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Siebentes Kapitel

Auch der Gang der Jahreszeiten brachte einige Abwechslung in die Monotonie des Dorflebens. Wenn die Frühlingssonne die beschneite Erde küßte, so heiß und innig, daß es braune Flecken gab, und wenn das schüchterne Grün der Saatfelder zum Vorschein kam, oder auch wenn der Herbstwind grimmig durch die Zweige der Bäume fuhr und die Walnuß aus ihrer gebrochenen Hülle schüttelte, dann belebten sich die Straßen mit Zügen von wandernden Schafen. Schweigsam wiederkäuend, trotteten sie in einer kompakten Masse hinter dem Hirten her, der in dem grauen Mantel mit dem Katzenpelz am Kragen und dem breitkrempigen Hut auf dem Kopfe, ihrer aller Stolz und Hoffnung, für diese Wolleträger ein Stück der Vorsehung war, die ihnen am Abend einen warmen Stall besorgte und eine wohlbesetzte Salzlecke. So zogen sie hin, von dem Hirten mit Wohlwollen geleitet, von dem Hunde, der Legislative und Exekutive in seiner Person vereinigt, überwacht und gelegentlich auch bestraft, eine kleine wohlgeordnete Welt für sich, und hinterließen je nach dem Wetter bald in der leichten Staubschicht, bald im zähen Straßenkot ungezählte kleine, scharf umrandete Eindrücke ihrer vom vielen Wandern hartgetretenen Füße. Alle Welt sah sie, aber niemand wußte recht, woher sie kamen, wohin sie zogen. »Von der Winterweide nach der Sommerweide« oder umgekehrt, das war die ganze Auskunft, die irgendein Neugieriger aus dem wortkargen Schäfer hervorzulocken vermochte. Wie ein Schwarm Zugvögel durch die Lüfte zieht, einem nur ihnen bekannten Ziele zu, so zogen sie auf der Erde weiter, nur eben langsamer und bedächtiger nach einem Orte, wo ihnen der Tisch gedeckt war oder der Tod auf sie wartete.

Wenn der Michael Hely in der Schule saß und das Zungenschnalzen hörte, womit der vorüberziehende Schäfer seine stille Herde zu größerer Eile spornte, dann mochte der Pfarrer das himmlische Jerusalem in noch so glühend verlockenden Farben schildern, dann überkam den Knaben eine innere Unruhe, die ihm nicht mehr gestattete auf seinem Platze zu bleiben. Dann rutschte er unruhig hin und her, taub für jedes ermahnende Wort. Die höchstmögliche Spannung aller seiner Sinne war darauf gerichtet, ob nicht irgendein Laut, das Blöken eines Schafes, das gelegentliche Bellen des Hundes ihm die Richtung verraten möchte, in der die Herde weiterzog oder auch die Entfernung, in der sie sich bereits befand. War der Unterricht beendet, so stürzte er nach der Tür. Er hätte jeden überrannt und mit Füßen getreten, der ihm den Ausgang zu verlegen gesucht hätte. Im Freien angelangt, hingen seine Blicke am Boden, an jenen Eindrücken, die im Lehmboden standen wie das Siegel eines Fürsten im Wachs, die ihm so vertraut waren, wie die Handschrift eines Freundes, aus denen er lesen konnte, was er wissen mußte, das Woher und Wohin. In fieberhafter Eile suchte er nach Hause zu kommen, warf die Schiefertafel mit der biblischen Geschichte auf die Werkbank seines Vaters. Fand er etwas zu essen vor, so schlang er es, ohne zu kauen, hastig hinunter, fand er nichts, so ging er hungrig weiter.

Ohne geographische Kenntnisse verließ er sich einzig auf die Straßenmarkierungen, die von der Herde so durchaus leserlich eingeschrieben waren. »Errötend folgte er ihren Spuren« und wie war er beglückt, wenn er sie endlich eingeholt hatte. Dieser arme Junge, zurückgestoßen von aller Welt, hatte nur eine Liebe, die Schafe, nur ein Ideal für seine Zukunft, ein Schafhirt zu werden. So berauschte er sich förmlich an dem Anblick eines solchen Mannes. Wie majestätisch hing der Mantel über die breiten Schultern, wie ruhig und kraftvoll glänzte unter dem Muschelhut das wettergebräunte Gesicht, das von einem Vollbart umrahmt war. Wie wunderbar wirkte doch das Blau des Leinenkittels unter dem Mantel und wie breit flossen die mächtigen Schenkel in die gut unterhaltenen Wasserstiefel. Ja, und welche Umgangsformen, welch feiner Ton herrschte im Verkehr des Hirten mit den Schafen. Da fiel kein böses Wort, wenn ein leckeres Lämmlein neben dem Wege in den Krautfeldern ein wenig naschte. Wie nahm man Rücksicht auf jedes Mitglied der Herde, das schlecht zu Fuß war und der Truppe nur mühsam nachhinkte. Trug der gute Hirte nicht die Neugeborenen geduldig auf seinen Armen mit und zählte er nicht jeden Abend die ganze Schar ab, ob auch keines sich verlaufen hätte! Hier im Verkehr mit der Tierwelt fühlte der Arme, was er sonst nirgends fühlte, das Walten der Liebe, und trug seinerseits bei, was er konnte, das Glück und die Zufriedenheit zu mehren. Auf Stunden im Umkreis kannte er jeden Kleeacker, der im nächsten Jahre unter den Pflug kam. Hier machten sie eine kleine Rast und gönnten den Tieren die letzten saftigen Blätter, die von den alten Wurzeln noch getrieben worden waren. Die Besitzer solcher Äcker hatten nichts dagegen einzuwenden, wußten sie doch, daß die Herde fast mehr des Guten daließ, als sie mitnahm.

Wenn sie am Abend in eine Herberge kamen, dann streute der Knabe im Stall das Stroh zum bequemen Lager, trug Wasser zum Trinken herbei, half das Salz verteilen und sorgte, so kunstgerecht als es ihm möglich war, für die Kranken, wobei ihm das bei seinem Nachbar Nägele in der modernen Chirurgie Erlernte oft trefflich zu statten kam. War er damit fertig, dann ging er ins Gastzimmer, aß mit dem Schäfer die Brotsuppe aus der irdenen Schüssel, gab was sie übrig ließen dem Hund und kraulte ihm mit den Fingern, während er behaglich schlappte, den zottigen Rücken, wodurch er sich dessen Freundschaft sicherte und den Liebesdienst, daß er sich die Nacht neben ihn aus das Stroh legte und ihn wärmte.

Am nächsten Tage zogen sie weiter. Welch ein Glück in den Morgennebel hineinzusteuern, welche Überraschung, Berge zu sehen von Burgen bekrönt, Täler, in denen die Mühlen klapperten!

Doch das fremdartige Gepräge der Landschaft predigte, daß man weit von der Heimat weg war, und daß es Zeit zum Umkehren sei. Bevor der Knabe ging, hatte er an den Schäfer noch eine Frage zu richten, die ihm schwer das Herz bedrückte und die so gar nicht über seine Lippen wollte.

»Wohin kommen nun diese Schafe?«

»Sie sind fett,« sagte der Hirt, »und kommen nach Paris.«

Nach Paris, das war ein hartes Wort, das Todesurteil für all diese armen Schlucker. Denn der Junge wußte wohl, daß in dem nimmersatten Kollektivmagen dieser Riesenstadt ganze Hammelherden spurlos verschwanden, als ob man sie hinausgeschleudert hätte in die trostlose Einsamkeit des Weltenraumes, hinter der wir den Himmel suchen, oder hineingetrieben in die bodenlose Tiefe des unendlichen Ozeans. Die Tränen traten ihm in die Augen über dieses harte Geschick seiner Lieblinge, von denen er sich nun auf Nimmerwiedersehen trennen mußte. Wie gerne wäre er jedem einzelnen noch einmal mit der Hand über das weiße Vließ gefahren; doch das ging nicht, es waren ihrer zu viele. Deshalb drückte er sich durch zu dem alten Hammelbock, dem Stammvater der ganzen Herde, liebkoste sein energisches Gesicht, steckte ihm ein paar Brocken von seinem Frühstücksbrot zu, gab dann dem Schäfer, der sich an seiner Westentasche etwas zu schaffen machte, die Hand und ging von dannen.

Als er an die Stelle kam, wo die Straße über den Sattel eines Höhenzuges führte, sah er sich noch einmal um. Drunten im Tale zog die ahnungslose Herde langsam weiter und kam mit jedem Schritt um eine Spanne jenem unglückseligen Paris näher, das sie nicht mehr loslassen sollte. Das Kind war unendlich traurig. Aber leicht hingeweht, wie ein kalter Hauch auf der Fensterscheibe liegt die Trauer auf der Seele eines Kindes, nur ein wenig, ein klein wenig Wärme und das Glas ist wieder hell und das Herz ist wieder heiter.

Jetzt erinnerte sich der Dorfteufel, daß er beim Abschied die knochige Hand seines Gönners an seiner rechten Westentasche gefühlt hatte und er bog den Daumen und Zeigefinger, als ob er eine Prise Tabak nehmen wollte und fuhr in dieser Gegend an seinen Kleidern herum. Bald fühlte er etwas, das nichts anderes sein konnte, als ein kleines Geldstück; aber es war schwierig, zu demselben vorzudringen. Immer wieder legte sich das tausendfach zerrissene Futtertuch dazwischen und erschwerte ihm neidisch die Hebung seines Schatzes.

Da entschloß er sich rasch zu einem Verfahren, das zum Ziele führen mußte. Er zog seinen Rock aus, breitete ihn auf der Erde aus und schüttelte nun über diesem die Weste so lange, bis sie ihr Kleinod von sich gab.

Es war ein Sechskreuzerstück! Welch ein Reichtum! Dieses eine Stück ließ sich umwechseln in vierundzwanzig Heller, eine ganze Hand voll Geld. Für jeden Heller gab der Krämer eine ganze Tasse voll Heringsbrühe mit fingerdicken Zwiebelscheiben und wohlriechenden Lorbeerblättern darinnen!

Schon sah der Knabe die Abendschüssel mit Kartoffeln auf der Werkbank dampfen; heute Salzkartoffeln, morgen geringelte, übermorgen, soweit sie nicht aufgesprungen waren, Kartoffeln in der Schale, und wie mußten die schmecken in der frischen Heringstunke! Welch eine glänzende Perspektive auf ein ununterbrochenes Wohlleben während der Dauer eines ganzen Monats eröffnete sich da vor dem freudetrunkenen Blicke des Knaben!

Aber eines war klar. Er mußte heimlich das Geld der Mutter zustecken hinter dem Rücken des Vaters, weil sonst die Gefahr nahe lag, daß es sich in der Schenke »Zum vergnügten Sägebock« gar leicht in Schnaps umwandeln und durch die Kehle des immer durstigen Haushaltungsvorstandes rinnen konnte. Doch das war leicht zu machen. Es mußte Abend werden bis er nach Hause kam. Ein Griff nach der Schürze der Mutter konnte nicht auffallen, und diese wußte, was dies zu bedeuten hatte, und eine halbe Stunde später begann dann das Schwelgen im Genusse der Heringsbrühe.

Ja, und wenn sie dann so recht satt gegessen sind, dann entwickelt sich bei ihnen so gut wie bei anderen Leuten ein Stück Gemütsleben. Dann will er noch ein wenig warten, bis der Alte mit den vom Alkohol zitternden Händen sich eine glühende Kohle auf die Pfeife gescharrt hat und auf seinem Weg zum Wirtshaus hinter der Tür verschwunden ist. Dann will er etwas näher an die Mutter heranrücken und ihr erzählen von der Harmonie und dem friedlichen Leben bei den Schafen. Dann wird er ihr bekennen, wie er sich seine Zukunft denkt. Er wird ihr sagen, daß sie noch Freude an ihm erleben, daß sie mit Stolz auf ihn blicken soll, wenn er einst, ein Hirte, eskortiert wie ein Bischof durchs Dorf zieht. Ha, wie die Leute die Fenster aufreißen und ihn anstarren! Wer hätte das gedacht! Seht wie gut er aussieht in dem grauen Mantel mit dem Kragen von Katzenpelz, mit dem breitkrempigen Hut und den hohen Wasserstiefeln!

Ach, was wird die Mutter zu seinen Bekenntnissen sagen? Wird sie ihn auslachen, ihn Schwärmer schelten? Wird sie sein Vorhaben billigen? Wird sie ihn, ach, wenn das möglich wäre, ein wenig an sich heranziehen und ihm die Wangen streicheln? Wird sie ihn gar küssen?

Ja, dies Kind, von allen mißachtet, erbittert gegen alle, geizte doch mit allen Kräften seiner Seele nach ein wenig Liebe, nach dem Ausdruck irgendeiner Wertschätzung seiner Person und seines Handelns. Noch war er weich wie Wachs und je nachdem er einen fand, der ihn bearbeiten wollte, konnte aus ihm ein Heiliger oder Satyr werden.

Und so spann sein Hirn den Gedanken chronologisch weiter. Was wird auf den glücklichen Abend folgen? Ist nicht morgen Donnerstag? Die Pferdeseuche über denjenigen, der den Kalender so unglücklich eingerichtet hat! Morgen kommt der Pfarrer in die Schule, um den Katechismus abzuhören, und da wird er wissen wollen, warum der Taugenichts geschwänzt hat. Was wird er zu seiner Entschuldigung vorbringen können? Nichts, was den Pfarrer befriedigen und ihm mildernde Umstände verschaffen könnte, und daraus ergibt sich dann das Folgende ganz von selbst. Man stellt einen Stuhl in den Gang zwischen den Bänken, und er legt sich darauf mit der Kehrseite nach oben. So steht nun alles dem gestrengen Richter gut zur Hand und er kann nach seiner Bequemlichkeit zuschlagen, seine Waden setzte er vorsichtigerweise keiner Gefahr mehr aus.

Mag er tun, was er will. Der Knabe wird der Wut des Mannes standhalten und keinen Laut des Schmerzes von sich geben, das weiß er jetzt schon einundzwanzig Stunden vor der Exekution.

Konnte er einen freundlichen Empfang erwarten in dem Augenblick, wo er von dem Herzen der Natur zurückkehrte in die Gesellschaft der Menschen? Dieses Kind in seiner ihm aufgedrungenen Frühreife wußte, daß der Mensch zum Leiden geboren ward und fügte sich ohne Murren der Notwendigkeit.

Übrigens wollte er sich durch die traurigen Aussichten auf den morgigen Tag das Heute nicht verderben lassen. Er griff nach der Minute und genoß, was sie ihm gab. Er freute sich an dem Trillern der Lerche in der Luft, lauschte dem Klopfen des Spechtes an den Bäumen, verfolgte den gaukelnden Flug der Schmetterlinge von Blume zu Blume und lief doch wacker der Heimat zu.

Der Leser wird nicht allzusehr erstaunt sein und starr stehen vor der Gabe des Hellsehens, die dem kleinen Hely innewohnte, wenn er durch den Erzähler erfährt, daß die nächsten einundzwanzig Stunden die Erfüllung alles dessen brachten, was der Knabe geahnt und gefürchtet, aber keineswegs dessen, was er gehofft hatte. Das einzige was nicht kam, war der Kuß der Mutter. Doch es ging auch so, wenn es auch wahr bleibt, daß das arme Herz bei dem Ausbleiben des Liebestaues immer mehr vertrocknete.

 


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