Friedrich Huch
Pitt und Fox
Friedrich Huch

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Als sie sich auf den Rückweg machte, begegnete ihr wieder jener junge Mann, den sie zuerst gesehen, diesmal mit einem Mädchen am Arm. – Unsauberes Pack! dachte sie; die Unsittlichkeit macht sich am hellen Tage breit! In diesem Satze entdeckte sie einen Reim, und nun reimte sie bewußt weiter und dachte: So entstehen Gelegenheitsgedichte!

Sie erkundigte sich in den nächsten Tagen wirklich bei jenem Chef, der Bescheid lautete günstig, so günstig, daß sie sich beinah ärgerte. Hatte sie doch gehofft, ihn zu entlarven! Aber nein: Sie sah doch nun, es war ein guter Mann, und wenn sie ihn auch nicht heiraten wollte – zu kränken brauchte sie ihn auch nicht. Er hatte ihr Vertrauen gezeigt, er war vor ihr auf die Knie gesunken – oder war er nicht vor ihr auf die Knie gesunken? nun, jedenfalls hätte er es tun können – und wenn er sie später auch beleidigt hatte – um so größer würde sie dastehen, wenn sie sich einfach, vornehm benahm. Sie wollte hingehen zu ihm, sie wollte ihm sagen, daß sie nur Freundschaft für ihn empfände, sie würde ihm beide Hände reichen, er würde beide Hände küssen, und dann – dann ging sie wieder. – Sie schrieb ihre Postkarte und war am nächsten Tage in Herrn Feihses Wohnung, die mit allem «Kongfohr» ausgestattet war, wie sie, sich umblickend, bemerkte. – Er rückte ihr sogleich den besten Sessel hin, mit zitternden Händen, ach Gott, wie war der Mann erregt! auch damals zitterten seine Hände! – und dann wollte er sich sogleich daran machen, Kaffee zu kochen. Sie nahm ihm aber das Geschäft ab. So blieb er in seinem Lehnstuhl sitzen und verfolgte jede ihrer Bewegungen. Wie weltdamenmäßig sie den kleinen Finger hob, als sie jetzt die Tasse zum Munde führte! Kaffee, sagte sie, sei die einzige Freude, die ihr das Leben biete. Sie könne Kaffee trinken, bis sie umfalle. Seine Augen ruhten stets mit einem stillen, fragenden Blick auf ihr. Sie sah ein wenig verlegen auf dies Gesicht, das da so unverwandt und gerade auf sie blickte, mit einem so sprechenden, stummen Ausdruck! Heute war er ganz anders als damals, wo er immer so geschäftsmäßig redete. Und nun erzählte er, wie er schon als Kind die Kümmernis des Lebens kennenlernte; aus ganz kleinen Verhältnissen stammte er, als Knabe habe er Streichhölzer verkauft an Straßenecken; er selber habe früh die Pflicht gehabt, für die jüngeren Geschwister zu sorgen, aus denen dann aber auch später lauter tüchtige Leute geworden wären. Sein höchster Wunsch, wie er klein war, sei gewesen, sich einmal photographieren zu lassen: Er habe sich das Essen am Munde abgespart, bis er den halben Silbergroschen zusammen hatte; das kleine Jahrmarktsbildchen besitze er heute noch. – Zeigen Sie es mir, sagte Fräulein Nippe weich, es interessiert einen doch, die Wurzeln von dem zu kennen, was wir jetzt als Baumkrone vor uns sehen!

Halb in Dankbarkeit, halb noch in Nachsinnen verloren, begab er sich zu einem kleinen Eckschrank im äußersten Winkel des Zimmers, und zwar – hinkte Herr Feihse, so wie es ihm das Angemessene und Natürliche war. Fräulein Nippe sah erst voll Verwunderung seine Hüfte jenseits des großen Tisches, den er halb umkreiste, abwechselnd auftauchen und wieder verschwinden, dann machte sie ihrem Erstaunen in klaren Worten Luft. – Herr Feihse blieb im selben Augenblick stehen, errötete bis an die Haarwurzeln und sah aus wie ein ertappter ehrlicher Mensch, den der Hunger zwang, Brot zu stehlen.

Denken Sie nicht schlecht von mir! sagte er endlich, indem er zurückkam, denken Sie nicht, ich hätte es immer vor Ihnen verheimlichen wollen! Es war nur für den Anfang! Ich weiß ja nicht, ob ich sonst irgendwelche guten Eigenschaften habe, aber ich dachte mir: wenn sie gleich zu Anfang diese hier bemerkt, so ist es wahrscheinlich von vornherein verfehlt! Besser, sie lernt erst andere kennen. Wenn Sie aber daraufhin gehen wollen und nicht wiederkommen – dann gehen Sie! Es ist mir zwar schmerzlich, aber ich habe im Leben genug Püffe bekommen; einer mehr oder weniger schadet nichts! Fräulein Nippe hielt es für angemessen, zu betonen, daß sie auf Nichthinken keinen Wert lege: der Körper mag im Staube kriechen, wenn nur die Seele Flügel hat!

Sie konnte sich diese Worte leicht gestatten, denn ihr Vorsatz, Herrn Feihse nicht zu heiraten, verdichtete sich noch. Er aber faßte ihre Worte ganz anders auf, und nun trat das ein, was Fräulein Nippe visionär vorausgesehen: Er küßte ihr zwar nicht beide Hände, aber wenigstens doch eine. – Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen! Sie finden für alles einen so schönen und dichterischen Ausdruck! Dann setzte er hinzu, sein Schaden habe schon öfter bei einer Ehe, die er zu schließen gedachte, zu seinen Ungunsten den Ausschlag gegeben. Noch nie habe er eine Dame kennengelernt, die so vorurteilslos sei wie Fräulein Nippe. – Sie wollte entgegnen, aufklären, aber sie schwelgte so sehr in der Vorstellung, die er von ihr hatte, daß sie es nicht vermochte.

Sehen Sie, erzählte er, Sie würden nicht das geringste bemerken, wenn ich damals gut geheilt worden wäre! Aber lieber Gott, woher sollten meine armen Eltern das Geld nehmen! Auf dem Glatteis bin ich gefallen, damals in der Neujahrsnacht, wie ich als Knabe meine Streichhölzer verkaufte, zitternd vor Kälte, daß ich sowieso nicht fest auf meinen Beinen stand. Wenn da außerdem noch ein Betrunkener kommt und einen anrennt – ja ja, ich habe eine harte Schule durchgemacht! – Fräulein Nippe tat dieser Mann leid. Sie sah ihn teilnahmsvoll an und dachte: Heute kommt doch viel mehr Herz 'raus als damals auf der Bank! Man kann doch den Menschen niemals ansehen, was in ihnen steckt! Ein eigenartiger, interessanter Mensch ist er auf alle Fälle! – Und er erzählte weiter, wie er sich später vom Lehrling an in einem kleinen Seifengeschäfte langsam, langsam emporgearbeitet habe: Aber Unehrlichkeit, falsches Wesen duldete ich nie und nimmer! Dadurch habe ich die Menschen viel vor den Kopf gestoßen, dadurch habe ich meine besten Freunde verloren; ich verstehe nun mal nicht zu schmeicheln! Das haben Sie ja selbst auch schon bemerkt; ja ich tue noch viel bärbeißiger als ich bin. Es ist mir das ein Prüfstein für die Menschen! Aber die Menschen wollen nun einmal nicht die Wahrheit hören. So bin ich allmählich ganz vereinsamt. Sehen Sie, wie ich mich abends in meinen Mußestunden beschäftige! – Er hinkte, sich etwas zusammennehmend, auf das Eckschränkchen zu und brachte ein Schächtelchen zurück, das lauter kleine geschnitzte Knochengegenstände enthielt. – Das ist ein Geduldspiel! erläuterte er, und damit spiele ich jeden Abend, den Gott werden läßt, und freue mich wie ein Kind daran. Ich möchte ja so gern manchmal was anderes tun – Sie lächeln über meine Einfachheit! – zum Beispiel gern einmal ein gutes Buch lesen, aber wer nennt mir denn ein gutes Buch? Es fehlt mir die geistige Anregung! Und dann: wenn ich ein Buch lese, so möchte ich mich auch gern darüber aussprechen, andere Meinungen hören und aus ihnen lernen. Sehen Sie, so geht es mir! – O Bücher lese ich genug! sagte Fräulein Nippe lebhaft; was halten Sie zum Beispiel – nun, sagen wir mal: – Ach bitte! unterbrach sie Herr Feihse, fragen Sie mich nicht! Ich müßte mich wahrscheinlich vor Ihnen schämen! – Zum Beispiel – nun, sagen wir mal – Der Kampf um Rom! Den kennen Sie doch! – Er schüttelte den Kopf. – Nicht?! Aber Faust, das kennen Sie doch natürlich! – Wo der Teufel drin vorkommt? Ja, ich habe wenigstens davon gehört! – Oder – Hasemanns Töchter! Herr Feihse bewegte etwas ungeduldig den Kopf. – Aber jetzt passen Sie mal auf, jetzt nenne ich was ganz Leichtes, wenn Sie das nicht kennen... Herr Feihse war rot geworden und sagte erregt: Haben Sie mich denn nicht verstanden? Lassen Sie doch die Fragen! Was soll denn das eigentlich? Bin ich hier in einem Examen? Wollen Sie mit Ihren Kenntnissen prunken? – Unter anderen Umständen wäre Fräulein Nippe einfach aufgefahren. Aber sie hatte einen viel besseren Blitzableiter: Oho! dachte sie, ich lasse das Barometer einfach wieder sinken! und sie machte ein so eisiges Gesicht, wurde so einsilbig, daß Herr Feihse traurig, aber mit fester Stimme sagte: Ich sehe, wir passen nicht zueinander! – Und, wie das erstemal, lenkte Fräulein Nippe auch jetzt wieder ein. – Falls Sie noch einmal wiederkommen, sagte Herr Feihse zum Abschied, indem er sie still ansah, so bringen Sie mir doch mal so ein Buch mit! Ich bin dankbar, wenn ich von Ihnen lernen kann! Sie wollte antworten, daß es wohl besser wäre, sie sähen sich nicht wieder. Aber schließlich: wenn sie wiederkam, so verpflichtete sie das ja zu gar nichts! Und sie hätte so gern gehört, was er über Hasemanns Töchter dachte.

Sie kam auch wieder, sie lasen Hasemanns Töchter mit geteilten Rollen, sie fand Gelegenheit zu belehren, ihr überlegenes Wissen anzubringen, hinzudeuten auf Größeres: die echte Kunst sei noch etwas ganz anderes; dies hier sei so wie die kleinen Hügel am Gebirge, ehe die eigentlichen, die Riesen kämen: Shakespeare als die gewaltigste Zacke inmitten eines niedrigeren, aber immer noch erhabenen Getümmels. Und sie begann herzusagen, was sie noch von ihrer Desdemona wußte. Herr Feihse war entzückt und konnte nicht genug betonen, eine wie goldne Jugendlichkeit sie sich bewahrt habe, eine wie große Frische und Lebendigkeit des Interesses! Auch ihr sehe man es ja mit Deutlichkeit an, daß das Leben nicht liebevoll mit ihr verfuhr, aber sie habe sich den jugendlichen Kern keusch und rein bewahrt!

Er nahm nun leise einen andern Ton an, einen Ton, gemischt aus Verehrung und chevaleresker Höflichkeit und einem leise neckischen Elemente, das mit besonderer Prägnanz in seiner Anrede zutage trat: Fräulein Desdemona! so nannte er sie, erst nur scherzhaft und gelegentlich, bis sie ihn bat, sie doch immer so zu nennen. Sie lasen dann das Werk zusammen, und nun wollte er, daß sie ihn auch Othello nennen solle; aber sie erklärte, dies sei zu plump, und außerdem: Es wäre eine schlechte Vorbedeutung! Sie sah ihn halb kokett von der Seite an. In letzter Zeit hatte sie derartige Andeutungen öfter gemacht. Dann wieder, wenn er sich solche Andeutungen erlaubte, ging sie mit einem Gesichte, als verstände sie sie nicht, darüber hinweg, mit einem Ausdruck, als habe er eine Zweideutigkeit gesagt, die sie offiziell ignoriere. Herr Feihse wußte schließlich nicht, was er denken sollte. – Will sie mich nun oder will sie mich nicht? So fragte er sich oft, wenn sie ihn verlassen hatte. Kennengelernt hatten sie sich eigentlich genügend; und wenn sie ihn fragte: Er würde mit einem reinen und lauteren Ja antworten! – Oft nahm er sich vor, sie geradezu und ehrlich zu fragen, aber immer wich sie aus. Schließlich ertrug er dies nicht länger: Fräulein Desdemona – er zwang sich zu dieser scherzhaften Anrede – Fräulein Desdemona! Wir kennen uns nun schon lange genug und haben Vertrauen zueinander gewonnen! Ich wiederhole jetzt endlich die Frage, die ich schon einmal – damals auf der Bank im Parke – an Sie richtete: Wollen Sie die Meine werden? Ich werde Sie auf Händen tragen! – In diesem Augenblick zog Fräulein Nippe ein Tüchlein aus der Tasche, das sie zu einer kleinen Kugel zusammenpreßte und zum Munde führte, indem sie mit dem Ausdruck eines scheuen Rehes auf Herrn Feihse blickte, während ihr linker Arm anzudeuten schien, daß hier ihres Bleibens nicht sei. – Bleiben Sie, Fräulein Nippe, bleiben Sie! Sie haben nun genügend Zeit gehabt zur Überlegung, all die Wochen hindurch; Ihr Entschluß muß gefaßt sein! Bitte, jetzt ist es an Ihnen! – Fräulein Nippe streckte zagend ihr Tüchlein vor: Was soll ich tun – man drängt mich – man bestürmt mich. – Ich bestürme Sie nicht und ich bedränge Sie nicht! sagte er in einem so ruhigen, sachlichen Tone, daß ihre poetische Stimmung wieder zu verschwinden drohte. O schweigen Sie, o schweigen Sie! bat sie mit halblauter Stimme, überlassen Sie mich ganz der Wonne dieses Augenblickes! – Also Sie lieben mich?! Er tat einen Schritt vorwärts. Sie streckte abwehrend den Arm aus, er wollte ihn ergreifen, aber sie zog sich schnell in den äußersten Winkel des Zimmers zurück. – Lassen Sie mich, lassen Sie mich! Ich kann Ihnen jetzt unmöglich antworten! – Aber wann werden Sie mir denn endlich antworten? – In – in drei Tagen! Ehe die Mitternacht des dritten Tages anbricht, haben Sie meine Antwort! Dann zog sie sich zurück, mit einem stumm-beredten, rätselhaften Blick verschwand sie.

Herr Feihse blieb in der größten Erregung zurück. Er wußte nicht, wie er sich dies Benehmen deuten solle. Sie war doch äußerst interessant!


 << zurück weiter >>