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Achtes Kapitel

Diese traurige Neuigkeit, die das Bärenweible dem Kranken seither, um ihn zu schonen, vorenthalten, stachelte, statt ihn niederzuschmettern, in dem Genesenden alle Lebensgeister zu doppelter Energie. Er erhob sich von seiner Bank, zwang die Füße zu sichern Schritten, reckte die Arme, um die Spannkraft seiner Muskeln zu prüfen, und aus seinen Augen glänzte unheimlich eine todbringende Entschlossenheit, die den Hausierer ängstigte und ihn bereuen ließ, der geschwätzige Bote so folgenschwerer Nachricht gewesen zu sein. Er entfernte sich scheu und ließ den Unglücklichen allein mit den entsetzlichen Gedanken, die sein unheilbar verletztes Rechtsgefühl in ihm geboren.

Wo war der Gott, der sich seiner Sache annahm? Zu was eine Vorsehung, wenn auf der Welt alles drunter und drüber ging? Ha, über den blöden Glauben an das Walten eines höheren Willens! Wohin er sah, merkte er nur die Kraft des Bösen, den Sieg der rücksichtslosen Stärke und das Walten des Zufalls. So und besser noch konnte auch er die Welt regieren; dazu bedurfte es nicht der Weisheit eines Gottes. Und diesmal wollte er mit eingreifen, und sein Geschick sollte nicht entschieden werden, ohne daß er wenigstens ein ernstes Wort mitgesprochen hätte.

Hatte er seither sein Unglück und körperliches Leiden mit Ruhe ertragen, so fühlte er jetzt den brennenden Schmerz der erlittenen Schmach tief in der Seele, und die kaum vernarbte Wunde lag wie ein glühendes Eisen über seinem Schädel. Er war in sein Zimmer geeilt, schloß die Läden seiner Fenster und wühlte sich in die selbstgeschaffene Nacht, deren Dunkel einen Gedanken ausbrüten sollte, den er nie durch Worte und einmal nur durch die Tat offenbaren konnte. Es war eine unendlich schauervolle Nacht, in der er zum Entschlüsse kam, den breiten Weg, auf dem die selbstgerechte Menge wandelt, zu verlassen, sich außerhalb von Gesetz und Recht der Führung der Rachegedanken zu überlassen, die Menschheit zu fliehen, oder sie mit der Waffe in der Hand zu bekämpfen. Aber er kam mit sich selbst ins klare, er war ruhig, und als der Tag graute, begann er bereits, die Tat vorzubereiten.

Zunächst verkaufte er sein Häuschen und all den kleinen Zierat, den er darin aufgespeichert hatte. Was sollte ihm, hinausgestoßen auf die Landstraße, Stuhl und Bett, was Säcke und Faß? Sein Ruheplatz war künftighin der Stein am Wege, und sein karges Mahl kochte auf dem Herde fremder Menschen. Das Los der Mutter, solange er lebte, das Los des Vaters, wenn es ans Sterben ging, war sein Teil. Er hatte es auch einmal so gut haben wollen wie andere Menschen, es war ihm schlecht bekommen. Er hatte versucht, auf der sozialen Leiter des Lebens eine einzige Sprosse höher zu steigen, die Mißgunst des Geschickes, Roheit und Vorurteil hatten ihn zurückgeschleudert. Mit seinem Eintritt in die Welt schien jeder Schritt seiner Laufbahn in das holperige Geleise des Elendes festgeklemmt. Wie für die Räder eines Eisenbahnzuges gab es kein Ausweichen und nur Fortbewegung nach einer Richtung, dem Abgrund entgegen.

Es dauerte kaum eine Woche und seine wirtschaftlichen Angelegenheiten waren abgewickelt. Für ihn erübrigte jetzt nur noch die Abrechnung mit dem Batzefriedle. Eifrig hatte er die Gelegenheit gesucht, mit ihm zusammenzutreffen. Es war ihm nicht gelungen. Absichtlich oder instinktiv war ihm der Bauer aus dem Wege gegangen. Mußte er wegen der Vorbereitung zur Hochzeit ins Dorf, so richtete er es so ein, daß er bei guter Zeit kam und wieder ging. Er vermied, was sonst seine Gewohnheit war, das Zechen beim Bärenweible und die nächtliche Heimkehr.

So war der Tag der Trauung gekommen, und ganz Rickenbach war auf den Beinen. Die einen hofften auf eine fette Weide für ihre Schaulust, die andern hetzte eine mit Neugier gemischte Schadenfreude, zu beobachten, ob die Braut es wagen würde, mit dem Myrtenkranz geschmückt über die Kirchenschwelle zu treten. So trieb sich denn viel müßiges Volk auf der Straße herum. Frauen mit Kindern auf den Armen und an den Schürzenzipfeln standen in Gruppen an den Hausecken, hielten andere auf, die mit eiligen Schritten ihrer Arbeit nachgehen wollten, oder wenigstens so taten, als ob sie vorhätten, fleißig zu sein. Junge Mädchen mit rosigen Speckarmen lagen breit unter den Fenstern und schäkerten mit den Burschen, die sich in die Hausflure und die Scheunen drückten, um die Pistolen zu laden. Derweilen kochte auf dem Herde die Milch über, und in den Ställen brüllte das vernachlässigte Vieh, das nun einmal nicht einsehen wollte, warum es einer lumpigen Hochzeit wegen heute auf sein Frühstück verzichten solle.

Da kamen atemlos einige Jungen gelaufen, die vor dem Orte auf der Lauer gelegen hatten und schrieen aus voller Kehle: »Sie kommen, sie kommen!«

»Sie kommen, sie kommen!« rollte es weiter durch die Haufen der müßigen Gaffer.

Jetzt rannte der Küster wie unsinnig den Hügel hinan, auf dessen Scheitel mit dem geschmückten Portal die Kirche stand und griff mit beiden Händen nach den Glockenseilen, und die Glocken wimmerten so etwas hinaus, was sich anhörte wie ein Gemisch von Festesjubel und Grabgeläute.

Die Schießer, in den Baumgärten hinter den Häusern zerstreut, sammelten sich zu einem kleinen Zuge und spannten die Hähne ihrer Schießwaffen, um ein Rottenfeuer loszulassen, sobald der Zug die ersten Häuser der Gasse erreicht haben würde.

So fehlte nichts an dem äußeren Glanze, der eine derartige Feier zu übergolden pflegt. Man kann mit Geld noch mehr verdecken als gebrochene Eide und die Liebessünde eines kleinen Mädchens.

Der Hochzeitszug war stattlich anzusehen. Die Männer setzten mit getragener Würde, wohl bewußt, bei wem sie heute zu Gaste wären, einen Fuß vor den andern, und die Frauen blähten sich in dem bunten Schmuck ihrer Halstücher und suchten den Neid ihrer Mitschwestern zu erregen, denen die schöne Gelegenheit, sich öffentlich zu zeigen, entging.

Barfüßige Knaben mit zerlumpten Hosen spannten Seile über den Weg und wehrten dem Hochzeitszug die Passage, bis der Bräutigam ganze Hände voll Kupfermünzen unter sie warf, um deren Besitz sie sich dann im Straßenstaube balgten. Hinter den Hochzeitsgästen kam die Blechmusik, und das Waldhorn schmetterte um die Wette mit der Posaune, während das Fagott trillerte, und die Oboes jubelnd in die Morgenluft hinausschrieen. Dazu klangen die Glocken, die Hunde heulten, und zwischen hinein knallten die Schüsse von dem Anger hinter den Häusern.

Aber all der aufdringliche Jubel schien nur gemacht, um das Opfer zu verbergen, das zwei Menschenherzen zu bringen hatten.

Mit blassem Antlitz und wie eine Somnambüle schritt die willenlose Braut zwischen zweien ihrer Freundinnen, deren hochwallende Busen sich in ganze Gärten von künstlichen Blumen verwandelt hatten. Sie sah nichts, sie hörte nichts, sie fühlte nur das Klopfen ihres geängstigten Herzens. Ihre Lider waren festgeschlossen und die Tränen, die sie zwischen denselben zerdrückte, verfinsterten noch mehr ihren Weg. Aber so sehr sie sich mühte, keinen Blick vom Boden wegzulenken, vor ihrem Geiste stand doch scharf umrissen, plastisch, fast greifbar, das kleine Haus, an dem sie jetzt vorüber mußte, mit seinem weißen Kalkanstrich und den grünen Läden, das Zimmer mit der Hobelbank, die Wände mit Bohrern behangen und Sägen und Meißeln.

Aber die Räume waren leer. Wohin sie schaute, nirgends eine Spur von dem, der hier gewohnt, der hier glücklich zu werden hoffte, und den sie um seine Zukunft zu betrügen im Begriffe stand. Sie durchstöberte jeden Winkel des Hauses nach dem Ärmsten. Sie suchte ihn im Keller, in der Küche, droben im Halbdunkel des Speichers.

Ha, welch entsetzlicher Anblick! Da hing er von dem Dachsparren nieder, bleich und leblos. Ach! und sie war seine Mörderin. Warum duldete sie noch den Brautkranz auf ihrer Stirn? Warum schrie sie nicht ihren Schmerz hinaus in alle Winde? Wie war ihr die Brust zusammengeschnürt! Ach, wenn ihr doch das Herz den Gefallen erweisen möchte, in tausend Stücke zu zerbrechen. Welch eine Höllenqual, wie konnte sie da noch weiter leben!

Sie schauderte zusammen, stolperte an der Kirchenschwelle und sah hinein in das ihr zu Ehren geschmückte Gotteshaus.

Von ihr wich der böse Traum. Sie wurde sich bewußt, daß ihre Angst die gräßlichen Bilder zu grausig gemalt hatte; aber sie hätte doch in diesem Augenblick viel darum gegeben, zu wissen, wo der weilte, dem sie jetzt das herbste Leid zufügen mußte, das ein Mensch dem andern nur zufügen kann.

Jetzt wollte sie noch etwas Liebes für ihn tun und sie betete zu Gott um Kraft und Stärke für ihn und für sich, um ein frühes Ende, weil sie mit Zuversicht hoffte, in einer bessern Welt mit dem Erwählten ihres Herzens vereinigt zu werden.

Unterdessen hatte der Priester das Hochamt vollendet und sich, mit Chorhemd und Stola bekleidet, zwischen den Meßdienern an den Stufen des Altars aufgepflanzt. Er sah nicht aus, als ob er seines heiligen Amtes mit Freuden waltete, und als er die unglückliche Braut so mühsam und zögernd sich dem Betstuhl im Chore nahen sah, legte sich eine Wolke von Trauer über seine Stirne. Aber gewohnt die göttlichen Gnadenmittel handwerksmäßig wie das Bürgeralmosen zu verschenken an jeden, der danach verlangte, unbekümmert um die Folgen, legte er den Brautleuten die Hände ineinander und erflehte kraft seines Amtes den göttlichen Segen über sein Werk. Dann las er den Psalm: »Dein Weib soll sein wie ein fruchtbarer Weinstock vor Deinem Hause,« drehte sich um und, gefolgt von den Chorknaben, eilte er nach der Sakristei.

So war denn nun unter Beihilfe des Priesters der Bund fürs Leben besiegelt, einer von denen, die man anführen kann zum Beweise dafür, daß der fromme Spruch: »Die Ehen werden im Himmel geschlossen,« nicht immer unter allen Umständen seine Richtigkeit hat.

Die Kirchenstühle leerten sich und die Versammlung der Andächtigen und der Gaffer flutete der weit geöffneten Tür entgegen. In diesen schwatzenden und kichernden Menschenstrom ergoß sich ein anderer, der mit rücksichtslosem Stampfen die Treppe herunterpolterte, die nach der Emporbühne führte. Beide Strömungen stauten sich vor dem Weihwasserkessel. Männlein und Weiblein sahen sich freundlich an, nickten sich zu und aus jedem Gesicht leuchtete die verhaltene Begierde, sich auszusprechen über das Geschaute und die Beobachtungen des andern entgegenzunehmen. Die erste Gelegenheit hierzu bot sich am Fuße der Kirchentreppe, wo die Menge sich teilte und eine Gasse freiließ für den Hochzeitszug, der unterdessen unter dem Torgewölbe des Gotteshauses sich wieder ordnete.

Nach einigem Warten erblickte man den Brautvater mit seiner bessern Hälfte unter dem Portal. Das spalierbildende Volk reckte die Hälse, andere suchten, um das würdige Paar herumgaffend, mit ihren Augen die Braut zu erreichen, die noch immer der Gegenstand der allgemeinen Neugierde war. Als diese endlich die Treppe niederstieg und noch immer die Spuren großen Herzeleides im Gesichte trug, war sie einigen ein Gegenstand des Ärgernisses, weil sie sich eine Neuvermählte nicht anders als mit lächelndem Munde vorstellen konnten, andern ein Rätsel, denn trotzdem sie ihre Vergangenheit kannten, so vermochten sie sich gleichwohl keinen Grund zur Trauer zu denken. Die einen aber wie die andern trösteten sich mit dem Gedanken, daß der junge Ehemann schon Mittel und Wege finden werde, seine kleine Frau aufzuheitern und hofften nebenbei auf die erregende Wirkung des gezuckerten Weines, der in der Schenke zum Bären so reichlich präpariert war, daß aus Mangel an Getränken auf dieser Hochzeit das Wunder von Kana sich nicht zu wiederholen brauchte. Hinter dem Zuge schlug die Menge zusammen, folgte demselben aber noch bis vor das Wirtshaus, aus dessen geöffneten Fenstern der Duft des Schweinebratens gar einladend hervordrang.

Während die Trauungsfeierlichkeiten die Bewohner der umliegenden Höfe zu Dutzenden nach Rickenbach zogen, war einer da, den sie fortscheuchten, und das war der Michael Hely. Lange bevor noch der Tag graute, hatte er, ermüdet von den quälenden Gedanken, die eine schlaflose Nacht gebar, sein hartes Lager verlassen mit dem Vorsatz, nie mehr auf dieses, sein Folterbett, zurückzukehren. Er war entschlossen, heute unter allen Umständen die Gelegenheit einer endgültigen Abrechnung mit dem Vater seiner einstigen Geliebten selbst zu schaffen und dann – je nachdem – den Rest seines armseligen Lebens zwischen den Mauern eines Gefängnisses zu vertrauern, oder in der Fremde der ersten besten Fährlichkeit zu opfern, die sich ihm, seinen Wünschen willfährig, bieten würde.

Bevor er ging, zerstörte er die kleinen Andenken seiner Geliebten, die als Bilder von den Wänden, als weibliche Handarbeiten von den Möbeln herunter, seither so zärtlich zu seinem Herzen geredet hatten. Er wollte nicht, daß sein Nachfolger im Besitz durch irgendein Überbleibsel an das Unglück seines Vorgängers erinnert werde. Er wollte aus dem Gedächtnis der Menschen verschwinden und auf der Erde die Spur verwischen, die sein landflüchtiger Fuß gezeichnet hatte.

Als er über die Schwelle getreten war, schloß er die Tür ab und schob den Schlüssel durch ein kleines Loch, das der Katzenlauf hieß, in den Hausgang seines Nachbars und Rechtsnachfolgers. Dann holte er mit mächtigen Schritten aus, um das Dorf in seinen Rücken zu bringen, bevor der Morgenstern am Himmel erblaßte und der erste Sonnenstrahl das Leben weckte in Haus und Stall.

Wohin er eigentlich wollte, wußte er selbst nicht. Nur fort, nur fort! mahnte eine Stimme in seinem Innern, der er willenlos folgte, ohne des Wegs zu achten. So erreichte er die Bodenwellen, die mit langgezogenen Rücken wie riesige Eidechsen auf der Hochebene liegen, und sein Blick beherrschte jetzt das nebelgefüllte Rheintal und die gegenüberliegenden Berge der Schweiz, die ihre wildzerrissenen Formen mit weißem Silberglanz in den satten Purpur des Frührotes zeichneten. Auf dem azurnen Blau des Himmels schwammen mit golddurchleuchteten Rändern weiße Wolken wie Gondeln, in denen selige Geister sich wiegen.

Das Auge des Einsamen hatte kein Verständnis für diese Herrlichkeit.

Mit trillerndem Schlage schraubte sich die Lerche in den Äther hinein und weckte die verschlafenen Sänger im Dickicht der Zweige und all die kleinen Musikanten, die zwischen Halmen und Gräsern um Liebeslohn musizieren.

Der Michael Hely hörte sie nicht. Die Harfe seines Empfindungslebens war zerschlagen, und keine Saite mehr besaß Spannung genug, um mitzuklingen bei den Jubelakkorden der Natur. Nur der eine Gedanke der Rache beherrschte ihn noch und neben diesem allmächtigen Tyrannen seines Denkens lagerte, wie ein schmutziger Sumpf, der Stumpfsinn und ließ keinen opponierenden Gedanken mehr aufkommen.

Soeben traf mit zitternden Luftwellen der Klang der Kirchenglocke von Rickenbach sein Ohr. Er kannte ihre Sprache. Er wußte, daß sie jetzt das Ave Maria hinausrief in den Gottesfrieden des neuen Tages. Allein was sollte ihm die Hochgebenedeite? Hatte sie etwa sein heißes Flehen erhört und ihm beigestanden in seiner Not? Mögen jene sie preisen, die noch etwas von ihr zu hoffen haben. Um welches Erdengut hätte er noch zu ihren Füßen winseln sollen?

Wie schmerzten ihn die Schläge der Glocke und doch wußte er, daß sie im Laufe des Tages noch grausamere Dinge sagen werde, als die waren, die er jetzt von ihr hören mußte. Er wollte fliehen aus dem Schallbereich des metallenen Redners und beschleunigte seine Schritte; aber als er eine Zeitlang gelaufen war und von der Bergeshalde niedersah, überzeugte er sich, daß er wie ein am Göpelwerk dreschendes Pferd nur im Kreise lief, und daß im Zentrum dieses Kreises der Kirchturm von Rickenbach stand.

So wurde es neun Uhr, und die Glocke tönte nach langer Pause wieder. Der Michael Hely wußte, daß dies das erste Zeichen sei zum Beginn des Hochzeitsamtes. In den Häusern beginnen jetzt die Geladenen, sich mit ihren Feiertagskleidern zu schmücken. Voller Selbstgefälligkeit winden sich die Frauen vor dem Spiegel, um auch von ihrer Rückseite, nachdem sie sich an der Vorderseite satt gesehen, soviel wie möglich ihren bewundernden Augen zugänglich zu machen. Derweilen sitzen die Männer in den Sonntagshosen bei dem Kachelofen, eifrig beschäftigt, sich die nagelneuen Stiefel über die Füße zu ziehen. Dabei fluchen sie in der unchristlichsten Weise über den Schuster, während von der Stirne der Schweiß niederträufelt – ein warmer Regen – bei dem schweren Donnerwetter.

Das alles sah der Unstete sich leibhaftig vor seinen Augen abspielen, ohne sonderliche Erregung. Wenn er aber daran dachte, daß nun sein lieber Schatz in ihrer Kammer stehe und sich für einen anderen schmücke, daß sie in diesem Augenblick gerade das Mieder schloß, das am Abend ein anderer lösen sollte, da erfaßte ihn eine blinde Wut, und wie ein toller Hund das erste beste, was ihm in den Rachen läuft, mit den Zähnen packt, so grub er sein Gebiß in die moosige Rinde eines alten Eichenstammes, der gerade vor ihm stand und zwischen seinen Lippen hindurch drängte sich der Ausspruch des Schreinersepp: »Hunde sind besser als Weiber.«

Nach einer halben Stunde erklang vom Turme das zweite Zeichen. Der Michael Hely ärgerte sich über die dienstbeflissene Eilfertigkeit, mit welcher die Glocke sich der bösen Sache zur Verfügung stellte, und ihr Rufen schien ihm verhaßt, wie die Stimme einer nichtswürdigen Kupplerin, die es eilig hat, zwei Menschen zusammenzubringen, damit sie das Wort Liebe entweihen, indem sie der tierischen Gemeinheit ihren Tribut zollen.

Er wußte, daß man sich jetzt vom Hofe aus auf den Weg mache. Er sah die Teilnehmer des Festes unter losen Scherzen über den Hügel steigen und sah, wie sich der Zug, einer schwarzen Schlange gleich, auf dem Wiesenpfade durch das Tal bewegte. Dann hörte er Schüsse knallen, und, vertraut mit den Gepflogenheiten der Bevölkerung, wußte er, daß die Ankommenden vom Dorfe aus bemerkt worden waren.

Jetzt ertönte auch wieder die Glocke, aber diesmal war sie nicht allein; es schien, als ob sie ihre Jungen mitgebracht hätte, damit sie mitplapperten und sich lustig machten über den Armen, der jetzt um das Liebste betrogen wurde, was er sein Eigen nannte. Dann wurde es wieder still, ganz still auf der Höhe, die heute doppelt verlassen schien, weil jeder im Dorfe feierte und niemand ausgezogen war, das Feld zu bestellen.

Der Michael Hely setzte sich ins Moos, nahm die Uhr aus der Tasche und beobachtete den Lauf des Zeigers. In selbstquälerischer Absicht vergegenwärtigte er sich in jeder Sekunde, wie weit jetzt in der Kirche die Sache gediehen sein könne. Er folgte dem Priester am Altar vom Confiteorbis zum Ite, missa est. Dann sah er, wie der Meßner den Betstuhl für die Brautleute in die Mitte des Chores trug, wie der Pfarrer in der Sakristei verschwand und in einem andern Ornate wieder erscheinend, sich dem Paare näherte, das bereits von den Trauzeugen umgeben, auf dem Schemel kniete. Er hörte, wie er sie ermahnte, sich nicht zu trennen, bis der Tod sie scheide; sah, wie er ihre Hände zusammenfügte und den Vorderarm erhob, um den Bund im Namen Gottes zu weihen.

Wenn jetzt der Arm des Segnenden nicht abbricht und die Kirchendecke nicht einstürzt, dann wußte er, daß für ihn alles vorbei sein werde.

Daß keines von beiden geschehen war, darüber belehrten ihn bald darauf die Pistolenschüsse, die, wie er wußte, den Neuvermählten beim Verlassen des Gotteshauses entgegenhallten.

Nun steckte er die Uhr in die Tasche, deren Zifferblatt ihm nichts weiter mehr zu erzählen hatte, und erhob sich. Um ihn gähnte die Welt in entsetzlicher Leere. Er fühlte, daß er wieder so verlassen sei, wie an jenem Tage, da sie den Vater begraben hatten und die Mutter das Weite gesucht hatte. Wie unheimlich groß war ihm doch dazumal die sonst so kleine Stube erschienen, in der er mit ihnen gehaust hatte. So kahl und wüst erschien ihm jetzt der Boden, den er sein Vaterland nannte, obwohl er ihm eigentlich den Vater schuldig geblieben war und die Mutter und der ihm jetzt auch die Geliebte versagte.

Aber er stand einer vollendeten Tatsache gegenüber. Das Opfer war gebracht. Er hatte verzichten müssen, hatte es in diesem Momente bereits getan, und er war ruhiger als vor einer halben Stunde noch. War auch der liebste Teil seines Daseins von ihm geschnitten, so lag doch der Schrecken der Operation hinter ihm.

Den ganzen Nachmittag über streifte er ziellos in den Wäldern umher. Er empfand keinerlei Müdigkeit und als er gegen Abend in einer einsamen Schenke einkehrte, geschah es nur, weil er das Bedürfnis hatte, noch einmal vor Beginn der Nacht in ein freundlich wohlwollendes Menschenantlitz zu sehen.

Er kannte die Wirtin. Sie war eine gute Frau, und er wußte, daß sie seinen Seelenqualen Mitleid und Verständnis entgegenbringen werde. Als er ins Zimmer trat und die arbeitsame Frau, aufgeschreckt von dem Geräusch seiner Tritte, über ihren Strickstrumpf hinweg nach dem Gesichte ihres Gastes sah, fuhr sie bebend zusammen. Er ahnte, daß mit seinem Äußern eine Veränderung vorgegangen sein müsse, die sie erschreckte, aber er trug kein Verlangen, durch einen Blick in den Spiegel, der an der Wand hing, sich selber kennen zu lernen. Ihm war es einerlei, wie er aussah. Schwerfällig ließ er sich auf einen Stuhl niederfallen und lehnte den Kopf mit den wüsten Gedanken an die Wand.

Die Wirtin war näher gekommen und erkundigte sich, ob er sich nicht wohl fühle, ob sie irgend etwas Liebes für ihn tun könne. Er schüttelte traurig das Haupt und bat nur, daß sie ihm gestatten möge, hier sitzen zu dürfen, bis es Nacht wäre, dann wolle er gehen und ihr nie mehr im Leben lästig fallen.

»Nie mehr im Leben lästig fallen? Hast Du das je getan?«

Er schwieg. Sie redete weiter:

»Es gibt Dinge, die schwer zu ertragen sind, aber Gott hilft dem, der seine Bürde auf ihn wirft.«

Der Michael Hely saß da, als ob er kein Wort gehört hätte und es verstummte auch die Frau, aber von dem Gedanken ausgehend, daß der Satte friedfertiger sei als der Hungrige, holte sie Teller mit allerlei Speisen gefüllt herbei und schob sie vor ihren Gast. Dieser schien es nicht zu bemerken. So stand denn die Gute von ihrem Bemühen ab und ihre flüchtigen Finger begannen wieder das unterbrochene Spiel der Stricknadeln. Ihre Augen aber hefteten sich von Zeit zu Zeit ängstlich auf das bleiche, kummervolle Gesicht, als ob sie die Gedanken lesen wollte, die hinter den zusammengekniffenen Augenbrauen und den schweren Falten der Stirne sich tummelten. Sie ahnte nichts Gutes.

So verging im dumpfen Schweigen die Zeit, und bereits hob die Schwarzwälder Uhr in ihrem braunen Holzkasten aus und verkündete mit schnarrendem Geräusch die elfte Stunde. Jetzt stand der stumme Gast auf und sah durch die Scheiben des Fensters zum Nachthimmel hinauf. »Es ist Mondschein,« sagte er, »und das ist recht so. Nun gute Nacht.«

Die Wirtin erhob sich und folgte dem Gehenden in den Hausflur. Draußen ergriff sie ihn am Ärmel und bat ihn, das Haus nicht zu verlassen. »Bleibe bis die Sonne wieder da ist. Der Tag läßt alle Dinge freundlicher erscheinen, als die Nacht.« Doch er riß sich los und ging in das Toben des Windes hinaus, der die Fichten schüttelte, daß der aufgescheuchte Häher ängstlich schreiend von seinem Neste floh.

Bald bog er vom Wege ab und wandte sich dem Walde zu. Sein eigener Schatten, den das Mondlicht so scharf umrissen neben ihn zeichnete, der immer mit ihm gleichen Schritt hielt, genierte ihn. Er wollte allein sein.

Im Walde hinwieder erregte ihn das Rascheln des dürren Laubes unter seinen Fußtritten, aber etwas mußte er bei seinem nächtlichen Gange mit in den Kauf nehmen. So suchte er unter den schwarzen Scharten der Buchen seinen Pfad und kam an die Stelle, wo der Weg vom Dorfe Rickenbach nach dem Hofe des Batzefriedle den Wald durchschnitt.

Hier an dem breiten Stamme einer weitgeästeten Tanne, von deren Rinde das Mondlicht mit mattem Silberglanz niederrieselte, stellte er sich auf. Seine Rechte tastete nach einem Gegenstand, den er in der Tasche seines Wamses trug, während seine Augen nach jener fernen Stelle spähten, wo der weiße Streifen der Straße im Gebüsch sein Ende zu erreichen schien. Von dorther erwartete er den Mann, dessen brutale Rücksichtslosigkeit das Glück seines Lebens vernichtet hatte und er war gekommen, um heute definitiv in einem Kampf auf Leben und Tod mit ihm abzurechnen. Erhaben über die landläufigen Begriffe von Gut und Böse, Recht und Unrecht, betrachtete er sich als Exekutivorgan einer höheren Gerechtigkeit mit einem gewissen Respekt. Sein Vorhaben hatte in seinen Augen eine hohe sittliche Berechtigung, und wenn er daran dachte, daß es Mut erfordere, dann wuchs er vor sich selber ins Heroenhafte. So war er denn ganz ruhig und ging an die Ausführung seines Vorhabens kaum mit einer größeren Erregung heran, als der Scharfrichter, um seines Amtes zu walten, vor den Block tritt.

Er stand lange, und es war schon nach Mitternacht, als er auf dem weißen Streifen der Straße einen schwarzen Schatten bemerkte, der sich bewegte. Seine scharfen Augen erkannten nach kurzer Prüfung, daß der Mann, den er suchte, sich nähere. Aber er war allein, und dies enttäuschte den Lauernden, der bei seinem Rachewerk lieber den Widerstand einer halben Welt, als den eines einzelnen Mannes überwunden hätte.

Immer näher kam die Gestalt, und der Michael Hely preßte das Heft seines Messers, als ob er es zerdrücken wolle, krampfhaft in seiner Rechten. Ein Kieselstein kam ins Rollen. Der Bauer machte Halt, schien sich zu besinnen. Dann schritt er weiter. Jetzt war er ganz nahe, und der Lauernde trat hinter seinem Baume hervor, faßte mit der Linken nach der Kehle seines Feindes und holte mit der rechten Hand aus zu einem vernichtenden Schlage.

In diesem Augenblick fiel der Überfallene kraftlos in sich zusammen, und wie eine Kuhhaut lag der berauschte Trunkenbold, einige unverständliche Worte lallend, am Boden. Er war nicht imstande sich aufzurichten, um wieviel weniger einem kräftigen Angreifer Widerstand zu leisten. Ein Weib, ein Kind hätte ihn vernichten können.

Die jämmerliche Erbärmlichkeit der Situation ernüchterte den Michael Hely und die Rachetat, die vor wenigen Augenblicken noch in seinen Augen mit der Gloriole des Heldenhaften umkleidet war, erschien ihm unter diesen Umständen als ein Akt der Feigheit. Er steckte, voll physischen Ekels, sein Messer in die Tasche, gab dem besinnungslos Daliegenden einen Fußtritt und ging seines Weges.

Der Mond war untergegangen, und die Morgennebel erhoben sich aus dem Rheintale, als er an die steile Böschung kam, mit welcher der Schwarzwald in südlicher Richtung gegen den Strom zu abfällt. Er suchte seinen Weg auf den von Niederholz überschatteten Pfaden und kam aus der Waldregion in Wiesengelände. Da hörte er eilige Fußtritte in seinem Rücken und sah sich um. Zwei Männer kamen hinter ihm her, die ein dringendes Geschäft oder auch ein böses Gewissen zu treiben schien. Als sie ihn eingeholt hatten, mäßigten sie ihre Gangart und hielten mit dem Helden unserer Geschichte gleichen Schritt. Nach dem landesüblichen Gruße gab ein Wort das andere, und bald wußte der Michael Hely, daß seine Begleiter Werber waren, die in der Nacht auf dem Schwarzwald ihre Netze gestellt hatten und nun vor Tag noch über den Rhein setzen und schweizerisches Gebiet erreichen wollten. Heute hatten diese Menschenjäger Glück. Nach dem Treiben erlegten sie, – bereits auf dem Heimwege von der Jagd – ein Wild. Noch hatten die drei Wanderer die Mauern Säckingens nicht erreicht, so hatte der Michael Hely Handgeld genommen, und der Nachen, der im Erlengebüsch versteckt, am Ufer des Rheines lag, trug drei Männer über die grüne Flut in das Land, dessen eigene Söhne in allen europäischen Kriegen um Geldeslohn zu kämpfen pflegten. Am nächsten Tage schon ging es weiter, durch den Jura, dann die Rhone hinunter nach Marseille, wo sich im Völkergemisch der Hafenstadt der Pfad unseres Freundes zwischen den schwarzen Schiffsrumpfen auf der ölschimmernden Flut des Hafens verliert.

 


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