Friedrich Huch
Pitt und Fox
Friedrich Huch

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Zwölftes Kapitel

Fox sagte eines Tages, er habe einen Brief für Pitt: Du mußt entschuldigen, daß ich ihn geöffnet habe; er kam in die Redaktion, wurde für mich abgegeben, und da ist es nicht verwunderlich, wo ich jetzt sowieso Hunderte von Glückwünschen zu meiner Verlobung bekomme, die überall wie eine Bombe eingeschlagen hat: Geschäftsbriefe, Glückwünsche, Telegramme, Bettelbriefe – das fliegt nur so. – Ja, sagte Pitt, mit deiner Braut hast du einen schönen Erfolg gehabt! Fox nickte: Und herzig niedlich ist meine Braut doch, was? Und so neckisch! – Pitt reichte ihm die Hand und wollte gehen. Halt! rief Fox; seinen Brief vergißt dieser Mensch natürlich mitzunehmen! – und er gab ihn seinem Bruder.

Der Brief war von Elfriede, sie bat Pitt, zu ihr zu kommen. Ihm war wie im Traume, als er auf ihre Schriftzüge sah.

Mehrere Jahre hatten Pitt und Elfriede sich nicht gesehen. Wozu, wozu soll ich jetzt zu ihr gehen, dachte er, ich beunruhige sie und mich von neuem und scheitere abermals an mir selbst; ich habe mich nicht geändert, ich bin genau so wie ich immer war.

Elfriede hatte ihr Studium längst beendet; der letzte Winter war mit Konzertreisen hingegangen, ein Ziel, das ihr früher so hoch erschien, und das sie nun, wo sie es erreicht hatte, ernüchterte, enttäuschte, trotz der Erfolge, die sie hatte. Sie war nach Hause zurückgekehrt, auf unbestimmte Zeit, und Frau van Loo wollte sie so bald nicht wieder gehen lassen, die sie in der Mitte ihrer Ehe geboren habe, wo alles in ihr und um sie herum am wärmsten und glücklichsten gewesen sei. – Ich habe mich, sagte sie, zu deiner Überraschung malen lassen, denn wenn ich einmal tot bin, sollt ihr alle eine schöne Erinnerung an eure Mutter haben. Das Bild ist in der Ausstellung; es hängt da, wo immer soviel Menschen stehen!

Elfriede fand das Bild, und voll Stolz blickte sie auf die Gestalt ihrer Mutter in ihrem reichen, nachschleppenden Kleide, die so ganz bekannt und doch wieder fremd aus ihren schönen Augen auf sie niedersah.

Was wußte Elfriede eigentlich über das ganze Leben ihrer Mutter? War das alles wohl so einfach gewesen, wie es sich früher immer als selbstverständlich dachte? Hatte sie, die ihren Mann so früh verlor, die Liebe nie wieder kennengelernt? Sprachen diese Augen wirklich nur von einem einzigen Glück, das weit, weit zurücklag? – Nachdenklich schritt Elfriede durch die Säle, bis sie plötzlich stehen blieb, als habe sie ein Wort erstarrt: Vor ihr war Pitt Sintrup, sein Kopf, sein Bild, er schien nur sie zu sehen, seine Augen glommen ihr entgegen. Allmählich vermochte sie sich zu sammeln, sie blieb lange vor dem Bilde stehen. Wie ein Traum erschienen ihr die letzten Jahre, gleichgültig alles, was sie brachten, das Leben knüpfte wieder da an, wo es einmal aufgehört hatte. – Wo war Pitt Sintrup jetzt? – Am Nachmittage suchte sie ein Hotel auf. Man hatte ihr gesagt, daß die Künstlerin, deren Bilder zu einer kleinen Kollektion in einem der Ausstellungsräume vereinigt waren, für einige Tage hier am Orte weile.

Ein hohes, blondes Mädchen stand ihr entgegen. Elfriede nannte ihren Namen, Herta hob überrascht den Kopf und ihre Augen gingen so prüfend erstaunt über sie hin, daß Elfriede leicht errötete. Herta lächelte. Ich habe Sie so oft beschreiben hören, sagte sie mit ihrer klangvollen Stimme, aber ich habe Sie mir ganz, ganz anders vorgestellt. – Ja, sagte Elfriede, und ich komme um eben des Menschen willen, den Sie nannten – oder haben Sie ihn nicht genannt? – Nein, sagte Herta, aber ich dachte an ihn und wußte, daß Sie an ihn dachten. In plötzlicher Wärme berührte sie sie mit ihrer Hand, dann ließ sie Elfriede neben sich niedersetzen.

Es wurde Elfriede schwer zu beginnen. Sie wissen, sagte sie, daß ich mit Herrn Sintrup früher befreundet war? – Herta nickte und dachte im stillen: weshalb fragt sie mich nicht einfach, wo er sich jetzt aufhält und geht dann wieder? So würde ich es machen. – Und Sie wissen, daß wir dann für Jahre getrennt wurden? – Ich weiß alles. – Nun möchte ich wissen, wie es ihm seither ergangen ist, was er tut, ob er sich glücklich fühlt, und dieses alles, dachte ich, müßten Sie mir sagen können. – Und wie kommen Sie dazu, gerade mich danach zu fragen? – Weil ich sein Porträt von Ihnen sah, und weil ich mir sagte: jemand, der ihn so malen konnte, muß ihn ganz nahe kennen, muß ihm ganz nahestehen – oder gestanden haben. Herta wunderte sich über die Unbefangenheit, mit der Elfriede redete. Aber dies Zutrauen ging ihr warm ans Herz. – Sie haben recht, sagte sie, ich habe ihn nah gekannt, aber das Porträt liegt weit zurück, und wenn Sie etwas aus den letzten Jahren wissen wollen – da bin ich ebenso unwissend wie Sie. Mich hat das Leben längst weiter geführt. – Und früher? fragte Elfriede zögernd. – Früher?! – Ich will Ihnen alles sagen, begann sie mit einem plötzlichen Entschluß: Sie haben die Verbindung mit Pitt Sintrup verloren, Sie wollen ihn wieder zu sich gewinnen. Elfriede widersprach nicht, nur sah sie Herta mit einem Blick an, der dies alles bestätigte, und in dem doch die Bitte lag, nicht weiterzusprechen. – Ich will ganz offen gegen Sie sein, fuhr Herta fort, wir begegnen uns wahrscheinlich nicht wieder im Leben, und vielleicht helfen meine Worte, Ihnen Schlimmes zu ersparen. Ich kenne Pitt Sintrup genau, wir haben uns nahgestanden, wie nur zwei Menschen sich nahestehen können; ich kenne sein ganzes Leben, er hat es mir oft und oft erzählt. Ich wußte, was für ein haltloser Mensch er ist, und ich wollte diejenige sein, die ihm einen Halt gäbe; ich fühlte mich stark dazu. Es schien zu gelingen, es kam eine Zeit scheinbaren Glücks, dann ging alles langsam, Stück um Stück zugrunde. Mehr Kraft, als ich sie hatte, können Sie nicht haben, und ich bin nicht zum Ziel gekommen. Ich fühlte, daß ich selbst zugrunde gehen würde, wenn ich dies Leben mit ihm zusammen länger ertrug – und so trennte ich mich von ihm. Pitt Sintrup ist ein einsamer Mensch, er leidet unter seiner Einsamkeit, aber er ist nicht geschaffen zu einem dauernden Zusammenleben mit einem andern; eine Zeitlang hält er es aus, dann treibt es ihn wieder fort, Gott weiß in was für Nebel. – Elfriede sah vor sich hin; ein Stück ihrer eigenen Erinnerung war wach in ihr. – Und ist er jetzt noch hier? fragte sie nach einer Weile. Das wußte Herta nicht, doch setzte sie hinzu, vor einiger Zeit habe sie gehört, daß er jetzt Redakteur an einer Zeitschrift sei; sie nannte den Namen. Elfriede erhob sich; Herta sah sie nachdenklich an: Wollen Sie es wirklich versuchen, ihm wieder nahzukommen? – Elfriede antwortete nicht, aber ihr stummer Blick sagte alles.

Elfriede schrieb jenen Brief an Pitt. Frau van Loo zeigte keine Veränderung auf ihrem Gesicht, als sie es ihr erzählte. Sie schwieg einen Augenblick, dann sagte sie: Du mußt es wissen, welcher Verkehr dir frommt; damals warst du ein halbes Kind, jetzt bist du erwachsen. – Sie sah ihr in die Augen und dachte: Wann wird deine Sehnsucht endlich zur Ruhe kommen. – Sie ahnte vieles von Elfriedes Leben, sie hatte es Elfriede stets fühlen lassen, aber ausgesprochen wurde nie ein Wort.

Pitt kam; er hatte lange mit sich selbst gekämpft. Er trat in das Haus, das unverändert all die Zeit gestanden war, der Diener war immer noch derselbe, er begrüßte Pitt beinah wie einen Freund, während er damals, als Pitt noch im Hause verkehrte, stets steif und gemessen gewesen war.

Er trat in das große Zimmer, das ihm so vertraut war; nichts schien darin geändert, es war, als sei er gestern zum letzten Male hier gewesen. – Er mußte lange warten, endlich hörte er jenes dumpfe leise Rollen, das ihm so bekannt war, die Portiere schob sich langsam zurück, und Elfriede stand vor ihm, die graublauen Augen auf ihn gerichtet, unsicher, fragend. – Ihn durchflutete ein warmes, sanftes Gefühl. Elfriede! sagte er. Sie kam langsam auf ihn zu und hob die Hand, er ergriff sie, hielt sie unschlüssig und ließ sie wieder sinken. – Wie lange, lange sahen wir uns nicht! sagte Elfriede endlich. Er nickte traumverloren. – Seit jenem Sommer, draußen auf dem Gute. Dann schwiegen sie beide. – Und Ihre Mutter? fragte er endlich. Sie sah mit verschleiertem Blick zu ihm auf und fragte wie aus einer anderen Welt: Wessen Mutter? Meine Mutter? Pitt, nenne mich nicht Sie. Wir waren doch Freunde, und ich glaube, wir sind es noch – oder wieder.

So saßen sie sich nun gegenüber wie in alter Zeit, nur daß inzwischen Jahre vergangen waren; davon zeigten ihre beiden Gesichter Spuren. Sie sprachen mit halben Worten, und jeder sah in den Augen des andern, daß alle Worte unwichtig und gleichgültig waren, daß das Wichtige unausgesprochen blieb. Es drängte sie, ihm alles zu erzählen, ihr ganzes Leben, seit sie ihn verließ, aber sie vermochte es nicht. So saßen sie noch eine Zeitlang nebeneinander, und sie hielt seine Hand gefaßt. Endlich erhob er sich.

Kommst du wieder zu mir? fragte Elfriede und bemühte sich, ihren Worten einen leichteren Ton zu geben. – Er zögerte. Dann sagte er: Was hat es für einen Sinn, Elfriede? Das Leben hat uns auseinander gebracht; wenn es uns wieder zusammenführt, so bringt es uns nichts Gutes. – Glaube das nicht, sagte sie schnell. Ich bin nicht mehr so, wie ich damals war, ich kenne dich besser, als du denkst, ich komme mit keinen Forderungen an dich, sei wie du willst zu mir – du kannst mich nicht mehr enttäuschen, das alles ist vorbei. Es soll für dich wieder so werden, wie es früher war, als du zu uns kamst und dich nur freutest, daß du mit mir befreundet warst. Denn ich weiß ja doch: jene ganz frühe Zeit mit mir war die glücklichste deines Lebens. Und wenn ich dir nur wieder das sein kann, was ich dir damals war, so bin ich glücklich, denn du bist dann glücklicher, als wenn es gar niemand gibt, an den du mit einem Gefühl der Ruhe denken kannst, mit dem Gefühl: Dort ist ein Mensch, zu dem ich gehen darf, wann und wie ich will, bei dem ich mich ausruhen kann! Wenn du nur so denkst, Pitt, dann bin ich glücklich – ich sehe es dir ja an, daß du noch immer allein bist!

Er blickte schwankend auf sie. – Für mich ist es jetzt schon schwer, von dir fortzugehen, sagte er, aber ich bin kein träumender Junge mehr, ich habe in all den Jahren gelernt, meinem Gefühl zu mißtrauen; auf mir liegt kein Segen. – Komm wieder, Pitt! – Er sah ihr grübelnd in die Augen. Sie reichte ihm die Hand, er nahm sie. – Ich komme wieder! sagte er mit einem plötzlichen Entschluß.

Schon auf dem Nachhauseweg bereute er seine Worte. Was konnte die Zukunft bringen? Elfriede sollte nicht das Los treffen, das Herta vielleicht erreicht hätte, wenn sie nicht mit gesundem Instinkte alles von sich abschüttelte. Er kannte sich gut genug, zu wissen, daß niemand mit ihm glücklich werden konnte, da er mit niemand glücklich zu sein vermochte. Und doch: wenn er jetzt an Elfriede dachte, an die Freiheit, sie zu sehen, wie er wollte – sollte er sich diese Möglichkeit des Glückes abschneiden? War es nicht das Bescheidenste, was er sich fortnehmen wollte? Und hatte Elfriede nicht selbst klar den Zukunftsweg bezeichnet?


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