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Zehntes Kapitel

Nach langsamem Sterben war der Winter endlich tot. Schneeglöckchen läuteten ihn ins Grab, und die Stare sangen von den Dächern das Miserere. In den Borken der Bäume, zwischen den Bündeln der Strohdächer färbte das anspruchslose Moos seinen immergrünen Teppich etwas lebhafter und reckte schwächliche braune Stengel in die Luft, auf denen sich der kleine Blütenkelch wiegte, die Hoffnung für die Zukunft. Die Sperlinge machten Hochzeit und richteten in Erwartung eines großen Kindersegens ihr Haus ein. Vorüber waren für den Spatzenvater die goldenen Tage des Junggesellentums. Er konnte sich nicht mehr nach Belieben auf Speichern und Tennen herumtreiben und essen und trinken, was gut und teuer war. Er mußte schwere Strohhalme herbeischleppen und Reisigzweige und fügte sie als Sparren und Balken in sein Haus. Dann suchte er nach weichen Stoffen, um die Wände zu polstern, stahl die schneeige Wolle von dem Rücken der Schafe, oder balgte sich mit seinesgleichen um eine Feder, die ein Huhn oder eine Gans auf dem Hofe verloren hatte.

Während die Vögel Hochzeit machten und ihre Wohnungen einrichteten, saßen die Menschen vor den offenen Kellertüren, schnitten aus den Kartoffeln die Augen und legten sie in Körbe. Andere kamen vom Felde, holten die Setzlinge und senkten sie in die dampfenden, von der Pflugschar aufgerissenen Furchen. So sorgte in der Mannigfaltigkeit ihrer Geschäfte Mensch und Tier für die Zukunft, wagte einen Einsatz und hoffte auf einen Gewinn.

Auch der Michael Hely schien sich mit weitausschauenden Plänen zu tragen. Er hatte sich einen Kittel aus blauer Leinwand zugelegt, wie ihn die Hausierer und Viehtreiber zu tragen pflegen, und er hatte Doppelsohlen auf seine Stiefel legen lassen. Wer irgendwie Menschenkenntnis besaß, mußte diese hochbedeutsamen Anschaffungen so auslegen, daß der Dorfteufel die Absicht habe, in die Weite zu ziehen. Und so war es auch.

Eines Morgens, als die Sterne schlafen gingen und die Sonne im Osten sich aus den Purpurkissen ihres Bettes erhob, pilgerte im Zwielicht ein Hausierer, der eine Anzahl Siebe über den Schultern trug, zum Dorfe hinaus. Er ging auf dem gleichen Wege, auf dem wir einst die Hopfenzupfer schreiten sahen, und sein Ziel war wiederum die Eisenbahnstation Weinheim.

Wer erst einmal in der Bahn sitzt, braucht für sein Fortkommen nicht zu sorgen. So trugen denn auch die rollenden Räder unsern Freund immer weiter südwärts, immer der Strömung des Rheines entgegen. Der Fluß, der noch bei Mannheim stolze Dampfer auf seinem Rücken trägt, wurde schmäler und schmächtiger. Von seinem Spiegel verschwanden die breiten Lastschiffe mit Bausteinen und Getreide beladen, verschwanden die flotten Kähne, auf deren Bänken Marktleute und Händler im Schatten weißer Segel im Winde trieben.

Nur zuweilen wälzten die hellgrünen Fluten die braune Last eines schmalen Flosses talabwärts. Häufiger zeigten sich weiße, lachende, ausgelassene Wellen auf dem Strom, der in munterer Eile mit geschwätzigem Murmeln seine Wasser durch die Felsenspalten drängt.

Durch das offene Fenster seines Coupés betrachtete der graubärtige Hausierer den jungen Rhein. O, er kannte ihn wohl, kannte ihn aus der Zeit, wo er selber noch jung war, wo in seinen Adern das Blut mit gleichem Ungestüm sprudelte wie das Wasser im Flußbett, wo noch der Wind ungebrochener Lebenskraft das Segel seines Schiffes blähte, und noch die Hoffnung am Steuer saß. Ja, der Rhein war jung geblieben. Was sind für ihn, der Jahrtausende zu leben hat, fünfundzwanzig Jahre!! Aber der Handwerksbursche von dazumal war ein alter Hausierer geworden. Müde saß er da und in Gedanken versunken. Der Zug hielt. Der Schaffner öffnete die Tür und rief ins Coupé hinein: »Brennet.« Die übernächste Station mußte »Säckingen« sein.

Der alte Mann fuhr auf. Seine glanzlosen grauen Augen schweiften über den Wiesengrund hin zum Ufer des Rheines. Dort suchte er im Gebüsch die Stelle, von welcher einst der Nachen abstieß, der ihn mit den Werbern über den Rhein trug. Lang war es her, aber noch einmal schüttelte den alten Mann der ungeheuere Verlust, der sein ganzes Leben wertlos gemacht hatte, der Gram, der seitdem immerwährend, wenn auch nicht mehr in der gleichen Wut wie zu Anfang, an seinem Herzen nagte. Der Riese Kummer, mit dem er seit Jahr und Tag gerungen, gewann wie Antäus in seinem Kampf mit Herkules neue Kraft, als er die Erde berührte, der er entstammte.

»Säckingen!« rief der Schaffner und riß die Tür des engen Verschlages auf, in welchem der träumende Alte saß. Eine gebeugte, graubärtige Gestalt zwängte sich und seine ganze Habe, die ihr über den Schultern lag, aus dem Rahmen des Türgesimses. Zitternd tasteten zwei Füße, die in breiten Schuhen steckten, nach den Trittbrettern und erreichten den knirschenden Sand des Perrons. Langsam und schwerfällig vollzog sich der Abstieg. Auf die Schultern des Reisenden drückte fühlbar eine zentnerschwere Last, der in eine Minute zusammengedrängte Kummer vieler Jahrzehnte. Gefühllos zwängte sich der Schaffner zwischen den Zug und den Fremden, klappernd fuhr die Tür ins Schloß, der Zug ging weiter.

Was kümmert sich das große Getriebe der Welt um das Leid des Individuums? Die Räder, die gräßlichen, erbarmungslosen Räder, sie müssen sich, vom Teufel der Gewinnsucht gehetzt, um ihre Achsen drehen und geben keine Ruhe, selbst dann nicht, wenn Fetzen von Menschenleibern an ihren Kränzen hängen.

Der Bahnhof war leer, die Leute hatten sich verlaufen. Jeder ging einem ganz bestimmten Ziele zu. Der Michael Hely stand noch unbeweglich und besann sich auf das, was er eigentlich vorhatte. Ach ja, er wollte noch einmal zu der Stätte wallen, wo sein Hoffen begraben lag. Hatte er nicht seit Jahren diesen Wunsch im Herzen gehegt, ihn mit stillen Tränen genährt, wie der Gärtner seine Pflanzen begießt, ihn großgezogen, bis er unwiderstehlich wurde. Warum wankte er jetzt, wo er vor der Erfüllung seines Wunsches stand?

In ihm erwachte ein wilder Zorn gegen seine eigene Schwäche und die Weichheit seines Empfindens.

Er richtete sich trotzig auf, ging über die Schienen des Bahnhofs hinüber. Bald hatte er die niederen baufälligen Häuser hinter sich, die hier wie überall an der Peripherie der Landstädtchen die Armseligkeit ihrer Bauart hinter Dunghaufen und niedern Ökonomiegebäuden verstecken, und gelangte auf einen saftigen Wiesengrund. Hier war's, wo er einst die Werber eingeholt hatte. Da vor seinen Augen lag die Bergeshalde, die er, den Tod im Herzen, heruntergestiegen war, und da sollte er heute wieder hinauf. Er ging langsam. Keuchend hob sich die Brust und senkte sich wieder. Das Alter hatte die Leistungsfähigkeit seiner Lunge nicht gebessert; die Kniee wankten. Der Wanderer fühlte, daß er zum letzten Male diese Höhe ersteigen werde.

Endlich war er oben, und vor ihm streckte sich das leicht gewellte Terrain der Hochebene. Er bog von der Landstraße ab und kam auf kleine Fußpfade, die dem Verkehr zwischen den einzelnen Hofraiten ihr Dasein verdanken. Ein Bauer ließ im frischgepflügten Acker die Pferde stehen und kam auf den Hausierer zu. Er war Liebhaber für eines der Siebe. Jedes Stück hielt er, um dessen Gewebe zu prüfen, gegen die Sonne, suchte zwei weitmaschige aus und beauftragte den Händler, sie im nächsten Bauernhofe abzugeben und sein Geld dort in Empfang zu nehmen

So kam der Michael Hely fremd und unerkannt in die Hofraite des Batzefriedle, über deren Schwelle er einst so unsanft hinausgeflogen war. Ein junges Weib begegnete ihm auf dem Hausflur. Sie schien es eilig zu haben. Aus der Wohnstube drang das Geschrei eines Kindes, aus den Ställen das Blöken der Kälber. Wer für so viele hungrige Mäuler zu sorgen hat, ist nicht geneigt, den neugierigen Fragen eines Hergelaufenen standzuhalten. Die geschäftige Hausfrau nahm dem Hausierer die Siebe ab, griff in die Tasche unter ihrer Schürze, um das Geld hervorzusuchen und überließ den Fremden der Gnade Gottes und seinen Gedanken.

Rücksichtslosigkeit schien zu dem unveräußerlichen Besitze dieses Hauses zu gehören. Als der Michael Hely diesmal über die Schwelle schritt, hatte er die Gewißheit, daß er sie nie mehr betreten werde. Schweigend und nachdenklich ging er seines Weges. Es war bereits Abend.

Der Mond leuchtete ihm, und auch die Sterne taten, was sie konnten, in ihm und außer ihm Licht zu schaffen. Die Dämmerung verwischt die Farbe der Dinge und läßt auch deren Formen verschwimmen, sie reißt die Seele los von den Einzelheiten dieses Lebens, schläfert ihr wildes Begehren ein, gibt ihr Schwingen, sich über die Erde zu erheben und sich als ein Teil des ungeheuren Universums zu fühlen, gegen dessen gigantische Verhältnisse alles Irdische nichtig erscheint. Von dieser Höhe aus erscheint alles Treiben der gesamten Menschheit so klein, so verächtlich, um wieviel mehr das des einzelnen Menschen. Ein unermeßlicher Strom, so fließt die Zeit dahin, tilgt altes Leid und schafft neues. Nur die Gegenwart ist empfindlich für Freud und Schmerz; die Vergangenheit ist gefühllos, wie die Zukunft. Wie lange noch, und der alte Mann, der hier an seinem Stabe weiter schritt, hatte mit der Zeit nicht mehr zu rechnen. Der Gedanke, daß er bald alles Erdenleid von sich werfen könne, gab dem Hinwelkenden Kraft und erfüllte seine Seele mit einem gewissen freudigen Behagen.

Als der Greis in Rickenbach im Gasthaus zum Bären in die Stube trat, beseelte ihn sogar eine sorglose Heiterkeit. Er grüßte zwei Handwerksleute, die um die Lampe am Tische saßen und empfing von ihnen Gottes Dank. Die Leute fragten ihn, woher er käme. Er gab ihnen Auskunft und fügte hinzu, daß er auch früher schon in die Gegend gekommen sei und manchen gekannt habe, der wohl längst nicht mehr am Leben wäre. Ein Wort gab das andere, und hier erfuhr der Michael Hely, daß das gute Bärenweibele schon lange unter dem Rasen schlummere, und daß man auch den Batzefriedle so nach und nach beerdigt habe, weil er eben stückweise gestorben sei.

Der wüste Säufer war in einer kalten Winternacht im Freien liegen geblieben und hatte sich die Hände und Füße erfroren. Man hatte sie ihm abgenommen und auf dem Kirchhof eingescharrt, wo sie nicht allzulang zu warten brauchten, bis der übrige Körper nachkam. So war wenigstens der Bauer wieder ganz beisammen, während seine Kinder in alle Welt sich zerstreuten, und der Hof in fremde Hände kam. Nur drüben hinterm Wald, im Kuhklingen, da lebte noch eine Tochter von ihm, die jedes Jahr am Allerseelentag ins Dorf kam und nach den Gräbern sah. Dies erzählten die Handwerker dem Fremden.

Den Michael Hely packte eine ungewöhnliche Erregung, als die Erzähler die Tochter des Batzefriedle erwähnten. Aus dem Dickicht seines weißen Vollbartes stieg eine dunkle Röte empor, überkleidete Gesicht und Stirne und verlor sich unter dem Schnee des Haupthaares. Den ganzen Körper schüttelte eine Empfindung, die halb Wärme, halb Kälte war. Ungestüm klopfte das Herz an die Brustwand. Heimlich schob der Vielgequälte die Hand unter seinen blauen Kittel und preßte sie mit aller Gewalt dem tobenden Herzen entgegen.

Die Luft in der Wirtsstube beengte ihn. Er erhob sich, stieg eine Treppe hinauf und suchte sein Lager auf. Doch er schlief nicht. Die Glocke, die mit ihrem wohlbekannten Ton vom Kirchturm die Stunde rief, redete mit ihm von alter Zeit und altem Leid. In ihrer Stimme zitterte etwas wie Wehmut und Reue. Es war, als wolle sie um Verzeihung flehen für all das Leid, das sie als Mitschuldige eines schweren Unrechtes einst über ein Menschenherz gebracht hatte. Der Michael Hely verstand sie und verzieh. Der Gedanke an all die Heimgegangenen, die ganz in seiner Nähe unter dem Rasen schliefen, stimmte ihn weich und versöhnlich. Wozu hätte er auch noch hassen sollen? Das Programm seines Lebens war bis zu der letzten Nummer abgespielt. Noch einmal wollte er die sehen, der er das höchste Glück verdankte, das die Welt zu verschenken hat, dann wollte er seine Siebe verkaufen, heimgehen und auf das Nahen des Todes warten, wie drüben vor der Haustür der Schreinersepp auf ihn gewartet hatte.

Als der Hahn den Tag weckte, erhob sich der Michael Hely von seinem Lager. Er warf sein Bündel Siebe über die Schulter und wanderte durch die Dorfstraße. Menschen kamen an ihm vorbei und grüßten ihn mit gleichgültigem Gruße. Keiner hatte ein Wort der Freundschaft für ihn übrig. Er seinerseits forschte in jedem Gesichte nach einem Zuge, der ihn erinnern möchte an Genossen vergangener Tage. Nirgends fand er den Faden, der die Vergangenheit mit der Gegenwart verband. Alle waren ihm, er allen fremd. Seine Vorsicht war überflüssig gewesen, auch ohne Vollbart konnte er inkognito hier herumreisen.

Er wanderte durch die Felder und kam an die tiefe Schlucht, welche das Wasser der Murg im Laufe der Jahrtausende in den Felsen gegraben hatte. Er stieg zur Talsohle nieder und kletterte drüben an dem steilen Hange wieder zur Höhe. Droben, wo das Buschwerk endete, sah man den roten Fettglanz der Schollen frischgepflügter Äcker. Dahin zog es ihn, denn er wußte, daß hinter diesen Feldern im Wiesentale das Hofgut derer lag, die er einst sein Eigen nannte. Je näher er ihrem Hause kam, um so mehr beschäftigten sich seine Gedanken mit ihr. Aus den verborgenen Schubladen seines Gehirns suchte er ihr Bild hervor, entflammte daran seine Einbildungskraft so, daß die Geliebte wieder in Glück und Jugendfülle strahlte, wie ehedem. Dann aber kam seine Vernunft und machte ihm Vorwürfe, daß er vergessen habe, mit den Jahren zu rechnen und mit der zerstörenden Wirkung, die sie in jedem Menschenantlitz üben, und er legte sich traurig die Frage vor, ob und wie weit das Original von heute dem Bilde gleiche, das er in seiner Seele trug. Fast hätte er umkehren mögen.

So kam er, von Furcht und Erwartung gleichmäßig gequält, um die Mittagszeit vor dem Hause an und trat auf die Diele des Flurs. Nirgends erblickte er einen Menschen, aber er hörte das Geräusch von Messern und Gabeln auf den Tellern und schloß daraus, daß man in der Stube beim Mittagessen sei. So ließ er sich denn auf einer Stufe der Treppe nieder, die nach den Bodenräumen führte, und harrte geduldig, die Augen nach der Tür gerichtet, bis jemand kommen und ihn anreden werde.

Nach einer kurzen Weile vernahm er, daß Füße scharrten und Stühle gerückt wurden. Dann hörte er wie von einem vielstimmigen Chor in monotonem Rhythmus das Gebet: »Wir danken, Herr, für alle Gaben, die wir von Dir empfangen haben,« heruntergeleiert wurde.

Gleich darauf trat eine dralle Dirne, auf beiden Backen kauend, unter die Tür. Sie wischte sich mit der Schürze den Mund ab und wollte über den Flur nach der Küche. Als sie den Mann auf der Stiege gewahrte, eilte sie in die Stube zurück. An ihr vorbei drängten sich die Knechte, klappten ihre Taschenmesser zu und eilten nach den Ställen. Alles dies geschah ruhig und in gesitteter Ordnung. Der Siebmacher bemerkte mit Wohlgefallen, daß in dem Hause ein guter Geist herrsche.

Vom Innern der Stube hörte er jetzt aus einer Frauenkehle die Worte: »So laß ihn doch hereinkommen, Vinzenz, und sieh zu, ob noch warmes Essen in der Küche ist.«

Der Fremde trat ein und sah sich einer Frau gegenüber, auf deren glatt gescheiteltem Haar der Frühreif einer Novembernacht zu liegen schien. Auch ihr Antlitz trug ein herbstliches Gepräge. Es fehlte die Farbenfrische, die der Lenz des Lebens, und wohl auch noch der Sommer auf die Wangen zu malen pflegt. Das Licht, das aus den Augen brach, war matt und abgedämpft wie Sonnenstrahlen, die ihren Weg durch Regenwolken genommen haben. Die ganze ruhige, freundliche Frau konnte einem Künstler Modell stehen zu einem Bilde der Entsagung.

Michael Hely hatte auf den ersten Blick erkannt, wer vor ihm stand, aber er beherrschte sich. Er wußte, daß ein gegenseitiges Erkennen nur die Quelle sein werde, aus der neue Leiden fließen mußten. Mannhaft zwang er das rebellische Verlangen nieder, nur einmal noch vor seinem Tode mit ihr von vergangenen schönen Stunden zu reden; und seine Stimme klang ruhig und geschäftsmäßig, als er der schlichten Frau seine Siebe zum Kaufe anbot. Gleichwohl mußte dieser Klang im Kopfe der Angeredeten alte Erinnerungen geweckt haben; denn aus ihren Augen blitzte eine mit Angst gepaarte Überraschung, als sie grüßend das Gesicht des Fremden mit den Blicken maß. Aber schnell wie er gekommen war, verschwand der Gedanke wieder. Sie war sich bewußt, daß ihr Ohr sie getäuscht habe, und bald lag wieder die Wolke von Schwermut über ihrer Stirne, die seit der Geburt ihres Sohnes dort gestanden hatte, wie die Rauchsäule des Vesuvs über den blühenden Gefilden Campaniens. Ruhig ging sie zum Tische, belud einen Teller mit den Überresten der Mahlzeit, legte ein Stück Fleisch dazu und forderte den Fremden auf, es sich gut schmecken zu lassen. Dieser tat, was man ihn geheißen hatte, aber sein Verlangen nach Speise war gering, er beugte sein Haupt tief über den Teller, er wollte nicht, daß seine Tränen ihn verraten sollten.

»Ihr seid viel in der Welt herumgekommen?« forschte die Bäuerin.

»Mehr als so gebrechlichen Beinen gut ist,« gab der Hausierer zurück.

»Kennt Ihr den Odenwald?«

»Nach allen Richtungen habe ich ihn durchquert.«

»Waldmichelbach ist wohl ein schönes Städtchen?«

»Ich kenne wenig mehr davon, als zwei große Kirchhöfe und die Schilder seiner Herbergen.«

»Und seine Bewohner?« fragte die Bäuerin, den Fremden ausholend.

»Zerfallen für mich, wie die jedes anderen Ortes in solche, die etwas kaufen und solche, die es nicht tun. Welches Interesse sollte ein alter Mann an den Menschen nehmen?«

»Demnach habt Ihr nie von einem gehört, der Michael Hely hieß?« war die eindringliche Frage.

»Nein,« war die bestimmte Antwort.

Verträumt sah die Bäuerin ins Leere hinaus – Die alte Frage! – Wie manchem Fremden hatte sie dieselbe schon vorgelegt. Immer die gleiche unbefriedigende Auskunft. Nirgends hatte sein flüchtiger Fuß eine Spur zurückgelassen. – Sie seufzte tief. Ihr war's, als ob sie nicht sterben könne ohne noch einmal von ihm gehört zu haben.

»In welcher Richtung werdet Ihr von hier weiterziehen?« fragte die Frau nach langem Schweigen.

»Ins Rheintal hinunter,« sagte der Hausierer und griff nach seinem Bündel.

»Dann könnt Ihr mit mir fahren,« rief eine fröhliche Stimme, die dem Sohne des Hauses gehörte.

Dieser hatte nämlich auf dem Hofe die Pferde vor den Wagen gespannt und wollte eben ins Haus zurück, um seinen Sonntagsrock anzulegen. Die Mutter freute sich, daß ihr Junge ein gutes, menschenfreundliches Herz hatte, und schob ihm ein reichlich bemessenes Zehrgeld in die Westentasche.

In diesem Momente stand zum ersten Male im Leben die Familie Hely sich Auge in Auge gegenüber, aber nur zweien Wesen war das Ereignis bekannt: Gott und dem Michael Hely. Der eine bewahrte sein Geheimnis aus Edelmut, warum's der andere tat, weiß ich nicht.

Bald saßen Vater und Sohn auf dem Wagen, und die ledergepolsterte Lehne des Sitzes umschlang beide in Zärtlichkeit, als ob sie gut machen wolle, was das böse Geschick verdorben hatte.

Die sorgsame Mutter ließ über dem schimmernden Rücken der feurigen Pferde die Zügel durch ihre Hand gleiten, prüfte, ob die Schnallen gut geschlossen seien und empfahl ihrem Sohne an, ja recht vorsichtig zu sein.

So bot sich dem Auge des Michael Hely noch einmal Gelegenheit, sich an den Linien und Bewegungen der immer noch elastischen Gestalt zu werden und das unter der Asche von Verbitterung noch immer glühende Feuer der Liebe aufs neue zu entflammen. Zum letzten Male in seinem Leben kämpfte in seinem Herzen das Gefühl der Pflicht gegen die Forderungen der Leidenschaft. Er blieb Sieger, aber er war zu Tode getroffen.

Unruhig schäumten die Pferde ins Gebiß, und ihre Hufe scharrten in dem Sand des Hofes. Die Bäuerin war auf die Seite getreten. Die Zügel in der Hand des Fuhrmanns gaben den Ungeduldigen etwas Luft und zum Tor hinaus schoß der Wagen. Ein leichtes Nicken mit dem Kopf, ein letzter Gruß, und wiederum legte sich ein Kilometer nach dem andern zwischen zwei Menschenherzen, die von Gott und Rechts wegen zueinander gehörten. Aber nur eines von den beiden empfand die ganze Bitterkeit dieser Trennung und rang mühsam mit den Tränen, die sich zwischen die Lidränder drängten.

Wie Pfeile vom Bogen geschnellt, schossen die Pferde, ihrer Freiheit sich freuend, den Feldweg hinab. Zur Rechten rauschte und gurgelte warnend im tief eingeschnittenen Felsenbett die Murg. Zuweilen machten die mutwilligen Tiere einen Seitensprung und führten die Räder des Wagens dicht an den Rand des Abgrundes. Ihr Führer strafte ihren Leichtsinn mit leichten Peitschenhieben, aber sie achteten dessen nicht und wieherten fröhlich auf, als verachteten sie die Warnung. Den Zorn ihres Lenkers fürchteten die Pferde nicht, denn sie brauchten nur ein wenig über ihre Schultern hinwegzuschielen, so konnten sie beobachten, wie das Gesicht des Jünglings in freudiger Erregung glühte, so oft sie ihm Gelegenheit boten, der Gefahr ins Auge zu sehen und seine Kaltblütigkeit und sein Geschick zu erproben.

Auch der Michael Hely sah der tollen Jagd mit Stolz und Behagen zu. Wie so die Luft zischend um seine Ohren strich und das Gespenst des Todes aus dem Abgrund zu ihm heraufgrinste, sammelte die Gefahr, die im Versteck des Augenblicks lauerte, hier wie einst vor der Mündung der Kabylenflinten seine ganze Geisteskraft und riß seine Gedanken los von der Vergangenheit und der Zukunft. Er war ruhig, auf alles gefaßt und wenn er wünschte, daß die kühne Fahrt glücklich enden möge, so geschah es einzig des jungen Mannes wegen, der kaltblütig an seiner Seite saß, und den er voll Vaterstolzes vor sich selber seinen Sohn nannte. Eine Ahnung der Unsterblichkeit ergriff ihn, weil er fühlte, daß die Eigenschaften der Eltern im Kinde weiterleben. So freut sich der Kuckuck an seiner Brut, auch wenn er sie im fremden Neste liegen sieht.

Das Gefälle der Straße verminderte sich, und auch die Murg hatte es nicht mehr so eilig, ihrer Wiege zu entfliehen. Man näherte sich einem Städtchen, bei dessen Taufe der Bach als Pate gestanden. Die kleine Bahnstation auf der Strecke zwischen Schaffhausen und Basel versorgte den Hotzenwald mit Kohlen, Kolonialwaren und anderen Dingen, die auch der Anspruchslose nicht mehr entbehren kann und die ihm doch der eigene Grund und Boden nicht gibt. Wirte und Kaufleute, deren Häuser mit großen Scheiben an der Straße paradierten, kannten jedes Fuhrwerk ihres Absatzgebietes an dem Geräusche, das es auf dem mangelhaften Pflaster erzeugte, und sobald sie das Aufschlagen eines Hufeisens auf den Steinen hörten, pflanzten sie sich vor ihren Haustüren auf und machten jenes bekannte Gesicht, das ungefähr sagen will: »Ei, ei, so vorbei!«

Unsere zwei Freunde kümmerten sich heute wenig um die Blicke und devoten Grüße der Erwerbssüchtigen. Sie fuhren die lange Straße hinab und hielten vor einer Wirtschaft in der Nähe des Bahnhofes. Der Michael Hely sprang vom Wagen, zog die Pferde durchs Hoftor und erbot sich für dieselben zu sorgen, derweilen der Bursche seine Geschäfte im Städtchen erledige. Der Vorschlag wurde angenommen.

Selten sind Pferde gewissenhafter besorgt worden. Es schien, als ob der alte Mann der lang zurückgehaltenen Liebe, die er für sein Kind empfand, ein Ventil öffnen müsse. Er fütterte dessen Lieblinge reichlich, streichelte ihnen schmeichelnd die glatten Mähnen, liebkoste sie, redete mit ihnen wie mit vernünftigen Wesen und bat sie inständig, in ihrer jugendlichen Ausgelassenheit die Gesundheit seines Kindes nicht zu gefährden.

Am Abend, als der junge Bauer aus dem Städtchen zurückkehrte, duftete auf dem reinlich gedeckten Tische der Gaststube ein saftiger Braten, und zwischen zwei Gläsern reckte eine Flasche Wein hochmütig ihren grünen Hals in die Luft und tat dick mit der Etikette, die sie auf dem Leibe trug.

Den wackern Fuhrmann befremdete das Benehmen des Hausierers, aber er war doch zu hungrig, als daß er sich langen Bedenken darüber hingegeben hätte, warum der Fremde so überaus freigebig war. Er aß und trank, bedankte sich bei seinem Gastgeber und fuhr in die Nacht hinein, die mit dem Lichte unzähliger Sterne freundlich auf den Bastard herniedersah. Sie taten gut daran, ihm zu schmeicheln, diese Himmelslichter. Soweit man rückwärts den Stammbaum der Helys verfolgen konnte, hatten sie zum ersten Male einem Glücklichen geleuchtet.

Was mag seine Mutter gedacht haben, als er, zu Hause angekommen, von dem überreichen Mahle erzählte, das der Fremde ihm vorgesetzt? Wird sie am Abend an die Nachricht geglaubt haben, die ihr am Morgen ihr aufmerksames Ohr verkünden wollte?

Zu spät!

 


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