Friedrich Huch
Pitt und Fox
Friedrich Huch

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Fox lebte nun fast wieder wie zuvor. Er mied die früheren Gläubiger und fand neue, von Arbeit war nicht viel die Rede, beinah nur in Briefen, die er nach Hause schrieb. Wieder begann sich das Unwetter über seinem Kopfe zusammenzuziehen; aber auch diesmal wurde er gerettet; durch ein an sich trauriges Ereignis: Frau Sintrup starb plötzlich und hinterließ die Verfügung, daß ihren Söhnen ein Teil des mütterlichen Vermögens, das sie einmal zu erwarten hatten, schon jetzt ausgezahlt würde. Herr Sintrup erzählte, seine Frau sei plötzlich am Schlaganfall gestorben. Die näheren Einzelheiten waren traurig: Eines Nachmittags, nach einem schweren Herrendiner, saß Frau Sintrup schlafend im Sofa. Nach kurzer Zeit erwachte sie, fühlte sich sehr flau und erinnerte sich, daß noch sehr viel Hummermayonnaise da sei. Die aß sie, ihr Appetit wurde angeregt, und sie erinnerte sich weiter, daß noch eine kleine halbe Marzipantorte da sei. Die aß sie auch, und jetzt wurde ihr fast nüchtern zumute. Es fiel ihr nun ein, daß heute gerade frisches Schwarzbrot gebacken wurde. Sie ließ sich einen kleinen Laib kommen, bestrich ihn dick mit Butter und verzehrte ihn ebenfalls, obgleich sie eigentlich fühlte, daß sie nicht mehr konnte. Dann kam der erste Schlaganfall, dem sehr bald ein zweiter folgte. Sie ahnte, daß es mit ihr zu Ende ging, und traf jene letztwillige Verfügung, über die Herr Sintrup unglücklich war, denn er sah nur Unheil für seine Söhne vor Augen.

Fox war aufrichtig betrübt, und als er später jenes Testament erfuhr, erschüttert über soviel Güte. Große Tränen traten ihm ins Auge. Zwar fuhr es ihm für einen Moment durch den Kopf, daß vielleicht gar nicht soviel Güte dabei war – er hätte das Geld ja später sowieso geerbt – aber er verbannte diesen Gedanken sofort und dachte: Nein, nein, dies ist wirklich groß! Es war ihre letzte große Handlung, mit der sie aus dem Leben schied! Und er feierte das Andenken seiner Mutter für sich allein, ganz allein, in einer Weinrestauration. Er ließ sich ein kleines Separatzimmer geben, bestellte eine Flasche Sekt und zwei Gläser, schloß dann die Tür ab, füllte beide Gläser, sah sie lange gedankenvoll an und sprach endlich: Auf dein Andenken, Mutter! Dann trank er sein Glas aus, wußte nicht, was nun mit dem anderen werden sollte, und trank es ebenfalls aus. Dann seufzte er tief und dachte: das ist nun alles, alles dahin! Welch eine Fülle von Liebe habe ich genossen! Wenn mich jetzt jemand hier sitzen sähe, ganz allein, den Sohn, der das Andenken seiner Mutter feiert, die ihn verlassen hat! Die Tränen traten ihm darüber in die Augen. – Ernst, ohne nach rechts und links zu sehen, kam er endlich wieder aus seinem Separatzimmer heraus, dessen Schlüssel nachdrücklich und schwer sich im Schlosse gedreht hatte, und die Kellner, die nichts von allem begriffen, sahen ihm nach, als wenn er verrückt geworden wäre.

An das Examen wurde nun überhaupt nicht mehr gedacht, Herr Sintrup war verzweifelt, aber Fox schrieb ihm ganz gelassen, es könne ihm doch ganz egal sein, was er tue, denn er lebe ja nun nicht mehr von seinem Gelde; er berief sich außerdem auf Pitt, der ja ebenfalls jetzt sein Leben genieße, seinen Referendar an den Nagel gehängt habe und auf Reisen gegangen sei.

Traurig und bekümmert war Herr Sintrup: was sollte nur aus seinen Söhnen werden! Und er selber arbeitete sich für diese Söhne ab, für nichts und wieder nichts! Er war doch auch noch nicht mit dem Leben fertig! Es regte sich in ihm eine Bitterkeit gegen das Schicksal. Seine Geschäftsreisen wurden häufiger und endeten immer häufiger mit ungeschäftlichen Abschlüssen. Sollte er am Ende noch einmal heiraten? Mausi hatte ihm selbst gesagt: Traure mir nur nicht nach, das hat gar keinen Zweck und ist kindisch. Der Mensch lebt und stirbt, und was liegt denn schließlich an einem Menschen? Ehe er da war, hat ja doch niemand an ihn gedacht, also was kann da so Besondres dran sein! – Ja, das hatte Mausi gesagt und ihn darauf hingewiesen, daß er ihr ja auch während ihres langen Zusammenlebens nicht immer treu war. Sollte er wieder heiraten? – Vorläufig nahm er eine Hausdame, und alsbald gingen die bedenklichsten Munkeleien über ihn und diese Dame um, die von auswärts kam, voll und beinah üppig, und deren musternde Augen mehr als Hausfrauentugenden spiegelten. Man begann sich leise von diesem Hause zurückzuziehen, und nur einige Junggesellenfreunde frequentierten es seither mehr, interessiert den neuen Zustand prüfend.

Fox erfuhr von diesen Dingen durch alte Schulfreunde, die es für ihre moralische Verpflichtung hielten, ihm alles mitzuteilen. Aber er berührte diese Fragen niemals, schon deshalb nicht, weil er jetzt so gut wie ganz außer Korrespondenz mit seinem Vater war, und dann: Männer haben Männern in solchen Dingen nicht dreinzureden.

Pitt war auf Reisen, Fox fand, er müsse auch Reisen machen. Aber während Pitt vernünftig Geld ausgab, berechnend, wie lange er mit ihm reichen werde, gab Fox es in unsinniger Weise aus, zumal er nicht allein reiste. Das Fräulein hatte erst gedacht, es käme mit, aber Fox setzte ihr auseinander, daß da noch andere warteten, und daß sie noch längst nicht an die Reihe käme. – Da sagte sie, sie könnte sich nur dann dazu verstehen, die Beziehungen mit ihm weiterzuführen, wenn es in der Zwischenzeit genau so wäre, als wenn Fox am Orte bliebe, das heißt, wenn sie ihre Unterstützung weiter von ihm empfinge. Das fand er selbstverständlich, nachdem er im ersten Gefühle dagegen opponieren wollte.

Nach ein paar Monaten war er schon wieder da: Die Menschen sind verschieden, sagte er zum Fräulein, mein Bruder gondelt weiter in der Welt herum; ich sage mir, zu Hause ist es doch am besten; man hat sein festes Heim und – also ich habe mich wirklich nach dir gesehnt – direkt nach dir gesehnt! So etwas im besten Sinne Anspruchsloses wie dich gibt es doch nicht wieder! Ich bin dir immer treu geblieben, seelisch treu geblieben, von Anfang bis zu Ende, wahrhaftig'n Gott! Jetzt leben wir aber mal schön fidel zusammen, was? Er faßte das Fräulein um die Taille und sie sagte: Drücke mich doch nicht so, Robert. – Von seinem Vornamen Fox wußte sie gar nichts.

Es bildete sich jetzt ein Kreis von Existenzen um ihn, der ihm schmeichelte und von ihm profitierte. Fox hielt lange Reden über Studium und Bildung, und wenn er fragte: ist das nicht glänzend, was? nickten jene mit eifrigen Worten und sahen dabei zerstreut auf die Likörflasche, auf den Wein, auf die Zigarren, denn ihr Interesse war durch Entbehrung noch viel mehr auf diese Genüsse gerichtet als bei Fox, der alles aus dem vollen nahm. Sie getrauten sich anfangs nicht immer wieder selbst von neuem zuzugreifen, verloren aber im Laufe der Zeit alle Schüchternheit, und den Übergang zu rücksichtslosem Sichaneignen bildeten sie, indem sie irgendeinen Satz mit augenscheinlicher Geisteskonzentration sagten und dabei wie in Zerstreutheit mit der Hand in die Luft langten, bis sie den ersehnten Gegenstand ergriffen fühlten. – Sie umgaben Fox wie ein Stab, und er sagte manchmal zu dem Fräulein: Wirklich, es kommt nicht darauf an, daß der Mensch bei Ministern verkehrt, den eigentlichen Adel, den Geistesadel, findet man auch anderwärts! Ich wundere mich, wo auf einmal so viele echte einfache Bescheidenheit herkommt in meinem Bekanntenkreise, so viel neidloses Anerkennen eines andern, der mehr bedeutet als sie selbst – ich meine mich damit.

Fox wurde allmählich ausgesogen. Man zehrte von seiner Freigebigkeit, ließ es nicht genug sein, von den Wirkungen seines Geldes zu leben, sondern bat ihn um direktes Geld. Er gab immer und bekam nie etwas zurück. Oft nahm er sich vor, nein zu sagen, aber er vermochte es nicht. Dies Gefühl, in die Westentasche zu greifen und dort vornehm mit dem losen Gold zu klimpern, es hervorzuholen, wie wenn es Pfennige wären und es von oben in eine ausgestreckte leere Hand zu legen, war zu angenehm, es war zu schön, zu denken, daß der andere dächte: Ja, der hat's gut, dem macht es nichts, ein paar Goldstücke weniger zu haben. – Immerhin konnte Fox sein gutes Leben mit diesem Gelde eine gute Weile weiter fristen, obgleich er sehr viel ausgab, aber dann begann die Zeit der Sorgen wieder. Er berechnete, wie lange er sich noch halten könne; dann erhielt Pitt einen Brief: Er habe gewiß Geld für seinen Bruder übrig, und wirklich schickte ihm Pitt eine größere Summe, obgleich er sich sagte, daß es dann mit seinem eigenen Wohlleben schneller zu Ende gehen werde. Aber er dachte: dies Geld würde vielleicht für ein halbes Jahr länger reichen, nehmen wir an, es läge schon in der Vergangenheit. – Fox hielt sich noch ein paar Monate, und dann begannen die früheren Jämmerlichkeiten wieder. Schulden hatte er schon längst wieder gemacht, zu einer Zeit noch, wo er alles hätte bar bezahlen können, und, so wie damals, begannen die Gläubiger jetzt sich zu regen, erst einzeln, dann immer mehr. Es gelang ihm, neue Anleihen zu machen, die er zum Teil dazu verwendete, alte zu begleichen. Schließlich brachte er in diese ganze Tätigkeit ein wohlüberlegtes System: Einer mußte immer den andern substituieren. Alle bildeten ein in sich geschlossenes Ganzes, das sich in sich selbst verschob, das leise hin und her schwankte, da Fox den Schwerpunkt bald hier-, bald dorthin verlegte. Aber allmählich brachen von dieser Scholle, auf der er selber trieb, einzelne Stücke ab, sie wurde kleiner und kleiner, man weigerte sich, ihm weiter zu borgen.

Was soll nun werden! dachte er nun öfter und öfter. Seinen Vater nochmals um Unterstützung anzugehen, erschien ihm zwecklos, zumal er nicht recht wußte, ob er mit ihm eigentlich gebrochen habe oder nicht. Waren die Gläubiger das erstemal schon zudringlich und dreist, so stürzten sie sich nun auf ihn wie losgelassene Hunde. Jeder wollte derjenige sein, der aus dem allgemeinen Ruin noch sein Teilchen Habe herausriß. Fox' Manipulationen wurden fieberhaft und sinnlos. Er schickte Blumensträuße, wie wenn seine Lieferanten Primadonnen wären. Stück für Stück verkaufte er von seinen Sachen, was nur irgend zu verkaufen war. Zuletzt wanderte seine goldene Uhr und sein Brillantring, das alte Familienerbstück, ins Versatzamt. Endlich entschloß er sich, doch an seinen Vater zu schreiben – das Schlimmste, was die Folge sein konnte, war eine Weigerung. Er bat um weitere Unterstützung für ein Jahr und um Begleichung seiner Schulden; dafür wollte er dann auch sicher das Examen machen und das Geld nur als geliehen betrachten. Herrn Sintrups Antwort war nur ein Wutschrei. Kaum kannte Fox diese wilde Handschrift wieder, die sonst stets denselben kaufmännischen kulanten Duktus führte. Wie Ohrfeigen klatschten ihm die Worte um den Kopf. Am Schluß des Briefes stand: Entweder ich stecke Dich als Lehrling in ein Geschäft in irgendeinem Orte, wo Dich und mich niemand kennt, und dann zahle ich Deine Schulden, oder Du bleibst, wo Du bist, gehst hin, wo Du magst, und dann will ich nie wieder das geringste von Dir hören.

Aus dem Gefühl der Zerschmetterung, das Fox zu Anfang ausschließlich beherrschte, löste sich allmählich eine tiefe Entrüstung heraus, die sich in seiner Antwort in eine kalte, höfliche Reserve umwechselte: Auf den Lehrjungenstand verzichte er, im übrigen erlaube er sich, über seine Pläne Stillschweigen zu bewahren, da er bei seinem Vater kein Interesse voraussetze und, selbst wenn solches bestände, sich nicht in der Lage sähe, es zu befriedigen. Diesen Brief schickte er eingeschrieben und nahm sich vor, eine etwa eintreffende Antwort uneröffnet zurückzuschicken. Er wollte seinem Vater schon zeigen, was ein stilvolles Benehmen ist! Aber es kam keine Antwort, und nun dachte er: Da steckt nur die Person dahinter, die jetzt im Hause ist! Ohne sie wäre der Alte ganz anders!

Was blieb nun übrig? Fliehen? Wohin? Wahnsinnig erschien ihm dieser Ausweg. – Aber – rief er plötzlich, liegt nicht auch im Wahnwitz oft ein Sinn, ein tiefer Sinn sogar, der sich nur nicht leicht enthüllt? Wenn ich jetzt fortgehe von hier, ist das wahnsinnig? Muß nicht irgend etwas erfolgen, wo ich auch bin? Und besser anderswo, wo man mich nicht kennt, als hier in dem verfluchten Neste! Es fiel ihm auch ein, daß in Romanen oft Wendepunkte eintreten, wo niemand weiß, wie es nun weiter geht, und wo dann doch etwas passiert. War das nicht im Grünen Heinrich so? Und er selbst war gar nicht einmal mehr grün! Aber er fühlte: Er stand an einem Wendepunkte seines Lebens, im Brennpunkte seiner Entwicklung, das Leben selbst packte ihn nun mit seinen Klauen. Seine «Bekenntnisse» wollte er später schreiben; war Rousseau nicht auch einmal Kellner gewesen oder so was? – Er wollte sich jedem Dienste unterwerfen, die härteste Arbeit übernehmen – immer schon mit der Gewißheit, daß ihn dann später das Leben um so glänzender entschädigen müsse.

Als das Fräulein ihn am Freitag besuchen wollte, war er nicht mehr da; seine Hauswirtin erzählte unter Tränen, wie sie am letzten Feiertag über Land gegangen sei, und als sie heimkam, war der saubere Herr mit Koffern und Habseligkeiten verschwunden. Sie habe sofort an seinen Vater einen Eilbrief geschrieben, aber Herr Sintrup habe geantwortet, sein Sohn sei mündig, und er selbst hafte für nichts mehr, was ihn beträfe. – Das Fräulein antwortete nicht viel und ging noch einmal in sein Wohnzimmer, um nachzusehen, ob er nichts zurückgelassen habe, was sie noch irgendwie gebrauchen könne, aber selbst die Likörflasche, die immer im Winkel neben dem Klaviere stand, selbst die hatte Fox nicht vergessen: Dick, leergetrunken stand sie da, und wie sie die Nase daran hielt, duftete ihr ein recht trauriger, abgestandener Geruch entgegen.


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