Friedrich Huch
Pitt und Fox
Friedrich Huch

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Hedwig war in ihr Zimmer zurückgekehrt. Die Hauptsache hatte sie vergessen zu sagen: Was für ein Unterschied war denn zwischen lieben und liebhaben? Hatte Elfriede nicht eigentlich eingestanden, daß sie diesen Pitt liebe? – Sie ging zu ihrer Mutter und teilte ihr das ganze Vorausgegangene mit. – Ich sehe nichts Gutes für Elfriede ab, wenn er noch lange hierbleibt, schloß sie; wir können ihn nicht eins, zwei, drei wieder fortschicken, das wäre gegen die Sitte und gegen alle Gastfreundschaft, aber ich halte es für das beste, daß er nicht länger bleibt, als unumgänglich nötig ist. Mag sein, daß Elfriede bis jetzt noch nicht in ihn verliebt ist – die Unterschiede sind übrigens zuweilen fast unkenntlich – aber die Gefahr scheint mir jetzt ganz nah. – Jedenfalls, sagte Frau van Loo, wird die «Gefahr», wie du es nennst, vergrößert, wenn jemand auf sie einredet, wenn man ihr die Möglichkeit vorhält. Und was diesen Pitt selbst betrifft, so wird – wie ich ihn auffasse – seine Neigung zu ihr niemals über die Grenze einer Freundschaft hinauskommen. Hedwig bestritt dieses und erinnerte an die Art, wie Pitt damals Elfriede kennenlernte; das sei doch eigentlich ein genügend deutlicher Fingerzeig. – Zwei Dinge, sagte Frau van Loo, können sich zum Verwechseln ähnlich sehen und doch etwas ganz Verschiedenes sein. Hedwig zuckte die Achseln und ging.

Pitt war inzwischen nach Hause gegangen und hatte über alles nachgedacht. Er ärgerte sich, daß er Elfriede hatte allein gehen lassen. Jetzt wußte er mit einem Male klar, was er bisher nur geahnt hatte: daß Elfriede ihn liebe. Dieses Bewußtsein erfüllte ihn mit einer stillen Freude; sein eigenes Gefühl zu ihr erschien ihm nun mit einem Male fest, sicher, klar. Zuweilen war er an sich selber irre geworden, wenn er darüber nachdachte, daß er eigentlich noch niemals irgendeine Angst um sie empfunden hatte, daß ihm ihr Dasein so selbstverständlich war wie sein eigenes, daß es Stunden gab, wo er sich ihres Daseins erst genau so erinnern mußte wie seines eigenen, das er mitunter ganz vergaß. Aber muß denn einer Liebe stets irgend etwas Bitteres, etwas Aufregendes und Zerrendes beigemischt sein? Er fühlte sich in seinem Zustand vollkommen wohl, und jetzt noch viel wohler, da er ihm gesichert schien.

Elfriede sprach mit ihm über das Vorgefallene, und während sie sprach, sah er sie mit einem so stillen Blicke an, daß sie verwirrt die Augen von ihm kehrte. Er ergriff ihre Hand und sagte: Wollen wir wegen einer solchen Dummheit diese schöne Zeit, die vielleicht nie wieder kommt, abbrechen? Diese Worte gingen ihr noch lange nach. Sie fühlte, daß zwischen ihm und ihr ein tieferes Einverständnis war als all die Zeit vorher.

Harald war nicht so ohne weiteres einverstanden mit dem neuen Leben, Hedwig gegenüber. Sie fing ihn ab, als er pfeifend an ihr vorüber wollte. Er kam mit geröteter Stirn zu Pitt und Elfriede, erzählte alles und sagte in dem Tone eines Bandenanführers: Irgend etwas muß gegen sie unternommen werden! Und als beide nicht mittun wollten, meinte er verwundert: was seht ihr denn so zufrieden aus? Ich finde dies furchtbar dumm. – Allein unternehme ich auch nichts gegen sie! fügte er nach einer Pause hinzu, wie eine Warnung, sich noch zu besinnen. Dann ging er enttäuscht hinaus. – Und nicht einmal die Komtesse darf ich sie mehr nennen, weil sie das herzlos findet. Ich möchte wissen, was daran herzlos ist.

Es folgten nun ruhigere Tage. Pitt und Elfriede waren fast stets zusammen. Sie schienen wie zwei gute Kameraden, Hedwig hätte alle ihre Worte hören können, ohne den geringsten Anlaß zu einem Tadel zu haben. Jenem ersten, unklaren Ausbruch in Elfriedes Gefühl schien kein zweiter zu folgen.

Nur nahm sie jetzt, wenn sie draußen zusammen gingen, zuweilen still seinen Arm, was er geschehen ließ, obgleich er es im Grunde nicht gerne mochte, da es ihn an Ehepaare erinnerte. Aber am Ende ihrer Unterhaltungen geschah es jedesmal, daß sie still und einsilbig wurde. Dann überkam ihn ein unbehagliches Gefühl und er redete von den abgelegensten Dingen, und sie ließ sich halb widerwillig in ein neues Gespräch ziehen, bis sie abermals verstummte. Endlich machte er sich unter irgendeinem Vorwande frei von ihrem Arm, da ihn dieses ganz nahe Beieinandergehen beengte, seine Schritte wurden immer schneller, und schließlich ging sie beinah hinter ihm. Ich möchte heute gern allein gehen! sagte er zuweilen. Dann antwortete sie nicht, aber in ihren Augen lag eine solche Traurigkeit, daß er hinzusetzte: Oder ich kann ja auch morgen einmal allein gehen. Dann gingen sie zusammen. Und wieder begann er zu sprechen, wieder antwortete sie ihm, aber es kam allmählich so, daß sie auch nicht einmal für kürzere Zeit ihre Gedanken sammeln konnte auf etwas, das nicht einen unmittelbaren Bezug auf ihn oder auf sie selber hatte.

Schon morgens, wenn sie ihn begrüßte, lag nun in ihren Augen ein Ausdruck, wie er sich bisher, in der allerletzten Zeit, erst allmählich im Lauf des Tages bildete, nachdem sie durch ihr selber oft ganz unbewußte Enttäuschungen hindurchgeschritten war. Im Beisein der anderen beherrschte sie sich instinktiv. Aber Frau van Loo bemerkte trotzdem ihren Wandel.

Der Ton der Unbefangenheit schwand mehr und mehr zwischen Pitt und Elfriede. – Was ist es nur? Was hat er nur? dachte sie, wie sie deutlich zu bemerken begann, daß er anfing, sie zu vermeiden. Und er wiederum dachte: Wie war Elfriede früher anders! Noch immer bildete er sich ein, er liebe sie, und daß sie die Liebe einmal anders auffaßte als er; und da er sie nicht kränken wollte, sondern wenigstens Versuche machen, ihr so zu begegnen wie sie ihm, kam zuweilen in sein Wesen eine Dissonanz, eine ungewollte Unehrlichkeit gegen sie und gegen sich selber. Er nahm ihre Hand und streichelte sie, Elfriede überließ sich für einen Augenblick ganz ihrem Gefühl und dachte: alles wird noch gut – worunter sie sich gar nichts Bestimmtes vorstellte – und dann ging er fort von ihr, indem er sagte, er müsse an seinen Vater schreiben; dies war das Traurigste, wenn sie dachte: Sein Vater? Was kann er denn seinem Vater schreiben wollen!?

Er fühlte es allmählich selbst, was er nicht fühlen wollte, und was doch mit immer stärkerer Deutlichkeit hervortrat: daß sein Gefühl zu Elfriede ganz anders war als Elfriedes zu ihm selbst. Und mitunter empfand er mit rücksichtsloser Klarheit, daß es das beste sei, wenn er nicht länger blieb. Später, wenn sie wieder in der Stadt war, würde Elfriede sicherlich den alten Ton zurückfinden. Oder sollte er doch bleiben? Konnte die Welle nicht auch ihn überfluten? – Die Ausflüsse solcher Stimmungen erschienen ihr rätselhaft. Plötzlich war er bei ihr, und plötzlich ging er wieder.

Warum stehst du jetzt so unendlich spät auf? fragte sie einmal, die schöne Zeit ist plötzlich vorbei, ohne daß wir es wissen! – Er log, er habe den Schlaf nötig, in den ersten Nachtstunden läge er stets wach. – Du auch?! fragte sie, und er bedauerte, dies gesagt zu haben. Sein wirklicher Grund war ein ganz anderer: er wollte den ganzen langen Tag abkürzen, die Vormittagsstunden schlief er nicht, sondern las im Bette. Immer später erschien er, einmal verspätete er sich sogar zum Mittagessen, so daß Frau van Loo, der es ganz lieb war, daß Elfriede den Vormittag auf sich allein angewiesen war, zu ihm sagte: Durch progressive Steigerungen können Sie es noch erreichen, Herr Pitt, daß Sie eines Morgens einmal wieder richtig zum Kaffee eintreffen.

Elfriede übte gleich nach dem Frühstück mehrere Stunden hintereinander; sie mußte sich nicht dazu zwingen, im Gegenteil: auf diese Weise täuschte sie sich am besten hinweg über die Zeit, wo das Haus ihr leer erschien, wo sie sonst ohne wirkliche Beschäftigung war, und voll innerer Unruhe nur immer auf alle Tritte horchte und zur Tür sah.

Harald und Hedwig befreundeten sich wieder. Elfriede bekümmerte sich nicht mehr wie sonst um ihn, und er mußte jemand haben, der sich mit ihm beschäftigte. Sie ritten zusammen, er bewunderte ihre gute Haltung, und die Eleganz, mit der sie über Gräben hinwegsetzte. Sein größter Ehrgeiz war es nun, von ihr ein Lob zu verdienen, das sie sehr spärlich austeilte; die geschnürte Taille, über die er anfangs so gespottet hatte, erschien ihm jetzt in anderem Lichte, ja «durchaus notwendig» für eine vornehme Reiterin, wie er sich bei Tisch ausdrückte. Die beiden kamen immer sehr frisch von ihren Ritten zurück. – Weshalb reitest du eigentlich niemals mit? fragte Frau van Loo Elfriede; du bist immer blaß und kommst zu wenig an die frische Luft; deine Übungen werden immer unerträglicher. – So sprach sie und dachte: lange sehe ich dieses nicht mehr mit an. Aber Elfriede fand stets Ausflüchte, bis ihre Mutter ihr eines Morgens stillschweigend ein Pferd satteln ließ; wohl oder übel mußte sie mitreiten, anfänglich ganz froh, dann immer stiller; und wie erst der Wald zwischen ihr und dem Gute lag, daß sie das Haus nirgends mehr finden konnte, faßte sie eine große Unruhe, sie blieb hinter Harald und Hedwig zurück und ward erst ruhiger, als das Schlößchen wieder in der Ferne vor ihren Blicken lag. Sie strengte ihre Augen an, sie zählte alle Fenster, ihr Blick blieb auf einem haften während der ganzen Zeit ihres Rückwegs. – Es greift mich zu sehr an, sagte sie, absteigend, zu ihrer Mutter, und fiel ihr fast in die Arme. Das erstemal, fügte sie, sich zusammennehmend, hinzu, ist es immer mehr eine Arbeit als ein Vergnügen; ich werde morgen wieder reiten! Aber sie ritt nicht wieder, sie saß wieder am Flügel, und wenn eine Tür ging, zuckte sie zusammen. Wenn sie allein war mit den andern, war sie stumm und gedrückt; trat Pitt ins Zimmer, ward sie lebhafter; als wäre es selbstverständlich, war sie stets an seiner Seite, sie antwortete nur halb dem, was er sagte, ihre Stimme hatte einen belegten, trockenen Klang. Und schließlich konnte sie auch nicht mehr üben; alles schien seinen Sinn verloren zu haben.

Leise näherte sich ihr Frau van Loo; aber wie sie nur das erste Wort sagte, fiel Elfriede erregt ein: es sei schrecklich, daß man nicht mehr eine Freundschaft haben dürfe, bis jetzt habe sie geglaubt, daß ihre Mutter wenigstens natürlich und einfach dächte, nun werde sie auch noch von Hedwig angesteckt! Ich muß es doch am besten wissen, was ich fühle! – Also ist es noch zu früh; dachte Frau van Loo und wartete. – Elfriede beherrschte sich die nächsten Tage, aber langsam, ohne daß sie das geringste dagegen tun konnte, kam es wieder über sie.

Sie vermied jetzt jede Berührung mit ihm; wenn er ihr morgens die Hand reichte, nahm sie sie nur flüchtig. Harald bemerkte Elfriedes Traurigkeit einmal, als er sie allein in einem Zimmer überraschte. – Habt ihr euch gezankt? fragte er Pitt: Elfriede ist so traurig. – Ja, sagte Pitt, sie ist traurig, und ich bin traurig darüber. Diese Worte kamen ihm ganz einfach über die Lippen, da Harald so warm und selbstverständlich sprach. – Harald teilte dies sofort Elfriede mit: Sei doch wieder gut mit ihm, Pitt ist so furchtbar traurig! Elfriede hielt mit Mühe die Tränen zurück. Aber Haralds Worte taten ihr wohl, und die Hoffnung kam in ihr Herz zurück. Als sie Pitt wiedersah, erwartete sie ein Wort von ihm über das, was er zu Harald gesagt hatte; aber es war, als habe er es nie gesprochen, oder schon wieder vergessen. In seinem Wesen schien kein innerer Zwang zu sein, nichts schien einem Gesetz zu folgen.

Dennoch wurde sie für kürzere Zeit heiterer, indem sie dachte: So weiß ich es doch wenigstens, wenn er es mir auch nicht selber sagt. Aber lange hielt diese Stimmung nicht an: ein kleines Wort von ihm genügte, sie von einem Gefühl ins andere zu werfen. Eine geringe Veränderung in seiner Miene machte sie traurig oder froher. Sie hatte Angst, wenn er zu Tisch kam, ob er sie zuerst ansehen oder ob er nur im allgemeinen Guten Tag wünschen würde; wenn geredet wurde und sie selber etwas sagte, sah sie hin zu ihm, ob der Klang ihrer Stimme irgendeine Veränderung auf seinen Zügen hervorrufe; wenn man vom Tische aufstand, beobachtete sie, wohin er seine Schritte wende, ob er gleichgültig irgendeinen Gegenstand anfaßte, oder ob er wie selbstverständlich zu ihr kommen würde. Gingen sie alle miteinander spazieren, suchte sie seine Gedanken zu ergründen, wenn er vorausschritt. Mit Mühe bezwang sie sich, aber gegen ihren Willen schritt sie schneller, bis sie an seiner Seite war. Wenn sie abends alle nach dem Tee zusammensaßen und Hedwig Geschichten von Bällen, Rennen und Gesellschaften erzählte, wenn überhaupt irgend jemand länger sprach, irrten ihre Gedanken sogleich ab, ihre Augen suchten seine Augen, ob sie sich nicht in ein heimliches Einverständnis mit ihr setzten, das über die Erzählungen hinweg sie und ihn in eine glückliche Stille führe – und wenn er dann endlich zu ihr herübersah, da er empfand, daß sie sich nach einem Zeichen von ihm sehne, dann ließ ihre Spannung etwas nach.

Pitt wurde dieser Zustand unerträglich. Es war ihm, als habe er seine Freiheit verloren, er begann fast einen Widerwillen gegen Elfriede zu empfinden. Ihr Wesen erschien ihm verzerrt und fremd, es drohte all seinen Schimmer für ihn zu verlieren.


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