Friedrich Huch
Pitt und Fox
Friedrich Huch

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Siebentes Kapitel

Pitt blieb in seiner Stadt, Semester für Semester; er war mit keinen Mitteln zu bewegen, heimzufahren in den Ferien. Immer schrieb er, er müsse arbeiten, sich vorbereiten fürs Examen. Das machte er dann nie, Herr Sintrup wurde ungeduldig, aber seine Frau tröstete ihn: Pitt sei nun einmal ein Sonderling, ein Einsiedler, und schließlich sei es doch ganz egal, ob er überhaupt nicht käme, oder ob er da wäre und sich den ganzen Tag in seinem Zimmer einschlösse, so wie er es früher tat, wie er noch auf der Schule war. Ihr selbst sei es im Grunde einerlei, ob sie ihn sähe oder nicht, die Ferne könne ja doch ihren mütterlichen sowie Pitts Sohnesgefühlen nicht das geringste anhaben. So hätte Pitt mit seiner Familie so gut wie ganz außer Verbindung gelebt, wären nicht die Geschäftsreisen seines Vaters gewesen, die sich mit größerer Regelmäßigkeit zu wiederholen begannen.

Na, und deine Elfriede? fragte dann wohl Herr Sintrup aus einem ihm nahliegenden Gedankengang heraus, indem er sich behaglicher in den Sessel zurücklehnte und plötzlich die Barschaft seines Portemonnaies überzählte. – Es ist nicht meine Elfriede! pflegte dann Pitt zu antworten, worauf Herr Sintrup mit Regelmäßigkeit entgegnete: Schade, schade, Junge, du weißt dein Glück nicht anzupacken.

Pitt hatte Elfriede nicht vergessen; sein Gefühl für Lotte aber war ganz brüderlich geworden, in jener Zeit, wo sie das Kind erwartete; dann wurde es halbbrüderlich, und schließlich, als er sie einmal auf der Straße sah, in ihrem Hausfrauenhütchen, den Kinderwagen schiebend, dachte er: Sollte wohl ein Vetter so zu seiner Kusine empfinden oder zu deren Schwägerin? Daß er sie einmal liebte oder zu lieben glaubte, kam ihm jetzt sonderbar vor.

So war wieder eine Windstille um sein Herz herum, und nur am Horizonte leuchtete es, wenn er an vergangene Zeiten mit Elfriede dachte. Er bildete sich ein: Sie habe er geliebt, und sie sei ihm verloren. Dies Gefühl war süß und schmerzlich zu gleicher Zeit, er konnte sich ihm hingeben, ohne seine Gemütsruhe dabei zu verlieren. Aber eines Tages wurde er aus diesen dämmerigen Empfindungen herausgerissen.

Es war im Foyer eines Theaters. Er stand gedankenlos gegen eine Säule gelehnt, als er plötzlich Elfriede erkannte. Neben ihr stand ein junger Künstler, auf eine etwas fremdländische Weise sehr elegant gekleidet, und er sprach zu ihr mit einem Ausdruck selbstverständlicher Vertrautheit. Ihre Figur war frischer, voller als früher, alles an ihr schien zu leben, ihre Bewegungen waren sicherer, freier, selbstbewußter geworden. Sie lachte gerade, und ehe sie das Gesicht wieder auf ihren Begleiter hinwendete, blickte sie zufällig, ohne ihn bewußt zu sehen, zu Pitt hinüber, drehte auch gleich den Kopf von ihm zurück, wandte ihn aber im nächsten Momente wieder zu ihm, fragend, erstaunt. Pitt hielt sich unbeweglich, hatte jetzt aber selbst das Gesicht zur Seite gewendet. Er fühlte, daß sie auf ihn zukam. – Herr Sintrup! sagte sie halblaut und freundlich, sind Sie das wirklich? – Er löste sich aus seiner Stellung und sah mit starren Augen auf sie hin, indem er mechanisch die Hand ergriff, die sie ihm entgegenstreckte. – Wie mich das freut, Sie nach so langer Zeit wiederzusehen! hörte er sie sagen. Wie lange, lange ist es her! Mir kommt es wie ein ganzes Leben vor! – Mir nicht! antwortete er endlich. – Ihnen nicht? Haben Sie inzwischen so wenig erlebt? – Sie wartete gar nicht die Antwort auf ihre Frage ab: Und ich so viel, so viel! Das Leben ist so wundervoll! Jetzt bin ich einmal wieder für ein paar Wochen zu Hause, dann geht es zurück nach Paris, zum Studium. Wissen Sie noch, wie ich früher spielte? Das kommt mir jetzt so kindisch vor! Was habe ich damals für eine Ahnung von Musik gehabt! – Eine elektrische Glocke läutete, das Publikum strömte langsam in den Zuschauerraum zurück. Der junge Mann sah aus der Ferne etwas zu ihr herüber. – Ja, wiederholte sie, und ihre Worte wurden schneller, damals habe ich wie ein Kind gespielt – ich war ja auch noch ein halbes Kind. – Sie sah halb beunruhigt zurück auf ihren Begleiter. – Sie hatten doch auch einen Bruder, fragte sie weiter, der damals noch auf der Schule war? Der studiert nun auch wohl bald? – Der studiert schon lange! sagte Pitt. – So! ach, wie die Zeit hingeht! Sagen Sie, Herr Sintrup – wollen Sie uns nicht einmal wieder besuchen? Ihren Freund Harald sehen Sie allerdings nicht bei uns, der ist nun wirklich zur See gegangen! Und Hedwig hat letztes Jahr geheiratet. Aber ich bleibe noch ein paar Wochen; es würde uns freuen, Sie wiederzusehen! – Es läutete abermals. – Ich bin mit einem Freund zusammen, der auch wieder nach Paris zurückgeht, leben Sie wohl, und hoffentlich kommen Sie einmal wirklich! – Sie hielt ihm die Hand entgegen. – Adieu, Elfriede, sagte er. Sie sah ihn an, als kämen diese Worte aus einer fernen, halbvergessenen Welt an ihr Ohr, dann zeigte ihr Gesicht wieder den freundlichen Ausdruck wie zuvor, sie nickte ihm zu und ging zu ihrem Begleiter zurück, der einen kurzen, forschenden Blick auf Pitt geheftet hielt, aber sogleich höflich von ihm wegsah, als er seinen Augen begegnete. Mit einer fast formellen Bewegung ließ er ihr den Vortritt durch die Tür, aber sein Blick streifte in unbewußter, vertrauter Zärtlichkeit ihren Nacken.

Pitt verließ das Theater sofort; planlos ging er durch die Straßen, bis er sich mit einem Entschluß nach einer festen Richtung wandte und die Häuser der Stadt endlich hinter sich ließ. Er schritt dem Winde entgegen, auf der uralten Pappelallee; in den Baumwipfeln rauschte es, und die Stämme standen unverrückbar ruhig, unbeweglich. Einer nach dem andern glitt still an ihm vorbei. Die kalte Nachtluft schlug an seine Schläfen und beruhigte seine Gedanken. – Was sollte er im Haus der van Loo? Sollte sich jetzt ein kurzes, triviales, leeres Nachspiel ihrer Freundschaft wiederholen? Jetzt erst, so fühlte er, hatte er Elfriede ganz verloren. Ein ohnmächtiger Neid erfaßte ihn gegen den Menschen, der die Stelle einnahm, die er selber hätte einnehmen können. Er wollte Elfriede nicht wiedersehen; mit diesem Erlebnis mußte er jetzt ein für allemal abschließen. Aber was wurde nun mit ihm? Wohin würde ihn das Leben tragen? Dies graue Leben, das so schattenhaft gespenstisch war und so entsetzlich feste, wirkliche Formen hatte! – Er blieb aufatmend stehen und sah sich im Kreise um. Über ihm rauschten die Pappeln, und in seiner Brust fühlte er sein Herz klopfen, dieses ewig lebendige Ding, das unabhängig von seinem Willen den Rhythmus der Zeit angab, in der er selbst dahingetrieben wurde. Er bekam fast Angst vor diesem Klopfen, das er in der Stille der Nacht so deutlich fühlte, vor diesem Gestampf, das an rastlose Maschinenarbeit erinnerte, die nicht um ihrer selbst willen da war, sondern damit etwas entstehe. Fern flimmerten die Lichter der Stadt, von irgendwoher tönte der langgezogene Ruf einer Lokomotive durch das Blätterrauschen. Fast ohne zu wissen, was er tat, trat er langsam auf einen der Stämme zu, umarmte ihn und legte das Gesicht an die harte, kalte Rinde. Seine Gedanken zerlösten sich, und wie er endlich heimwärts schritt, sah er stets empor in die dunklen Baumwipfel, und es war, als rückten sie höher und höher in den Himmel, und als senkten sich die Sterne in ihr Laub hinein.

Am nächsten Morgen, als er erwachte, hatte er das Gefühl, als sei er letzte Nacht sehr sentimental gewesen, und dann war ihm, als sei das Ganze und alles, was vorausging, etwas, das er nicht selbst erlebt, sondern in irgendeinem Buch gelesen hätte; bis es ihm wieder klar wurde, daß alles wirklich in sein eigenes Leben eingriff, daß er selbst sich als Handelnder in der Welt bewegte. Sollte er doch zu Elfriede gehen, nur um etwas zu tun und nicht immer alles bloß als Erscheinung an sich vorbeigehen zu lassen?

Tage verstrichen, er rührte sich nicht. Dann traf er zufällig Elfriede mit ihrem Freunde auf der Straße. Sie wollten in den Park spazierengehen, und Elfriede fragte ihn, ob er keine Lust habe mitzukommen. Er wollte nein sagen, aber er sagte ja, und dann schritt er an ihrer Seite. Dort im Park setzten sie sich unter ein elegantes Zeltdach, ließen sich kleine Erfrischungen bringen, und die beiden machten sich darüber lustig, wie primitiv alles sei. Pitt sagte fast gar nichts, und Elfriedes Freund, der sich im stillen darüber wunderte, was für schwerfällige, ungesellschaftliche Menschen die Deutschen seien, führte die Unterhaltung, mit einem ausländischen Akzent, in ziemlich gebrochenem Deutsch; manchmal stockte er, sah Elfriede an, es kam plötzlich ein wunderschön gebauter eleganter französischer Satz heraus, und dann war es, als ob auf einmal ein ganz anderer Mensch hervorträte. Elfriede war zu Anfang sehr lebhaft und vergnügt, aber dann erschien sie auf Momente ganz zerstreut, Pitt fühlte, wie ihre Augen auf ihm ruhten mit einem stillen, fragenden Ausdruck, und er erwiderte ihren Blick mit einem melancholischen Lächeln. Auf dem Heimweg ging sie an seiner Seite, und am Ausgang des Parkes blieb sie plötzlich stehen und sagte auf französisch zu ihrem Freund: Gehe du nach Hause, ich komme nach; ich werde noch ein wenig mit Herrn Sintrup spazierengehen, ich habe ihn ja so lange nicht gesprochen! – Er schien etwas entgegnen zu wollen, aber sie sah ihn mit einem stummentschlossenen Blick an, ein Blick, den Pitt von früherer Zeit her kannte. Pitt sagte gar nichts, und erst, als Elfriedes Freund ihm abschiednehmend versicherte, es sei ihm eine besondere Freude gewesen, einen früheren Kameraden Elfriedes kennenzulernen, antwortete er ganz zerstreut: Jawohl.

Was er und Elfriede dann auf ihrem Weg zusammen redeten, wußte er später selbst nicht mehr; es waren fast lauter gleichgültige Dinge, aber als sie sich die Hand zum Abschied reichten, war Elfriede blaß. – Sehe ich Sie wieder? fragte Pitt. – Ich weiß es nicht! antwortete sie.

Er sah sie nicht wieder. Am übernächsten Tag schrieb sie ihm ganz kurz, sie habe sich entschlossen, mit ihrem Freund sofort nach Paris zurückzufahren.

Nun war es umgekehrt wie bei ihrer ersten Trennung. Diesmal war es Elfriede, die ihn verließ. Sie fühlte, daß Pitt nicht für sie der Vergangenheit angehörte und ahnte wohl, daß sie zurück in den früheren Strudel gerissen werden könnte, wenn sie sich ihm überließ. – Pitt empfand dieses sehr wohl, und jenes ohnmächtige Gefühl des Neides – das ihm selbst so antipathisch war – zerlöste sich. Aber nun war es trotzdem, als sei ein Tor, das früher halb geöffnet war, für einen Augenblick ganz geöffnet worden, und ehe er sich entschloß hineinzutreten, schlug es zu und ließ ihn draußen stehen. Früher, wenn er an Elfriede dachte, rechnete er immer mit dem Gedanken: Es hängt ja nur von mir ab, zu ihr zurückzugehen! Die Möglichkeit eines solchen Schrittes war beruhigend; er brauchte sie ja vielleicht nie zur Tat werden zu lassen. Wenn ich nun ein anderer Mensch wäre, dachte er, würde ich hier alles stehen und liegen lassen, hinter ihr herreisen und das Tor einschlagen – aber er fühlte, daß er nicht die Kraft dazu haben würde, und dann, wenn es wirklich bis zur äußersten Frage, zur letzten Entscheidung kommen sollte:

Wollte er denn überhaupt Elfriede haben, für das ganze Leben? Er fühlte sehr wohl, daß es sich für sie nun um ihr ganzes Lebensschicksal handeln würde. Hatte er überhaupt die Kraft und den Mut dazu? Fühlte er nicht bereits jetzt wieder, nur bei dem Gedanken etwas wie geheime Angst? – Ich bin ein schwächlicher Mensch! dachte er, ich glaube, ich bin keiner einzigen starken Empfindung fähig! – Dann wieder schien es ihm, als würde sich alles leicht und wie von selbst ergeben haben. Dieser Zwiespalt seiner Empfindungen trieb ihn herum und ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Hätte ich nur ein einziges Mal ein wirkliches, starkes Erlebnis! rief er oft, ein Erlebnis, das mich durch und durch rüttelt und mich von all dem Staube reinigt, der sich im Laufe meiner trägen, empfindungslosen Jahre auf mich gesetzt hat! Dann würde es sich ja zeigen, ob ich irgend etwas Starkes, Lebensfähiges in mir habe, oder ob ich nur ein Körper bin, dem alle Glieder gebrochen sind.

Er begann zu suchen. Er riß sich aus seiner toten Abgeschlossenheit heraus und trat in den Verkehr mit Menschen, mit Künstlern vor allem, da er das Gefühl hatte, in diesen Kreisen würde er am ehesten finden, was er suche.

Wieviel Kampf, Wärme und Zuversicht fand er plötzlich um sich herum, wieviel Mut und Kraft dem Leben gegenüber! Hatte er bisher blind gelebt, daß er von all dem keine Ahnung hatte? Alle dachten nur an zwei Dinge: An ihre Liebe und an ihre Aufgabe. Mit Neid sah Pitt solche Paare an. Jeder hatte Wärme und Interesse für die Hoffnungen, für die Ziele des andern: Es gab Gemeinsamkeit. Dies fühlte Pitt so deutlich, wenn sie um ein neu entstandenes Kunstwerk standen, das mehr von Hoffnungen sprach als von schon erreichten Zielen, und er empfand doppelt seine eigene innere Kälte, wenn er solche Versuche, in denen eine Kraft sich loszuringen strebte, mit den kühlen Augen des Kunstrichters betrachtete, der mehr das sieht, was geleistet ist, als das, was geleistet werden möchte. Er schämte sich seiner Worte, die einer so armen Lebenswurzel zu entspringen schienen, und bemühte sich wärmer, lebendiger zu empfinden.

Viel war er in Ateliers, auf kleineren Festlichkeiten der Maler und Malerinnen, eine Fülle neuer Gestalten begegnete ihm, fast gewaltsam suchte er sich einzelnen zu nähern und zerschellte doch bei den ersten Versuchen, da er selbst die innere Unnotwendigkeit empfand. Ein einziges Mal schien es, als solle er in ein neues Erlebnis hineingezogen werden, fühlte seine Seele eine größere Spannkraft. Aber sie ließ nach, wie er nicht das Mädchen selbst bekam, sondern nur ihr Bild, das sie ihm schenkte, und das ihm nun plötzlich wertvoller und schöner dünkte als das Original. Der Wunsch, sie selber zu besitzen, war vorüber.

Es vergingen wieder Wochen, er dachte kaum mehr an die Möglichkeit, in einen neuen Strom hineingezogen zu werden, bis er eines Tages von einem ganz starken Gefühl ergriffen ward, das ihn herumtrieb, halb glücklich und halb unglücklich. Es schien, als habe das Schicksal über ihn entschieden. Pfeifend stand er in seinem Zimmer, ergriff gedankenlos einen Gegenstand, ließ ihn wieder sinken und dachte: Was ist es nur, was habe ich nur? Ist es denn wirklich möglich?! Kann ein einziger Anblick, ein einziges Sehen über einen Menschen entscheiden?! Hatte er soviel Wirrnisse und Unklarheiten durchmachen müssen, um jetzt wie mit einem Schlage in das Licht zu treten? Wie anders war dies Mädchen als Elfriede! Rasch, stark in ihren Bewegungen und in ihrem Blick, klar und sicher in allem, was sie tat; ganz blond, ganz ebenmäßig, und ihr Haar viel glänzender, viel goldener als Elfriedes. Elfriede erschien mit ihr verglichen schwächlich, unbedeutend. Wenn die beiden sich einmal gegenüberständen! Herta hieß sie mit Vornamen, und es schien ihm, als könne diese kräftige nordische Gestalt gar nicht anders heißen! Morgen würde er sie wiedersehen, morgen wollte sie anfangen, ihn zu malen. Er konnte nur wenig schlafen vor Aufregung, bis er sie wiedersah, im hellsten Lichte des Ateliers, in ihrem langen, weißen Malkleid, das den schimmernden Hals, der den blonden Kopf so stolz trug, freiließ; keine Spur von Scheuheit, von Verhaltensein lag in ihrem großen, blauen Blick, es war, als kennten sie sich lange, als seien sie bis jetzt nur durch einen Zufall getrennt gewesen.


 << zurück weiter >>