Friedrich Huch
Pitt und Fox
Friedrich Huch

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Elfriede führte Pitt hinauf in sein Zimmer, das einfach und bequem eingerichtet war. – Hier wohnst du nun mit uns zusammen, eine lange schöne Zeit; und wenn dir irgend etwas fehlt, so mußt du es mir sagen! – Ja, sagte er und sah um sich. Elfriede blickte auf ihn, und ihre Worte gingen ihm erst jetzt voll ins Gefühl. – Du bist so gut! sagte er und legte leise den Arm um ihre Schulter. Sie ließ es geschehen. Sie traten zum Fenster und sahen in die Sternennacht hinaus. Aber dann fiel ihm ein Bild ein, auf dem auch zwei Menschen am Fenster standen und in den Nachthimmel sahen, das war ihm unbehaglich, und er nahm die Hand von ihrer Schulter. – Eine Sternschnuppe durchschnitt das Himmelsfeld. – Hast du dir etwas gewünscht? fragte Elfriede nach einer Weile. Er lachte und sagte, er habe gerade ausgerechnet, daß das Licht immer noch ungefähr dreitausendmal schneller liefe als diese Sternschnuppe. Sie fand ihn viel vernünftiger als sich, und als sie sich nun nach unten wandten, ließ sie sich von ihm das Wesen der Ärolithen erklären.

Harald erzählte bei Tisch, er habe sich in der Schule drei Tage krank gestellt, gar nichts gegessen, und erst am vierten, als man ihn entließ, auf dem Bahnhof alles nachgeholt. Frau van Loo redete von der Unerhörtheit seines Streiches, sagte dann aber: Da du einmal hier bist, magst du auch gleich dableiben, worauf Pitt zum erstenmal seine vergnügten spitzen Eckzähne zu sehen bekam.

Am nächsten Morgen erwachte Elfriede an einem altgewohnten Geräusch: Harald warf ihr kleine Steine in die Stube. Er wartete draußen, bis sie sich angekleidet hatte: Komm, ich zeige dir, wo ich gestern gegraben habe! Und unvermittelt fügte er hinzu: Was ist das für ein Mensch, dieser Herr Pitt oder wie er heißt? Wie ist der in unser Haus gekommen? – Was Elfriede antwortete, war ihm nicht genug; er bohrte und drängte und warf so scharfsinnige Bemerkungen und Einwände zwischen ihre ausweichenden Sätze, sah so traurig aus, als er sagte: Früher hast du doch nie ein Geheimnis vor mir gehabt! – daß sie ihm schließlich alles erzählte. – Nun hast du mich wohl nicht mehr ganz so lieb wie früher? – Sie sah ihn verwundert an. – Du liebst ihn doch natürlich. – Sie wurde ärgerlich und nannte ihn verrückt. Sie waren zum Gemüsegarten gekommen; er grub, sie mußte helfen, beide bekamen rote Backen und wollten sich gegenseitig überholen. Harald stieß den Spaten ins Erdreich, mit aller Kraft und aller Liebe, und sagte aufatmend: Danach habe ich mich immer gesehnt, daran habe ich immer gedacht, wie ich auf der Schulbank saß und hungerte; so eine Schaufel ist doch etwas Wundervolles! – Er umarmte sie, als wäre sie ein lebendes Wesen. – Aber zur See gehen ist doch noch viel, viel schöner! – Das Hündlein nahte in voller Karriere über den Kiesweg, warf sich ihm an die Brust, er fing es mit beiden Armen, es schnappte nach seinem Ohrläppchen, und er küßte es auf die Schnauze. – Wenn das die Komtesse sähe! – Mit der Komtesse war Hedwig gemeint. Er liebte sie immer noch nicht sonderlich, denn sie hatte ewig etwas an ihm auszusetzen.

Pitt erschien zum Frühstück, als die andern sich schon erheben wollten. Er schien nervös, war nachts von den unruhigsten Träumen geplagt worden und hatte wie im Fieber gelegen. – Das macht der Unterschied der Luft! sagte Elfriede, du wirst dich schon daran gewöhnen! – und reichte ihm noch einmal die Hand, da er sie das erstemal übersehen hatte.

Nach dem Frühstück ging er mit ihr und Harald durch die Felder. Er sah auf die sonnedurchleuchteten Wiesen und Hügel, die seinem Auge weh taten: Brutal, nackt war sie, diese sogenannte Natur, und er dachte: Das soll ich nun viele Wochen aushalten?

Aber die nächste Nacht schlief er schon etwas besser, und nach einiger Zeit hatte er sich so an alles gewöhnt, daß es nun die Häuser der Stadt waren, an die er mit Abneigung dachte. Allein freilich hätte er hier keinen einzigen Tag verbracht.

Harald war die erste Zeit sehr zufrieden. Seine Sorge, Elfriede möchte ihn nun weniger lieben, bestätigte sich nicht; er durfte überall dabei sein und gab seiner Freundschaft für Pitt und seiner Liebe zu Elfriede dadurch Ausdruck, daß er stets zwischen ihnen ging. Hedwig beteiligte sich zuweilen an diesen Spaziergängen, aber dann waren sie alle wortkarg und einsilbig. Gegen Hedwig hatten Pitt und Elfriede schon früher eine Art Bündnis geschlossen; wenigstens erzählte sie ihm alles, was zu Hause zwischen ihnen vorfiel und auf sie Bezug hatte, und freute sich, wenn er in ihr Urteil einstimmte; doch konnte sie es früher nicht leiden, wenn er selbständig etwas Schlechtes von ihr sagte; dann zählte sie alle Vorzüge ihrer Schwester auf, oder sagte auch geradezu, er möge stille sein, sie könne das nicht hören; er begriff sie nicht und sagte, sie wäre feige: Entweder man habe ein Urteil über einen Menschen, oder man habe es nicht; er selbst hätte eine ganz bestimmte Ansicht von seinem Vater, und wenn jemand dieselbe Ansicht äußere, dann stimme er ihr bei. – Das ist eben der Unterschied! sagte sie damals und ließ sich nicht beirren. – Jetzt wandelte sich dieses, wo alle Beziehungen so eng zueinander gerückt erschienen, wo jede Mißhelligkeit einen viel deutlicheren Ausdruck fand. Hedwig konnte es nicht lassen, jede ihrer kleinen Mißbilligungen zu äußern, die in Elfriedes Augen sofort in übertriebener Größe erschienen, da sie allmählich gewöhnt war, Pitt blindlings gegen jeden in Schutz zu nehmen und ihre Schwester von vornherein als voreingenommen zu betrachten. Pitt trafen ihre kleinen Spitzen nicht empfindlich; im Gegenteil, er empfand es als ganz lustig, sie zu parieren und dabei seine Schlagfertigkeit zu üben, die sich in der letzten Zeit im übrigen etwas abzustumpfen schien; auf den Spaziergängen mit Elfriede und Harald ließ er sich zuweilen gehen in grotesken Einfällen und Bildern. Auf Harald hatte dies die Wirkung, daß er nun selbständig gegen Hedwig vorging und sich übte, im Pittschen Sinne schlagfertig zu antworten. Schließlich machte er sich geradezu einen Sport aus diesen Dingen, und wenn er mit den beiden andern zusammen war, schien ihm das Ziel der Unterhaltung erst dann erreicht, wenn er die Rede auf Hedwig brachte.

Elfriede wünschte ihn zuweilen fort, sie wollte mit Pitt lieber allein sein; aber er war so unbefangen selbstverständlich und rückhaltlos, daß sie es ihm nicht sagen mochte, sondern lieber darauf wartete, ob sich die Gelegenheit nicht von selbst ergebe, wobei sie dann noch ein wenig nachhelfen konnte. – Einmal fand sie Pitt allein in der Laube sitzen, über einem dicken alten Buche, das er mitgenommen hatte. Die schreckliche Philosophie! sagte sie, die kannst du doch auch in der Stadt lesen! Und warf ihm, um ihn zu unterbrechen, eine Blume aufs Papier. Er ließ sich bewegen, mit ihr zu gehen; ganz heimlich ging sie mit ihm durch den Garten. – Sie glaubte sich und ihn schon gerettet, als Harald seitwärts heranlief: Die Komtesse! rief er, sie hat euch gesehen und will mit uns gehen, da das Wetter so schön sei; schnell, schnell, dann findet sie uns nicht! – So ist dieser Spaziergang wieder nichts geworden! dachte Elfriede, und beeilte sich nicht so, wie Harald wünschte. – Sie wandten sich zum Wasser hinab, das unten in der Tiefe, von Erlengebüschen umstanden, lag; Harald warf mit flachen Steinen über seine Oberfläche. Nach einer Weile aber duckte er sich, schlich in ein dichtes Strauchwerk und winkte den beiden andern heftig, nachzukommen. Dann deutete er mit dem Finger vorsichtig durch die Zweige. Oben auf dem dunklen Brachfelde, auf der Horizontlinie, stand Hedwig in ihrem schwarzen Kleide. – Wie sie geschnürt ist – wie eine Rübe! sagte er und versuchte Pitts Tonfall nachzuahmen. Und Elfriede fügte hinzu: Es geschieht ihr ganz recht, daß wir hier im Busch sitzen und lachen; wozu ist sie so abscheulich! – In ihrem Ton lag so viel Bitterkeit, daß Pitt sich wunderte. Hedwig stand noch eine kleine Weile oben, dann verschwand sie langsam. – Sofort trat Harald aus dem Gebüsch heraus und warf wieder mit seinen Steinen, Pitt wollte folgen, aber Elfriede sagte: Ich finde es so schön hier, bleibe doch sitzen! – So saßen sie nebeneinander in dem dichten Grün, Elfriede immer in der leisen Unruhe, er könne plötzlich doch aufstehen. – Was ist das eigentlich für ein Gebüsch, in dem wir sitzen? fragte er nach einer Weile. – Ach ich weiß es nicht! sagte sie, und in ihrer Stimme klang eine sonderbare Erregung; vielleicht ist es ein Weidenbusch – nein, es sind Haselnüsse. Dann schwiegen sie wieder. In ihr war eine Unruhe, daß sie plötzlich aufsprang: Ich glaube, ich möchte mit dir ringen! Er sah sie erst erstaunt, dann nachdenklich an, sie hielt diesen Blick verwirrt aus, dann strich sie ihr Haar aus der Stirne und sagte: Es ist hier so heiß und dumpf drinnen, ich halte es nicht aus – und trat ins Freie. – Was ist denn los? fragte Harald überrascht und blickte schnell hinter sich, ob da ein Tier säße, das er vorher nicht bemerkt hatte; – du sahst mich eben so merkwürdig an, als ob ich gar nicht da wäre! – Wir wollen nach Hause gehen, ich muß üben, meine Finger werden ganz steif! Sie dehnte sie auseinander, so stark, daß sie knackten. – Harald fand das langweilig. – Bleibt ihr beide doch unten! sagte sie und streifte Pitt mit einem Blick, ich finde den Weg auch allein. – Wirklich schritt sie allein den Pfad hinauf. – Nach einer Weile blieb sie stehen und schaute zurück. Unten gingen die beiden jetzt am Wasser entlang. Sie wartete immer, daß er sich nach ihr umsehen würde. – Weshalb hatte sie das gesagt! Weshalb war sie überhaupt so plötzlich weggegangen! Sie wandte sich wieder auf ihren Weg, ihre Schritte wurden schneller, schließlich begann sie zu laufen. – Frau van Loo trat ins Musikzimmer. – Elfriede, sagte sie, du spielst roh! Oder liegt es am Flügel? Wo ist denn Herr Pitt? – Der ist mit Harald spazierengegangen! antwortete sie mit frischer Stimme, ohne ihre Augen von den Tasten zu wenden – ich habe sie allein gelassen, weil ich Lust hatte zu üben. Und stählern fielen ihre Finger wieder in die Tasten. – Was spielst du da eigentlich? Es kommt mir so bekannt vor, aber so abscheulich verändert! – Ich mache einen Marsch daraus! Es klingt famos! Frau van Loo verließ das Zimmer wieder und Elfriedes Töne hallten weiter. Schließlich spielte sie fast mechanisch. Endlich sprang sie auf, holte ein Sonatenbuch und begann regelrecht zu üben. Und immer, wenn diese schwierige, sonderbare Passage kam, sah sie Geäst vor sich und hörte Pitts Stimme: Was ist dies eigentlich für ein Gebüsch? – Je mehr sie von dieser sinnlosen Verbindung sich frei machen wollte, um so fester hakte sie sich in sie hinein; es war fast blödsinnig.

Nach einer Weile wurde sie abermals gestört: Hedwig trat herein. – Ich möchte dir gerne etwas sagen. – Sie wartete, daß Elfriede ihr Spiel unterbrechen solle. – Sprich nur, ich höre schon. – Sie wartete wieder eine Zeitlang, dann kam sie auf den Flügel zu und schloß den Tastendeckel, daß Elfriede schnell die Hände wegzog. Beide sahen sich einen Augenblick an, fast wie zwei Feinde. – Elfriede stieß den Deckel wieder auf. Was willst du denn? – Was ich will? Kannst du dir das nicht denken? – Absolut nicht! sagte Elfriede gereizt und trotzig. – Dann will ich es dir sagen: Wenn das so fortgeht, so gebe ich dir mein Wort darauf, daß dieser Mensch schon in den nächsten Tagen das Gut verläßt. – Welcher Mensch? fragte Elfriede erregt. – Es handelt sich nur um den einen. – Also doch! Ich hatte gedacht, daß du etwas anständiger von jemand redest, der mein Freund ist und unser Gast! – Ich rede von den Menschen so, wie sie es verdienen. Dieser Herr Sintrup hat keine Art, sich beliebt zu machen, und wenn es noch das allein wäre! Aber er stiftet Unfrieden zwischen uns allen. Von seinem Benehmen gegen mich will ich gänzlich schweigen; es war niemals taktvoll; aber er hat auch andere Leute angesteckt. – Wer sind die andern Leute? – Du und Harald! Es ist ja, als wenn ihr ein Bündnis gegen mich geschlossen hättet; alles ergreift Partei gegen mich, nur weil ich die Wahrheit sage: Halboffene Seitenblicke, unterdrücktes Lächeln – denkt ihr denn, ich sehe das alles nicht? Ich tue nur, als ob ich nichts bemerke, weil ich eine bessere Lebensart habe als ihr. Ich bemühe mich, zu vertuschen, zu bemänteln, nicht aus Rücksicht auf euch, sondern aus Rücksicht auf unsere Mutter, der ich alles Unangenehme ersparen möchte, aber ihr werdet ja geradezu flegelhaft! Die Mißstimmung beim Frühstück heute morgen dachte ich zu überbrücken, indem ich mich euch beim Spazierengehen anschließen will: Harald sieht mich im Garten, kehrt vor mir um und läuft davon. Noch einmal nehme ich mich zusammen und folge euch zum Wasser hinunter; ihr versteckt euch wie Schulkinder vor mir, im Gebüsch, und macht eure Witze über mich. Und «Herr Pitt» ist der Anführer. – Das ist nicht wahr! rief Elfriede, Harald verkroch sich zuerst! – Um so schlimmer! Soweit habt ihr ihn schon gebracht in der kurzen Zeit. Harald war früher ein ganz anderer Mensch, zuweilen ungezogen, aber einfach und natürlich. Jetzt aber sucht er geradezu Streit mit mir, und in seinen Antworten ist ein Geist – wenn ich es überhaupt so nennen soll – der ihm ganz fremd ist. Gestern nenne ich ihn halb im Scherz einen «losen Vogel»; er will antworten, und ich sehe es seinem Gesichte an, daß ihm nichts einfällt. Jetzt, heute morgen, wirft er mir unversehens die Worte an den Kopf: Gefangene Vögel schelten immer auf die freien. Denkst du, ich weiß nicht, woher solche Antwort kommt? Will Harald aus sich selber witzig sein? Liegt das in seinem Charakter? Und noch dazu auf eine so alberne und abgeschmackte Weise witzig? Harald wiederholt sorglos das, was man ihm vorsagt. Er wird hier geradezu verdorben. – Pitt ist niemals albern oder abgeschmackt! rief Elfriede. – Das wundert mich nicht von dir zu hören, glaubst du denn, ich sähe nicht, wie du dich von ihm beeinflussen läßt? Ich rede eben nicht in bezug auf mich, sondern im allgemeinen. Du sagst Dinge, die du früher nie gesagt hättest, du bewunderst ihn blindlings, du findest seine Plattitüden interessant, du wirst ihm sogar in den Bewegungen ähnlich – sieh, wie du eben den Finger aufhebst, um mich zu unterbrechen! Ganz seine Art, ganz sein Benehmen. Er ist ein durch und durch uninteressanter Mensch, der seine Existenz wenigstens durch ein tadelloses Benehmen erträglich machen sollte. – Elfriede war blaß geworden und ihre Lippen zitterten. – Was du da sagst, rief sie, sagst du nur aus Neid. Du mißgönnst es mir, daß ich einen Menschen liebhabe, und daß er mich liebhat. Aber nun ist es genug; geh hinaus! – Elfriede hatte sich jäh zu ihr gewendet, und ihre Augen brannten. – Ich gehe, wenn ich die Lust dazu habe, ich bin hier so gut in meinem wie in deinem Hause. Merke dir, was ich gesagt habe, du bist nun gewarnt! – Sie schritt an ihr vorbei und schloß geräuschvoll die Tür hinter sich. – Sofort fielen Elfriedes Finger wieder in die Tasten. Hedwig sollte es empfinden, daß es ihr völlig gleichgültig war, was sie sagte. Und Pitt, der würde einfach lachen, wenn sie es ihm erzählte.


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