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Zweites Kapitel

Am nächsten Morgen gähnte in einem rußgeschwärzten Uhrkasten eine alte Schwarzwälderin zunächst ein klein wenig und schnarchte dann in einem heiseren Tone sieben schnarrende Schläge herunter. Sie machte es wie der Prediger in der Wüste, sie tat ihre Schuldigkeit, unbekümmert darum, ob man sie hören wollte oder nicht.

Heute hatte sie nicht vor tauben Ohren gepredigt, denn ihr Mahnruf, der flüchtigen Zeit zu gedenken, weckte den Michael Hely. Verwundert musterte er das Bett, in dem er lag. Es war von einer erstaunlichen Weitläufigkeit und mit Leichtigkeit hätte der Erzvater Noah mit all seinem Zubehör eine neue Sintflut darin überstehen können. Auch das Zimmer, in dem es stand, war sehr geräumig und schien für ganze Volksversammlungen zugeschnitten zu sein. An den Wänden hin liefen Holzbänke, und in einer Ecke stand ein einförmiger Stufenbau aus grünen Kacheln. In einer Nische des grünen Ungetüms stand ein Hafen, aus dem sich eine weiße Blase wölbte, die anzeigte, daß der pyramidale Bau ein Ofen und die Milch am Überkochen sei.

An der Außenwand des Gefäßes liefen einige Tropfen nieder und verzehrten sich auf der heißen Ofenplatte unter dem Absingen eines melancholischen Sterbeliedes.

Obwohl die Fenster mit den blinden Butzenscheiben fast bis zum Fußboden niederstiegen, so herrschte doch im Zimmer ein trüber Dämmerschein; denn ein weitausladendes Strohdach filtrierte das Tageslicht und ließ von dem hellen Sonnenschein des Spätherbstes nur wenig durchdringen. Vor den Fenstern krähte zuweilen der Hahn, und auch das Gackern der Hühner war zu vernehmen. Dann muhte irgendwo ein Kalb so unheimlich deutlich, daß der Michael Hely unter der Zudecke tastete, weil er vermutete, daß er diesen Zweihufer als Bettgenossen haben könne. Sonst aber war alles still und kein Laut deutete darauf hin, daß das Haus von Menschen bewohnt sei.

Diese köstliche Ruhe gefiel dem Langschläfer und er dachte zunächst noch gar nicht daran, sein Lager zu verlassen. Er stützte sich auf den rechten Ellenbogen, legte das Haupt auf die Hohlhand und schaute durch die Scheiben.

Drüben hinter einem wohlgeordneten Dunghaufen lag ein Bauernhaus, das mit seiner weißen Tünche und seinen größeren Fensterscheiben einen etwas feudaleren Eindruck machte als die anderen. Wer mochte da wohnen? Offenbar einer von den Honoratioren des Dorfes.

Soeben bog eine dicke Frau um die Ecke des Dunghaufens, blieb stehen, strengte sich an einen kleinen weißen Zettel zu enträtseln und verschwand kopfschüttelnd aus dem Gesichtsfelde des Michael Hely.

Dann kam ein Mann, der eine verbundene Hand in einer Schlinge trug, und gleich darauf ein anderer, dessen Auge von einem schwarzen Pflaster verdeckt war. ›Aha,‹ dachte der Langschläfer, ›hier wohnt der Doktor‹ und er freute sich über das nahe Zusammensein mit einem Manne, der den Unterbau lieferte, auf dem er weiterzimmerte, bis der Totengräber ihr gemeinsames Werk mit einem Grabeshügel krönte.

Als er soweit orientiert war, ging er einen Schritt weiter und musterte die Kommenden darauf hin, wie lange es wohl noch dauern könne, bis sie aus der Behandlung des Arztes in die seinige kommen würden. Vor den Butzenscheiben schwankte eben eine lange, hagere Gestalt, hohläugig und mit eingefallenen Backen. Die weitabstehenden gelben Ohren schienen aus dem Blutkreislauf ausgeschaltet zu sein und glichen den Blumenleichen eines Herbariums.

Diesem Ärmsten stellte der Sargtischler eine recht ungünstige Prognose und so nach dem Augenschein nahm er bereits das Maß für seine dereinstige Wohnung. Ein Meter fünfundsiebzig Zentimeter taxierte er vor sich hin, und wenn der Tod ihn noch etwas streckt, ein Meter achtzig.

Als auch der vorüber war, dauerte es eine Zeitlang, dann kam mit frohen Sprüngen ein brauner Jagdhund und richtete mit seiner plumpen Zudringlichkeit unter dem Hühnervolk auf dem Misthaufen Schrecken und Verwirrung an, bis eine befehlende Stimme ihn zurückrief.

Jetzt erschien im grünen Jagdanzuge mit der Büchse über der Schulter eine jugendlich-elastische Gestalt, rückte den Hut mit der Spielhahnfeder auf das Ohr und ging weiter, offenbar herzlich froh darüber, daß nun der Menschheit Angst und Wehe für einige Stunden nicht an sein gequältes Ohr schlagen könne.

›Das ist der Doktor‹, dachte der Michael Hely und er freute sich, daß ein solcher Mann, der nur von Krankheiten lebt, doch so frisch und wohlgenährt aussehe. Gern glaubte er dem Augenschein, der erkennen ließ, daß der Mann für die Firma ›Gesundheit‹ reise.

Während in dieser Weise unser Freund sich über die örtlichen Verhältnisse zu unterrichten suchte, ging die Tür auf und ein vom Alter gebeugter Mann schleppte sich langsam durchs Zimmer. Es war der Schreinersepp. Seine Wangen überdeckte ein grauer ungepflegter Vollbart, und seine zahnlosen Kiefer hielten nur mühsam die mit Wollfäden umwickelte Hornspitze einer Pfeife gefangen. Hustend ging er nach dem Ofen, holte den Topf mit Milch hervor und goß dessen Inhalt in einen irdenen Napf, der auf dem Tische stand. Dann zog er die Schublade, nahm einen Laib Brot und legte ihn neben die Schüssel. Als er jetzt sein Taschenmesser aufklappte, fand er, daß es nicht rein genug sei, um vor den Augen eines Weitgereisten bestehen zu können. Deshalb spuckte er auf die Klinge und rieb diese auf seiner roten Weste quer über dem Magen blank.

Als dies alles vollbracht war, ging er nach dem Bett, setzte sich auf dessen Rand und suchte mit seinen kurzsichtigen Augen zu erforschen, welchen Vogel ihm die Nachbarn von Säckingen mitgebracht hätten. Der gebrechliche Alte war nämlich der Schreiner. Er fahndete schon lange nach einem Gesellen. Als man ihn in der letzten Nacht herausklopfte, um ihm zu eröffnen, daß man einen solchen für ihn gefunden habe, nahm er diese Störung seiner Nachtruhe nicht übel auf, sondern erhob sich und bereitete seinem Gast das Lager.

Wie er am Morgen dasaß auf dem Bettrande und mit seinen hageren Fingern nach der Hand des Burschen tastete, entspann sich folgendes Gespräch:

»Du bist katholisch?«

»Ja.«

»Dann sage mir, was gehört auf Pax domini und Dominus vobiscum

» Et cum spiritu tuo,« war die Antwort.

»Recht so, im Lateinischen wird Dir keiner über sein. Hast Du schon Grabkreuze gemacht mit zwei oder auch mit drei Querbalken übereinander? Weißt Du, so für Leute, von denen die Schrift sagt: es würde eher ein Kamel durch ein Nadelöhr gehen als die Sorte ins Himmelreich?«

»Für Reiche meint Ihr wohl? Ja, gibt es denn solche überhaupt hier?«

»Gewiß, es hat vor einigen Monaten ein Mädchen geheiratet, die zum mindesten fünfhundert Mark bar Geld hatte. Übrigens, wie steht's? Bist Du schon mit einem Weibe behaftet?«

»Nein,« sagte der Michael Hely, »ich habe gegenwärtig nur für einen Mund zu sorgen.«

»So warst Du verheiratet?«

»Auch das nicht, aber es hatte sich mir auf der Wanderschaft ein Hund angeschlossen. Doch der ist tot und frißt nichts mehr.«

»Hunde,« sagte der Alte, »Hunde sind besser als Weiber,« entfernte sich durch die Tür, und bald sah man von ihm nichts mehr als eine bläuliche Rauchwolke, die wie ein leichter Morgennebel vor dem Fenster hinschwebte. Er saß an seinem Lieblingsplätzchen vor dem sogenannten Schild seines Hauses und rauchte seine Pfeife.

Der Michael Hely erhob sich, frühstückte und schlich zu seiner weiteren Orientierung um die Gartenzäune des Dorfes. Am Nachmittag stand er vor der Hobelbank und machte Melkstühle auf Lager und so alle Tage, bis sein Nachbar, der Doktor, aus ihn aufmerksam wurde und ihn als Treiber mitnahm auf seinen Jagdgängen. Auf den einsamen Wegen durch die herbstlich-öden Flure wurden sie vertrauter miteinander und bald der eine, bald der andere öffnete ein wenig sein Herz und gestattete seinem Begleiter einen kleinen Überblick über das, was darin vorging.

So hatte der Michael Hely eines Tages dem Arzte eingestanden, daß er mit Schmerzen auf eine Gelegenheit warte, seine Kunst an einem Sarge zu erweisen. All die Wochen, die er nun schon im Orte, weilte, herrschte im Kirchspiel eine wahre Gesundheitsepidemie, und niemand wollte sich ohne besondere Veranlassung dazu entschließen, zu sterben. So blieb der Geselle ewig bei der monotonen Stuhlmacherei, die seinem Kunstgeschmack nicht entsprach und die außerdem seine Werkstätte mit diesen spinnenförmigen Ungetümen füllte, daß ihr Erzeuger kaum mehr Platz hatte, die Ellbogen zu verwenden. Der Doktor sah ihn mit einem Lächeln an, das so die Mitte hielt zwischen Gewähren und Versagen, und fragte ihn scheinbar ganz außer dem Zusammenhang, ob es ihm nicht aufgefallen sei, daß der Mann mit den abstehenden Ohren, dem langen Halse und den Schultern, die aussahen, als ob man zwei Gewehre zusammengestellt hätte, nicht mehr in die Sprechstunde komme?

Der Michael Hely, der von seiner Werkbank aus alles mustern konnte, was bei dem Doktor aus- und einging, wußte gut genug, wer gemeint war, und betete, ohne dem Arzte zu antworten, im stillen ein Vaterunser für die arme Seele, die sich nun bald von der Erde und dem behandelnden Arzte trennen mußte und ihr irdisches Teil dem Sargtischler und dem Totengräber zur gefälligen Verfügung überließ.

 


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