raume herauszuschinden.

Der Hund bemerkte ihn mit Mißbehagen, knurrte vor sich hin und scharrte mit den Hinterfüßen den Sand, womit die Stube bestreut war, auf die Beine des ihm unsympathischen Menschen, als ob er ihn am liebsten gleich ganz begraben hätte.

Nach beendeter Erdarbeit wandte er seine Aufmerksamkeit dem Fremden zu, der soeben mit der Post angekommen war und am Ofen saß, um sich zu wärmen. Er beschnupperte ihn von allen Seiten, zog die Nase hoch und legte das eine Ohr über das Auge, während das andere schnurstracks in die Luft hinausstand. In dieser Stellung pflegte er in der Rumpelkammer seines Gedächtnisses zu wühlen und die Sinneseindrücke der Gegenwart mit analogen zu vergleichen, die er vorher schon einmal in der Vergangenheit in sich aufgenommen hatte.

Es dauerte nicht lange und er war orientiert. Er beugte den Kopf, stellte die Rute kerzengerade in die Höhe, gestattete sich ausnahmsweise den Luxus, auf allen vieren wie besessen um den Stuhl zu rennen, auf dem der Gegenstand seiner Forschung saß und legte dann die Vorderpfoten mit samt der Schnauze zutraulich auf das Knie des Fremden. Als dieser nun sich herbeiließ, ihn mit den Fingern auf dem Kopfe zu kraulen, da heulte das Tier vor Freude laut auf.

Aus seinem Schlummer erweckt, hob der Handwerksbursche fluchend seinen Kopf von der Tischplatte, und des Hundes Herr, der Postkutscher Peteranton, der sich in dem Vogelkäfig, den man das Bureau nannte, mit den Gepäckstücken zu schaffen machte, wurde in ein tolles Erstaunen versetzt. Er kannte das Tier seit vielen Jahren als einen Charakterhund, der seine Zärtlichkeit nicht an den ersten besten verschwendete. In jungen Jahren ein guter Jagdhund, fing er seinem Herrn mehr Hasen, als dieser schoß. Zum Dank für seinen Übereifer wurde er fast zum Krüppel geschossen. Dann hatte ihn der Peteranton übernommen, damit er ihm in den Sommernächten auf seiner stillen Fahrt durch die Buchenwälder des Stallenkandels ein Wächter sei, und ihm im Winter einen Fußsack ersetze und die Zehen wärme. So hatte er nun schon unzählige Fahrten auf dem Kutscherbock mitgemacht und unzählige Reisende hatte er aus- und einsteigen und auf den Stationen warten sehen, aber gegen keinen hatte er sich je so hündisch wegwerfend benommen, wie gegen diesen Fremden. Das gab dem Peteranton zu denken.

Der Hund war kein Schmarotzer, er war in der Auswahl derer, zu denen er in freundschaftliche Beziehungen trat, wählerisch, prüfte deren Stammbaum und war gegebenen Falles von einer geradezu feudalen Exklusivität, wie der Gothaer Hofkalender. Das alles wußte der Peteranton und deshalb wußte er auch, daß hier ein Geheimnis verborgen lag, das zu ergründen er sich zunächst Zeit lassen wollte. »Das sind Familiensachen,« brummte er in seinen Bart, womit für ihn gesagt war, daß er warten könne, bis die Äpfel reif wären und daß er sich ohne zwingenden Grund in derlei Angelegenheiten nicht mischen werde.

Als die Briefsäcke abgezählt und von dem Posthalter aus dem Vogelkäfig in die Gaststube geworfen waren, hob sie der Postillon vom Boden auf und brachte sie in den Wagen. Dann holte er zwei frische Pferde aus dem Stall, spannte sie vor die Deichsel und erschien wieder auf der Türschwelle, um zum Aufbruch zu mahnen. Bald war alles in der gleichen Verfassung wie vor einer halben Stunde, der Fremde im ledergepolsterten Innern des Wagens, der Postillon auf dem Bock und der Hund zu den Füßen seines Herrn. Die Pferde zogen an und eine Zeitlang schien es, als ob die Fortbewegung des Fuhrwerks eine raschere sei, als sie vordem gewesen. Allein bald stieg die Straße. Der Schnee ballte sich in den Hufen zu Klumpen und zwang so die geplagten Tiere zu einer äußerst unregelmäßigen, ermüdenden Gangart. Auch hing er sich an die Radkränze und erschwerte die Umdrehungen um die Achse. So kam es, daß der Postillon öfters die Zügel anzog und den Pferden Zeit gönnte zum Verschnaufen. Es gab eine Einlage von kleinen Kunstpausen auf der einsamen Straße von wunderbarer Stille. Man hörte nichts als das gelegentliche Bellen eines Hundes in den Tälern rechts und links vom Wege, oder ein schweres Aufseufzen, das aus dem Innern des Wagens kam.

Derartige Kundgebungen eines schwer gepreßten Herzens rührten den Hund, so daß er bei den bangen Klagetönen – die wie Vorwürfe an das Schicksal klangen – leise zu wimmern begann. Dies hörte der alte Peteranton, und ihn quälte abermals der Gedanke, welche Beziehungen zwischen seinem Feldmann und dem Fahrgast bestehen möchten. Allein da er auf eine Lösung des Rätsels nicht rechnen konnte, so brummte er nach seiner Art vor sich hin: »Das sind Familienangelegenheiten, Familienangelegenheiten,« und redete mit einigen Peitschenhieben den Pferden freundlich zu, daß sie sich sputen möchten, auf die Höhe die Stallenkandels hinaufzukommen.

Droben lag die Straße mehr in der Horizontalen, und die guten Tiere machten mit Erfolg den Versuch, ihre Gangart zu einem kurzen Hundetrab zu verbessern. Darüber freuten sich alle Beteiligten; denn der eisige Nordwind verkündete mit schneidender Zunge hier oben eine Bergpredigt, vor deren Kraft dem wetterfesten Postknecht die Kniee schlotterten und dem Hund die Haare zu Berg standen, ebenso wie seinen Flöhen, die in dem eitlen Wahne lebten, daß sie im Hundepelz ein warmes Nest hätten. Alle waren herzlich froh, als sie das Fuchsloch im Rücken hatten und dann von der Kreidacher Höhe niedersahen auf das verschneite Dorf im Olsental.

Da lag es, erstarrt im Eise, begraben im Schnee und keiner, der die fußtiefe, weiße Decke überschaute, die das Tal verflachte, die Dächer niederdrückte und den murmelnden Forellenbach begrub, ahnte, daß unter ihr an tausend Menschen atmeten. Das einzige Zeichen, das auf die Anwesenheit menschlicher Wesen überhaupt hinwies, war ein unsäglich matter Lichtschimmer, der sich am südlichen Ende des Dorfes durch die gefrorenen Fensterscheiben stahl. Diesem Stern in finstrer Nacht strebte nun die keuchende Kutsche zu auf der verschneiten Straße, die wie eine geschwungene Peitschenschnur in weitem Bogen das Dorf umringelt. Dabei versuchte der Postknecht auf seinem Horn zu blasen; aber die Töne schienen eingefroren und das wenige, was davon verlautbarte, war matt und nicht danach angetan, einen der Schläfer zu wecken, die wie Murmeltiere unterm Schnee vergraben von einem Tag in den anderen hinüberträumten.

Vor der Postagentur wiederholte sich nun genau derselbe Vorgang, den wir an der vorausgegangenen Station bereits kennen gelernt, mit dem einzigen unterscheidenden Merkmale, daß der diensttuende Beamte diesmal zur Abwechslung ein Femininum war.

Die Posthalterin war sozusagen eine Witwe, denn wenn ihr Mann vielleicht auch nicht tot war, so war er doch verschollen, und da auf der Post das Salische Gesetz nicht herrschte, so hatte sie nach seiner Flucht alle seine Würden und Titel geerbt und war als »die Frau Posthalter« angestellt worden. Die Gute, die nebenbei eine schwunghafte Gastwirtschaft betrieb, stand gähnend und mit dem Schlafe ringend vor ihrem Porzellanofen und wärmte von ihrem umfangreichen Körper jenen Teil, von dessen Vorhandensein sie sich zwar niemals durch den Augenschein überzeugt hatte, den sie aber mit gleicher Zärtlichkeit pflegte wie all die andern, die ihrem Gesichtssinne zugänglich waren. Da ging die Tür auf, und freudebellend sprang der Hund herein, hinter ihm drein der Fahrgast. Der Feldmann rannte zwischen Gast und Gastgeberin hin und her, als ob es seine Absicht sei, sie gegenseitig vorzustellen, bellte und blickte der Wirtin schelmisch in die Augen, als ob er sagen wolle: wie sie nur so dumm sein könne, etwas nicht zu erfassen, was er, der doch nur ein Vieh sei, sofort erkannt habe. Allein diese schien heute schwer von Begriff zu sein.

Der Hund stellte mißmutig seine Erklärungsversuche ein und begnügte sich damit, als Zeichen seiner unbegrenzten Verehrung sein Hinterteil an den Schienbeinen des Fremden zu reiben, der unterdessen auf einem Stuhle Platz genommen und seine Siebensachen auf dem Tische niedergelegt hatte. Als sich der Vierfüßler genügend gerieben, machte er eine kleine Schlittenfahrt durchs Zimmer, wobei ihm der glückliche Gedanke durch den Kopf schoß: »Versuchen wir es mit der Elektrizität.«

Gedacht, getan. Er hielt still, sah der Wirtin ins Gesicht und fing plötzlich zu telegraphieren an. Nach kurzer Zeit war der Kontakt hergestellt und die Angerufene kratzte sich, soweit sie dies tun konnte ohne sich und ihr Haus in den Augen des Fremden herabzusetzen. Mehr aber als diesen rein äußerlichen Erfolg vermochte der Hund nicht zu erzielen. Zu einer Verständigung kam es nicht. Der Gast verlangte nach einem Glase Wein. Die Wirtin benutzte klug die schickliche Veranlassung, das Zimmer zu verlassen, um draußen im Dunkeln ihren Gedanken nachzuhängen und der Beschäftigung, zu der sie die telegraphistische Tätigkeit des Hundes leider gezwungen hatte.

Als sie nach kurzer Zeit ins Zimmer zurückkehrte, schien es, als ob sie mit den äußern Feinden unter günstigen Bedingungen einen Waffenstillstand erreicht habe, denn augenblicklich kämpfte sie nur noch mit der Neugierde, zu erfahren, wer ihr Gast sei, woher er komme und was er hier in dem abgelegenen Dorfe bei solcher Jahreszeit suche. Sie stellte den Wein auf den Tisch mit dem Wunsche, daß er ihrem Gaste wohl bekommen möge. Dann zog sie ihr Messer aus der Tasche, rieb dessen Klinge an ihrer leinenen Schürze blank, holte das Brot aus dem Kasten und legte es – da sie ihren gebildeten Tag hatte – mit den einladenden Worten: »Wenn vielleicht dem Herrn ein Maul voll Brot gefällig ist,« vor den Fremden.

All diese Aufmerksamkeit löste dem Zugereisten nicht die Zunge, er aß und trank, aber er blieb stumm und parierte die weiteren Anzapfungen mit wenigen ausweichenden Worten. Dann verlangte er nach seinem Schlafzimmer gebracht zu werden, nahm die brennende Talgkerze, lehnte die Begleitung der Wirtin ab und ging wie einer, der im Hause wohl Bescheid weiß, nach dem zweiten Stockwerk.

Der Peteranton war mit seinen Pferden fertig geworden und ins Zimmer gekommen, um seinen warmen Schlummerpunsch zu holen. Er traf seine Herrin in jener prickelnden Erregung, in die das Grübeln über einem Geheimnis den Menschen versetzen kann. Sie empfand sein Erscheinen mit Genugtuung, weil sie von ihm Aufklärung erhoffte, oder wenn dies nicht der Fall sein sollte, einen, der sich mit ihr in die Last des Unerforschbaren teile.

»Was mag der Herr sein, der mit der Post gekommen ist, ein Reisender oder ein Advokat?« redete sie den Eintretenden an.

»Für einen Reisenden sieht er mir zu mürrisch aus und für einen Advokaten zu ehrlich; doch dies sind Familiensachen,« sagte der Peteranton und kraulte dem Hunde hinter den Ohren. Dann bemerkte er, nach einer kleinen Pause wieder das Wort nehmend: »Wenn der Feldmann die Hälfte Deines Wortschatzes hätte, brauchten wir uns beide den Kopf nicht zu zerbrechen. Übrigens sind dies Familiensachen.« Er hob das Glas und spülte den Schluß des Satzes, mit dem er jede seiner Reden, die kürzeren und die längeren, zu beenden pflegte, hinunter.

»Hat der Herr für morgen etwas bestellt?« fragte nach einigem Nachdenken die Wirtin. – »Ja, er will, daß ich ihm den Rasierer schicke.« – »Recht so,« sagte sie, »dann kannst Du ihm auch gleich den Hund zum Scheren geben. Das Wild, das der im Dickicht seines Pelzes hegt, geht durch die Lappen und frißt auf anderer Leute Wiesen!«

»Jedenfalls dann nur Butterblumen, denn auf so fettem Sumpfboden kommt nichts anderes fort,« sagte der Postknecht in gereiztem Tone.

Als der Hund merkte, daß man über ihn rede und nicht gerade Gutes, zog er sich zurück. Er ging in den Futtergang und suchte sich im Dunkeln zurecht nach der Bettstelle des Peteranton. Sobald er sie gefunden, kroch er unter die Zudecke, drehte sich bedachtsam eine Weile um sich selber und als er endlich nach langem Bemühen die Stelle gefunden hatte, auf der er gedachte, weich zu liegen und doch die Plattfüße seines Herrn wärmen zu können, duckte er sich nieder und schlief. Es währte nicht lange, so lag sein Herr bei ihm und freute sich über das südliche Klima, das hoch im Norden durch die Güte eines Hundes entstanden war.

Zeitig in der Frühe des folgenden Morgens war der Dorfbarbier – Nägele – im Haus und erfuhr in der Küche, daß man seiner bedürfe, um einen Fremden zu bedienen. Als er durch geschickte Nebenfragen erkundet hatte, daß der Fremde mit der Post gekommen sei und auf Zimmer Nr. 1 wohne, so freute er sich dieser Tatsachen und nahm sich vor, die Taxe für Rasieren sowohl wie für Haarschneiden um fünfzig Prozent zu erhöhen. Die gehobene Stimmung, in die er durch solcherlei Aussichten versetzt wurde, gab seinem ohnehin leichten und beweglichen Wesen noch mehr Schwung, und als er mit einem nach allen Seiten hin verteilten freundlichen Lächeln aus der Küche verschwand und die Treppe hinaufstieg, schien er mehr zu schweben als zu gehen.

Den Fremden traf er, vor dem Waschtische stehend, ganz in die Tätigkeit versunken, seine Fingernägel zu putzen.

Bei diesem Anblick bekam der Nägele von der sozialen Stellung seines Kunden eine hohe Meinung und überlegte bei sich, ob er ihn mit Durchlaucht oder Exzellenz anzureden habe. Doch der Fremde kam seiner Anrede mit der Frage zuvor: Ob er der Dorfbarbier sei und ob er der sei, den man den Jüngling von Nain nenne? Obwohl überrascht durch den zweiten Teil des Satzes, gab der Gefragte beides zu mit dem bescheidenen Anfügen, daß sein Name Nägele sei, daß aber das Übelwollen seiner Mitbürger ihm einen Spitznamen angehängt habe.

Damit waren der Worte genug gewechselt und der geschäftige Barbier ging zu Taten über. Zunächst entfernte er in kunstgerechter Weise und durchaus schmerzlos, wie er sich rühmte, das Kopfhaar und machte sich dann an die Abtragung des Vollbartes. Dabei erging es ihm wie einem Bildhauer. Je mehr er von dem Unwesentlichen und Überflüssigen entfernte, desto klarer und schärfer umschrieben kam ein menschliches Antlitz zum Vorschein, das in seinem Gehirn als Erinnerungsbild lebte, wenn er sich auch noch keine Rechenschaft geben konnte, von wo es stammte. Doch er arbeitete weiter, entfernte Haare und Seifenschaum und stellte sich dann, mit kritischem Auge prüfend, seinem Kunden gegenüber.

In dieser günstigen Stellung fiel es auf ihn nieder wie eine Erleuchtung von oben. Er ließ sich in die Kniee sinken, schnellte in der nächsten Minute in die Höhe, und indem er dies Manöver unzählige Male wiederholte, gebärdete er sich so, als ob er an einem Gummifaden von der Decke niederhänge. Dabei lachte er laut auf und schrie in einem fort: »Der Dorfteufel, der Dorfteufel.«

Als er sich einigermaßen ausgetobt hatte, packte er in Eile seine Siebensachen in die schmierige Ledertasche, warf diese mit Grazie in seine linke Achselhöhle und verschwand mit Windeseile im Dunkel des Hausganges. Im Vorbeigehen an der Küchentür warf er das Wort, das von jetzt ab auf Flügeln des Windes durch die Gegend eilen sollte: »Der Dorfteufel« unter die Mägde, die am Herd und Wasserstein beschäftigt waren.

Auf dem Flur des ersten Stockwerkes rannte er wider die dicke Madlene, faßte sie an den Schultern, wirbelte ein paarmal mit ihr herum und schrie ihr wie verrückt in die Ohren: »Der Dorfteufel, der Dorfteufel.« Als die Ärmste, ganz außer Atem, sich der Umarmung erwehrt hatte, griff sie nach ihrem Holzpantoffel, schleuderte diesen hinter dem Fliehenden her, und da sie im Augenblick keinen längeren Ausdruck fand, ihre zornige Erregung zu offenbaren, so begnügte sie sich damit, ihn einen »zaunrackerdürren Himmeldonnerwetter« zu heißen. Sie war wütend und wenn sie auch zu fromm war, um den Wunsch auszusprechen, der Teufel möge den Bartkratzer holen, so hätte sie doch in diesem Augenblick sicher nichts dagegen gehabt, wenn der liebe Gott ihn zu sich genommen hätte, bevor er sie so nichtswürdig behandelt hatte. Verärgert, schwerfällig wie eine Dampfwalze und pustend strebte nun die tief gekränkte Frau der Küche zu.

Bei ihrem Eintreten stolperte sie über den Holzteller, aus dem der Feldmann zu speisen pflegte, und die köstliche Milch floß in verschwenderischer Fülle nutzlos über die roten Sandsteinplatten, ein neuer Verdruß für die sparsame Hausfrau. Wo mochte das Vieh sich herumtreiben, daß es noch nicht Zeit gefunden hatte, sein Frühstück zu nehmen? Sie ging auf den Hausgang und lockte ihn, aber er kam nicht, und nur ein leises Winseln aus dem oberen Stockwerk antwortete ihrem Rufe.

Da er nicht zu ihr kam, entschloß sie sich, zu ihm zu gehen und stieg die Treppe hinauf. Oben fand sie ihn vor der Tür des Fremden, wie er dessen Schuhe spazieren trug, sie in die Höhe warf, mit den Zähnen wieder auffing und sonstigen Schabernack trieb. Daß der Hund aus Mutwillen oder gar Bosheit so etwas tun könne, war ganz ausgeschlossen. So blieb denn nur die Annahme übrig, daß der Feldmann und der Zugereiste alte Bekannte seien, eine Vermutung, die auch der Peteranton am Abend vorher ausgesprochen hatte. Jetzt erinnerte sich die dicke Denkerin, daß der Nägele vorher den Namen Dorfteufel gebraucht, und in ihrem Hirn dämmerte die Idee, daß sie gegenwärtig unter ihrem Dache die zwei beherberge, deren Streit vor Jahren einmal das Dorf erregt hatte.

Als der Hund aus ihrem Gesichte las, daß sie auf der richtigen Fährte sei, bellte er laut auf vor Freude.

Da öffnete sich die Tür, der Fremde trat heraus, und zwei alte Bekannte streckten sich nach vielen Jahren der Trennung die Hände entgegen.

Der Nägele aber dachte in diesem Augenblick trotz der Verwünschungen der Madlene keineswegs an ein Abscheiden von dieser Welt, die so, wie sie war, seinem Geschmack entsprach. Seine einzige Sorge war, der sensationellen Neuigkeit, in deren alleinigem Besitz er sich befand, eine möglichst weite Verbreitung zu sichern. Wo immer er in ein Haus trat, verkündete er das Ereignis der Wiederkehr des Michael Hely, bemerkte nebenbei, daß er ihn selber gehört, gesehen, ja gewissermaßen entdeckt habe, und schuf so für sich selber ein kleines Verdienst, wofür er glaubte, bei seinen Mitbürgern auf Dankbarkeit und gelegentliche Gegenleistung rechnen zu dürfen.

In dem entlegenen Dorfe war in der Tat ein jeder ein Wohltäter, der die Kunde von irgendeiner Begebenheit, ob wahr oder erdichtet war einerlei, zur Winterszeit in Umlauf setzte. Wenn der Schnee alle Straßen überschüttete und den Verkehr mit der Ferne abschnitt, entwickelten sich die Beziehungen von Haus zu Haus um so inniger. Jede Neuigkeit wurde gierig aufgenommen und verbreitete sich von Hütte zu Hütte, anregend und lebenspendend, wie das Wasser einer warmen Quelle unter der Eisdecke des Winters.

So verging keine Stunde, und bereits wußte man in jeder Werkstätte, daß der Dorfteufel wieder im Lande sei. Wer sich genügend Herr im Hause fühlte, verkündete in despotischem Ton seiner Ehehälfte, daß er heute abend ausgehen werde. Andere Meister, die durch die Mitregentschaft ihrer Frauen in der freien Verfügung über ihre Zeit und Mittel beschränkt waren, verlegten sich aufs Parlamentieren. Während nun der eine seiner Ehefrau klar zu machen versuchte, daß es im Interesse des Geschäftes liege, wenn er zuweilen ins Wirtshaus gehe, suchte der andere durch das Versprechen kleiner Gefälligkeiten, wie das Kleinmachen von Kaffeeholz und dergleichen, die Erlaubnis zum Ausgehen zu erschmeicheln.

Übrigens mußten viele ihren Zweck erreicht haben, denn die Stube der Posthalterei saß am Abend gedrängt voller Gäste. Wer irgend glaubte, aus früherer Zeit ein Anrecht zu haben, dem Neuangekommenen näher auf den Leib rücken zu dürfen, machte sich an den runden Tisch heran, stützte das Haupt auf die Ellbogen, blies aus der langen Pfeifenspitze ganze Gewitterwolken und belästigte den armen Dorfteufel mit den zudringlichsten Fragen nach diesem und jenem. Der eine wollte wissen, ob es weit sei von Algier nach Amerika, der andere, ob die Elefanten eingesetzte Zähne hätten und ein dritter, wie Lots Weib sich als Salzsäule ausnehme am Toten Meere. Von geographischen Kenntnissen nur wenig gedrückt, schrumpfte für sie die Welt außerhalb ihres Kirchspieles zu dem Begriffe »da drunten« zusammen, wohin sie die Heimat des Känguruhs und der kinderfressenden Wilden verlegten, ebenso wie die heiligen Orte, deren Namen ihnen von ihren Kindertagen her aus dem Unterricht in der biblischen Geschichte bekannt waren.

Als ihr vielgereister Landsmann ihnen auf all die kindischen Fragen nur ausweichende Antworten gab, kam er in den Geruch des Hochmuts und es gab an diesem Abend nur wenige, die von seinem Auftreten befriedigt das Wirtshaus verließen. Man war der Ansicht, daß der einst so lustige Junge abgebraucht und verlebt sei. Auch traute man ihm nicht zu, daß er von den Schätzen Indiens viel mitgebracht habe, und einige für das Gemeinwohl besorgte Männer weissagten mit kummervoller Miene, daß er über kurz oder lang der Armenpflege zur Last fallen würde.

 


 << zurück weiter >>