Friedrich Huch
Pitt und Fox
Friedrich Huch

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Drittes Kapitel

Das Semester nahte seinem Ende, die Zeit des Abschiedes rückte heran, Elfriede wurde traurig. – Ich komme ja in ein paar Monaten wieder! meinte er. – Aber das ist doch furchtbar lange bis dahin! rief sie und sah ihn fast empört an über seinen Gleichmut.

Seit einiger Zeit nannten sie sich du. Pitt hatte sich nach jenem ersten noch ein zweites Mal versprochen, und Elfriede dachte: Wenn er es ein drittes Mal tut, so sage ich ihm, daß es nun kein Versprechen mehr sein soll. Hedwig fand diese Art des Verkehrs geschmacklos und nannte Elfriede undiszipliniert.

Du könntest doch für die Ferien mit uns aufs Gut gehen! – Dieser einfache Gedanke fiel ihr plötzlich ein. Er sah sie überrascht und hocherfreut an: Löste sich die Frage so, wie Elfriede vorschlug, so brauchte er das ganze Jahr mit der Existenz seiner Familie so gut wie gar nicht zu rechnen; denn nach den Ferien würde er mit den van Loos zurückgehen, und dann war wieder für ein halbes Jahr vorgesorgt.

Frau van Loo gab Elfriede nicht sofort die schnelle Antwort, die sie erwartete und Pitt gleich zu überbringen dachte, erst am übernächsten Tag rief sie Elfriede zu sich und sagte in beiläufigem und zärtlichem Ton zu ihr: Also sage ihm, daß er mitgehen darf, du dummes Mädchen.

Hedwig war, wie zu erwarten stand, nicht einverstanden mit diesem Plane: Freundschaften solle man in maßvollen Grenzen halten, nur dann könnten sie von Dauer sein. Du übersiehst – so sagte sie zu ihrer Mutter – was ich schon lange kommen sehe: Die Möglichkeit, ja die Wahrscheinlichkeit, daß sich Elfriede in diesen Menschen verliebt, sonst könntest du gar nicht so unbedachtsam handeln. – Hältst du mich eigentlich für dumm? war alles, was Frau van Loo ihr antwortete, in einem freundlichen Tone, der alles weitere abschnitt. Da sprach Hedwig mit Elfriede selber. Aber Elfriede antwortete nur, es sei eine Gemeinheit von Hedwig, zu behaupten, daß sie sich verliebe.

Pitt wußte von den ersten Unentschiedenheiten nichts und erfuhr nur die Tatsache. Aber da darüber Tage hingingen, ahnte er doch den Zusammenhang. – Er lächelte für sich, denn unwillkürlich dachte er all die Fragen nur in bezug auf sich selber und nicht auf Elfriede. – Wenn das Verlieben etwas so Stilles, Gemütliches war, wie er es selbst empfand, so lag wahrhaftig kein Grund vor, sich darüber aufzuregen. – Wenigstens soll er nicht mit uns fahren, sondern allein nachkommen! sagte Hedwig, ich finde dies stillos. – Aber Frau van Loo meinte, es sei kein Grund vorhanden, seine Existenz und seine Freundschaft zu der Familie zu verleugnen.

Am Morgen der Abfahrt erschien noch einmal Herr Könnecke bei Pitt, um sich zu verabschieden. Pitt hatte den größten Teil seiner Sachen zusammengepackt und in eine Ecke gestellt; da sollten sie bleiben, bis er wiederkäme. Auf diesem Haufen saß er, als Herr Könnecke eintrat. Der war gerührt, was Pitt mit Erstaunen sah. – Wir haben noch nie im Leben einen Zimmerherrn gehabt, aber wenn ich jetzt das Zimmer sehe, so mag ich es viel lieber als früher, und denke, Sie müßten nun immer drin wohnen. Sie haben so treu zu uns gehalten! – Worin das liegen sollte, wußte Pitt nicht, aber wie Herr Könnecke nun treuherzig seine Hand schüttelte, stieg in ihm eine unklare Empfindung auf von Ankergrund und Hafenruhe. Doch als Herr Könnecke ihn verlassen hatte, dachte er sogleich wieder: Ob ich wohl wirklich in dies Zimmer zurückgehe? Habe ich hier eigentlich nicht schon lange genug gewohnt?

Fräulein Nippe bedauerte, daß Pitt ging, und äußerte Befürchtungen, daß er ihre Pflege sehr vermissen werde. Aber Frau van Loo, sagte sie, ist eine gute Seele. Ich habe sie zwar nur ein paarmal in ihrer Equipage fahren sehen, aber man hat doch seine Menschenkenntnis. Und dazu diese fürstliche Erscheinung! Wenn auch nicht alles echt an ihr sein mag – lieber Gott, wenn man jung aussehen will und zum Beispiel graue Augenbrauen hat, färbt man sie doch, und wenn man den ganzen Tag nichts zu tun und Geld wie Heu hat, und nicht einmal seinen Körper pflegen will – Fräulein Nippe hätte keine ihrer Andeutungen auch nur mit dem Scheine eines Grundes bekräftigen können, aber auf den Gedanken wäre sie auch nie gekommen. Sie hatte noch etwas auf dem Herzen: Wie steht es denn jetzt mit Ihnen beiden? Ich meine diesmal aber das Fräulein! Hören Sie mal, sagte Pitt, der sich mühte seinen Handkoffer zu verschnallen, – Sie werden zudringlich. – Fräulein Nippe wich ein wenig gegen die Tür zurück, als fühle sie sich schon halb hinausgeworfen. – Herr Sintrup, meinte sie, Sie müssen sich Ihre Worte mehr überlegen! Ich verstehe Sie ja richtig, aber andere werden ihre Worte manchmal falsch auslegen. Sie wissen, daß ich nur Ihr Bestes will. Kann ich etwas dafür, daß Sie es ablehnten, als ich mich erbot, nachmittags oder abends, so oft Sie wollten, an der Musikschule zu warten und ihr ein Briefchen zu übermitteln, wo mich mein Weg sowieso dort in der Nähe vorbeiführt?

Als Pitt sich ein letztes Mal in dem Zimmer umsah, hatte er plötzlich das Gefühl, er werde es nie wiedersehen, als werde irgend etwas Drohendes eintreten, das fast hinter ihm stand. Im nächsten Augenblick lachte er über sich selbst.

Eine Stunde später saß er mit den andern in der Eisenbahn. Hedwig hatte einen spannenden Roman für die Fahrt mitgenommen und blickte selten von ihrem Buche auf, Frau van Loo lehnte den Kopf zurück und schlief auf öden Strecken, ließ sich aber von Elfriede aufwecken, wenn es etwas Schönes zu sehen gab, und dann schien es jedesmal, als habe sie überhaupt nicht geschlafen, sondern nur die Augen geschlossen, um sich Langweiliges zu ersparen.

Elfriede war während der Fahrt in schönster, zufriedener Stimmung. Was sie wollte, hatte sie erreicht: Pitt saß neben ihr; sie fühlte sich glücklich, wenn sie daran dachte, wie er jetzt da draußen innerlich aufleben und die Natur genießen würde. Und daß sie ihm dazu verhalf, das war das schönste. Leise redete sie mit ihm, was sie draußen alles tun würden, und wie sie sich auf alles freue. Sie beschrieb ihm genau die Lage des Gutes, und er hörte mit willigem Interesse zu, obgleich ihm ihre Schilderungen unbehaglich waren. Bei Beschreibungen von Gegenden konnte er nichts, gar nichts empfinden, im Grunde langweilten sie ihn nur. Während sie erzählte, sah er auf ihre Finger, und er konnte es nicht ändern, daß seine Gedanken allmählich abirrten. Wie fest, fein und gedrungen waren ihre Hände! Er verwunderte sich, wie sie jetzt so unbeweglich auf ihrem Knie lagen, daß sie die Kraft haben konnten, große und schwere Akkorde erklingen zu lassen; das paßte doch eigentlich gar nicht zu Elfriedes Wesen. Paßte die Musik überhaupt zu ihr? Er hatte ihr nie etwas darüber gesagt; zu Anfang ihrer Bekanntschaft bewunderte er ihre Kunst, da sie ihm neu war, und Elfriedens Wesen durch sie gehoben erschien. Aber je öfter er sie spielen hörte, je gewohnter ihm ihr Spiel wurde, um so mehr verlor es seinen Zauber, und jetzt fragte er sich, ob sie nicht ebensogut irgend etwas anderes hätte ergreifen können, was sie ebenso glücklich gemacht haben würde. – Was denkst du? fragte Elfriede endlich, da er nicht mehr antwortete und sie bemerkte, wie sein Blick so nachdenklich auf ihrer Hand ruhte. – Er errötete fast, wie wenn er ertappt wäre. Sie suchte den Sinn dieses Errötens still zu erraten, und als er sie nun anblickte, mit irgendeinem Verschweigen in den Augen, war ihr, als rinne ein geheimer, stiller Strom durch sie beide. – Frau van Loo erwachte von selber und fragte, wie es denn käme, daß sie durch Italien führen: das da ist doch eine Pinie! Hedwig sah von ihrem Buche auf und erklärte, es sei eine Kiefer, worauf Frau van Loo entgegnete, dann sähen in Italien die Pinien genau so aus wie hier die Kiefern. – Schlaf nur wieder! tönte Hedwig aus ihrer Ecke, wenn du das nächste Mal aufwachst, sind wir vielleicht schon in Batavia. – Ach wären wir doch wieder in Batavia! sagte Frau van Loo freundlich; hier in Deutschland friert man immer, und niemand sorgt für einen. Wenn ihr beide einmal verheiratet seid, gehe ich mit Harald zurück in die alte Heimat. – Aber Harald geht doch zur See! warf Elfriede ein. – Das ist ganz gleich; er kann dann auch manchmal ein bißchen zur See gehen. Harald ist der einzige, der mich lieb hat, ihr beiden andern mögt meinetwegen eure Männer lieben, Harald wird niemand lieben außer mir! Sie zog die Augenbrauen ein wenig in die Höhe und sandte einen zärtlichen Blick auf Elfriede; dann ging er, noch immer etwas zärtlich, aber vorsichtiger, zu Hedwig hinüber, die schon wieder in ihrem Buche las.

Ein elegantes, ländliches Gefährt erwartete sie an der Endstation. Friedrich, der Diener, verlud die Koffer auf einen bereitstehenden Stellwagen. So fuhren sie nun in das stille Land hinein. Frau van Loo sog die gute Luft ein und sagte, um sich blickend, sie habe sich zuvor geirrt: Deutschland sei doch das schönste Land der Erde. – Hedwig hatte ihren Roman eingepackt und erläuterte den Zusammenhang der Hügelketten mit dem weiteren Gebirge. Elfriede beschäftigte sich mit dem Hündlein, das, froh, seinem Zwinger entkommen zu sein, bald an dem einen, bald an dem andern emporzuspringen suchte.

Die Sonne war gesunken; weinfarben lag der Westen und verlor sich in ein immer tieferes Blau, das nach Osten zu sich bereits zu einem Dunkel verdichtete. Ein Fenster im fernen Dorfe blinkte rot. Unwillkürlich heftete sich Pitts Blick darauf. Elfriede folgte seinen Augen. Sie sahen es blasser werden, bis die Farbe ganz verlosch. Schatten zogen über ihre Köpfe, in leiser Bewegung schienen die grünen Erdwellen um sie her zu fluten. Der Himmelsrand hob und senkte sich; wie sie jetzt an einem kleinen, metallisch schimmernden Weiher vorüberfuhren, spiegelten sich in ihm die ersten Sterne. Vereinzelte kleine Häuser zogen an ihnen vorbei, inwendig erhellt von Öllampen, goldgelb im Blau des Abends. Dunklere Gestalten waren zu erkennen an Tellern und Schüsseln, im Kreis vereinigt zum Gebet, ein wachsamer Hofhund bellte dem Wagen nach, das Bellen verlor sich, man hörte nur noch das Knarren der Räder und die fernen Geräusche des Abends auf dem Lande.

Langsam, leise war Pitt in eine tiefe, melancholische Stimmung gekommen. Landschaften machten ihn stets traurig: er empfand in ihnen doppelt seine Einsamkeit. Der tiefe Abendfriede verstärkte dies Gefühl. – Mit seinem Verstande sagte er sich: Nach Jahren wird mir der heutige Abend als einer der glücklichsten meines Lebens erscheinen – ist es nicht töricht, erst in der Erinnerung zu genießen? – Elfriede fragte sich vergebens nach dem Grunde seiner Schweigsamkeit. Sieh dort unten! sagte sie endlich, unwillkürlich leise, indem sie sich auf ihrem Rücksitz etwas wandte. Der Weg senkte sich nach dort etwas herab; an den Köpfen der Pferde vorbei sah man auf einen niedrigen Tannenwald, hinter dem sich, in ungewisser Nähe, ein hohes helles Haus erhob, im kalten Schimmer der Nacht. – Wie lange meinen Sie wohl, daß wir noch brauchen, um bis zu ihm zu kommen? fragte Hedwig. – Fünf Minuten! sagte Pitt nach kurzer Abschätzung; wir brauchen doch nur durch den kleinen Wald hindurch und sind dann da. Wie er weiter in die Richtung blickte, schoben sich die Tannen höher, ihre Spitzen wuchsen zu dem Haus hinauf, es verschwand allmählich ganz, der Weg ging abwärts in die Tiefe. – Sind wir denn hier auf einem Berg? fragte er, während es ganz dunkel um ihn wurde. Allerdings! sagte Hedwig mit einer Art Genugtuung, Sie werden sich noch wundern. – Es ist doch gar kein Berg, sondern nur eine Hochebene! bemerkte Frau van Loo, aber Hedwig überhörte es. Der Wagen rüttelte weiter in die Tiefe. – Man kann auch, fuhr Frau van Loo fort, auf einem viel bequemeren Wege fahren, aber dieser hier ist schöner; er hat eine so angenehme Überraschung, die um so angenehmer ist, weil man sie schon kennt. – Allmählich erreichte der Wagen den tiefsten Grund, jetzt ließ er das Gehölz hinter sich und war im Tale. Pitt blickte um sich und suchte das Haus: da lag es ganz hoch oben auf einem neuen waldigen Hügel, so daß es, von hier gesehen, die ganze Gegend zu beherrschen schien. Jenseits hinter dem Tannenwalde, von wo sie kamen, ahnte man nichts von der tiefen Schlucht, die dazwischenlag.

Der Himmel glühte jetzt von Sternen, und wie ein lebendig gewordener Komet schoß und flatterte es weißlich hoch über dem Hause. Es war ein weißer Wimpel, dessen Stange man nicht sah. Wer mag ihn aufgezogen haben? fragte Elfriede; ich habe ihn doch selbst im Haus verwahrt, als wir das letztemal zur Stadt fuhren. – Sie sah scharf hinauf: Da oben bewegt sich noch etwas, aber etwas Schwarzes; manchmal sind die Sterne fort, und manchmal sind sie da! – In diesem Augenblick schoß dort oben ein schmaler Feuerstrom empor, zerteilte sich in Hunderten von goldnen Funken, die der Wind hierhin und dorthin entführte, so daß es schien, als schwärmten die Sterne durcheinander. Harald! sagte Elfriede überrascht, und dann rief sie durch ihre hohlen Hände seinen Namen hinauf, und gleich darauf trug die Luft einen wohlklingenden Laut zu ihr herunter, der halb wie eine Antwort und halb wie eine fröhliche Herausforderung klang. – Dieser Junge! sagte Frau van Loo, er sollte doch noch auf seiner Schule sein! – Der Wagen erreichte langsam die volle Höhe, im scharfen Trabe liefen die Pferde die Avenue hinab, die geradeswegs auf das Gebäude zuführte. Aus dem Tore schoß ein halbwüchsiger Knabe, umarmte erst Elfriede, dann seine Mutter, küßte Hedwig die Fingerspitzen und sah jetzt erst Pitt. – Wer ist denn das? fragte er sorglos; dann gab er ihm die Hand. – Elfriede! sagte Frau van Loo, als sie im Hause waren, führe den kleinen Herrn Pitt hinauf und zeige ihm sein Zimmer. – Das kann doch das Mädchen tun! sagte Hedwig, aber ihre Mutter meinte, die Tochter des Hauses könne das doch besser; sie möchte sich beeilen, da sie Hunger habe und das Essen sogleich angerichtet werde. – Sie drückte im Vorplatz auf alle elektrischen Knöpfe, die da waren, und wie alle Dienstboten des Hauses versammelt waren, ließ sie sich über jedes einzelne Bericht erstatten, gab Befehle und verkündete, sie werde sogleich, wenn sie sich umgezogen habe, einen Rundgang durch das Haus tun, um zu sehen, ob alles beim Rechten sei. Hedwig fügte hinzu, sie werde ebenfalls einen Rundgang machen.


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