Friedrich Huch
Pitt und Fox
Friedrich Huch

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Elftes Kapitel

Fox kam. Sogleich suchte er Pitt auf. Die Begrüßung der beiden Brüder war beinah herzlich. Ja ja, sagte Fox, das hast du dir wohl nicht träumen lassen, daß ich unserm Vater die Krallen gezeigt und mich ohne ihn durchgebracht habe! Ich habe das Leben kennengelernt, mich in seinen untersten und obersten Schichten bewegt, und ich kann wohl sagen: Nichts Menschliches blieb mir fremd! Aber keusch und rein ist meine Seele geblieben, ich habe mir eine naive Aufnahmefähigkeit für alle Eindrücke bewahrt, um die mich mancher Schriftsteller beneiden könnte. Nun sag' mal, worum handelt sich denn die Geschichte jetzt eigentlich, du hast dich ja darüber in so mystisches Schweigen gehüllt. – Pitt erzählte alles, und Fox war etwas enttäuscht, daß er eine Sache übernehmen sollte, von der Pitt zurücktrat. Als er dann aber die Geschichte von den Artikeln hörte, und welche Rolle sie früher spielten in der Frage, ob Pitt die geeignete Kraft sei, ging seine Miene über ein verblüfftes Erstaunen hinweg in eine Art Zufriedenheit über, und er sagte: Ich nehme dir das nachträglich absolut nicht übel, obgleich ich selbst wahrscheinlich anders gehandelt haben würde! Nach kurzem Nachdenken fügte er dann hinzu: Ach so, und als ich dich vor ein paar Wochen bat, jene letzten Artikel von mir zu veröffentlichen, da hast du wohl Angst gekriegt, ich könnte auch nach jenen andern fragen? Hast gedacht: Am Ende könnte nun alles 'rauskommen, lieber einen Fehler gutmachen als ihn noch vergrößern? – Pitt klärte alles auf und fügte hinzu, jene Artikel seien hinter seinem Rücken als seine eigenen ausgegeben worden, von Freunden, denen daran gelegen war, ihm jene Stellung zu verschaffen; durch Zufall habe er selber dies erst ganz vor kurzem erfahren. – Na na! sagte Fox gemütlich, also – jedenfalls: was geschehen ist, ist geschehen. – Pitt sah mit Freude, daß sein Bruder noch genau derselbe war wie früher. – Ja, und du, lieber Freund, fragte Fox jetzt, was willst du denn nun eigentlich anfangen? Pitt zuckte die Achseln. – Könntest du nicht als Unterredakteur dort weiter bleiben? – Hier zog Pitt seinen Mund in die Breite, sah seinen Bruder voll inniger und tiefer Freude an und sagte: Nein. – Das wäre aber doch sehr zu überlegen! Na, über deine Zukunftspläne können wir ja später mal zusammen reden. Hauptsache, daß ich erst einmal meine eigenen ins Reine bringe.

Pitt hatte in die letzten Nummern der Zeitschrift alles hineingehäuft, was er an kurzen Aufsätzen von seinem Bruder besaß. Dies kam Fox sehr zugute, denn Herr Heine wie Herr Wolf wehrten sich zunächst gegen einen abermaligen Redaktionswechsel. Aber Herr Wolf sagte: Wenn Herr Sintrup auch das Blatt wirklich schneidig in seinem Teil geleitet hat – dieser Bruder scheint doch noch ganz andere Fähigkeiten zu haben: Ich empfinde seinen Stil direkt als Zeitungsstil, und der andere hat überhaupt nie selbst die Feder gerührt für unser Blatt. Fox machte Besuche bei beiden Herren, und der günstige Eindruck verstärkte sich.

Fox war voll Lobes über Herrn Heine: Habe diesem Herrn mal tüchtig auf den Zahn gefühlt, muß sagen: Gediegene Bildung, hier und da hapert es, das ist nicht anders zu erwarten. Und die Tochter: Also wirklich ganz reizend. Zu Anfang war sie allerdings auffallend zurückhaltend, beinah tragisch, Gott weiß warum, aber dann – wirklich ganz reizend. Nur der Sohn, der hat gar nichts gesagt, mit dem scheint nicht viel los zu sein. – Auch mit Herrn Wolf war Fox zufrieden; der hatte – direkt achtungsvoll! – genickt, als er ihm auseinandersetzte, es müsse eine innere Harmonie, eine gleiche Weltanschauung herrschen zwischen dem Handelsteil und dem literarischen. Solche Einheit lasse sich finden, müsse sich finden lassen.

Mit der Monatswende erfolgte Pitts Austritt aus der Redaktion. Herr Bertold machte ehrlich betrübte Augen; er wußte, daß nun sein eigenes Regiment aufhörte, und für Pitt empfand er eine große Anhänglichkeit. Es begann für ihn ein schlimmes Leben. Fox behandelte ihn durchaus wie einen Untergebenen, fast wie ein Offizier seinen Burschen. Nach kurzer Zeit hatte er einen genauen Einblick in den äußeren Betrieb der Sache, der so klar und einfach war, und den Pitt niemals recht begriffen hatte. Auch die unteren Arbeiten erledigte er die ersten Wochen selber, da es gegen sein Prinzip verstieß, jemand unter sich arbeiten zu lassen, ohne einen genauen, scharfen Einblick in dessen Tätigkeit zu haben. Nach ein paar Wochen verlangte er eine Verlags- und Vorstandssitzung: Er sei jetzt mit seinem Urteil zur Reife gekommen und habe positive Vorschläge zu machen. Er entwickelte seine Gedanken über die Zeitschrift und ihren Inhalt, soweit die Literatur in Betracht kam; er habe vor, reinigend, beschneidend, ausrodend, neu pflanzend vorzugehen, junge Kräfte heranzuziehen, alte, abgebrauchte auszuscheiden. Es laufen, so schloß er, auf deutscher Erde eine Masse junger, unbekannter Genies herum, lassen Sie mich diese auffinden, durch Zirkulare, Prospekte, Aufforderungen, und ich garantiere Ihnen: in ein paar Jahren sind wir die erste literarische Zeitschrift Deutschlands. – Er zählte eine Reihe von jungen Namen auf, die ihm noch von früher im Gedächtnis waren, und fügte noch einige hinzu, die er im Augenblick erfand. Man freute sich über diese Zielbewußtheit, warnte aber vor allzu hoch gesteckten Hoffnungen, da ja der literarische Teil – leider – vorerst noch Nebensache war und bleiben mußte. Dies waren allgemeine, prinzipielle Vorschläge. Fox sprach auch von praktischen, einzelnen: Dies und jenes sei in andern Blättern besser arrangiert, besser eingeteilt, Voranzeigen müßten gemacht werden, einzelne Artikel seien durch Umschlagzettel hervorzuheben, die lateinische Druckschrift sähe er gern eingeführt – wobei er von Augenhygiene redete – und anderes mehr. Die Theaterkritiken werde er selbst übernehmen, er habe eine reiche Vorbildung, und der jetzige Kritiker gehöre in die Rumpelkammer.

So saß Fox nun – wie vorher Herr Bertold – schaltend und waltend in seiner Redaktion, und alle waren zufrieden. Er schrieb die Theaterkritiken wirklich, und eines Tages sah er seinen alten Freund, den Herrn von Sander, wieder, der ihn in der Redaktion besuchte. Man hatte ihm alle größeren Rollen weggenommen, und die Kritik war gegen ihn gehässig geworden. Er bat Fox, für ihn einzutreten, gemäß seinem Prospekte, auf dem er als höchstes Ziel in allen Kunst- und Rezensionsfragen die Forderung stellte: Rücksichtslos gegen alle Mode- und Zeitströmungen einzutreten für das als wahr Erkannte, ohne sich zu binden an hergebrachten Autoritätsglauben, gezüchtet durch Gewohnheit und gedankenlose Nachbeterei.

Fox versprach wohlwollend sein Bestes und hielt Herrn von Sander gleich einen kleinen Vortrag: Sie gehören einer alten Schule an, das werden Sie selber nicht bestreiten können; es ist kein Tadel, unsere Neuen und Neuesten täten gut, nicht so auf die Alten zu schimpfen, sondern von ihnen zu lernen, was von ihnen zu lernen ist. Das ist ja das Elend der heutigen Bühne: Es fehlt die Tradition! Das Alte und das Neue steht sich schroff gegenüber. Beide befehden sich, anstatt einen neuen Stil zu schaffen, gewachsen und genährt auf dem alten Boden, dem Mutterboden!

Fox schrieb seine Kritiken streng und scharf. – Es sollte mich gar nicht wundern, sagte er einmal zu Pitt, wenn so'n Kerl plötzlich in die Redaktion einbräche – na, vor meinem Blick haben die Menschen noch immer Angst gehabt; ich freue mich schon auf seine Verlegenheit, wenn der Kerl kommt, aber ich glaube, der Kerl kommt gar nicht! Wenige Menschen haben den Mut, wie ich ihn hatte. – Wann? fragte Pitt und freute sich auf eine erfundene Geschichte. – Damals, vor zwei Monaten, als ich den Kritiker ohrfeigte. Dieser Mensch erfrechte sich zu schreiben, ich habe als Don Juan den Champagner wohl schon vor der Vorstellung getrunken. Armer Kerl übrigens, der selbst den Champagner wahrscheinlich nur vom Hörensagen kennt. – Don Juan? das ist doch eine Oper! sagte Pitt. Fox sah ihn mit großen Augen an. – Ach so, ich vergaß, daß du nicht weißt, daß es auch ein Schauspiel gibt, von Grabbe. Übrigens gibt es noch verschiedene andere Don Juans, die es ebensogut hätten sein können; na – also das schrieb der Kerl; am nächsten Tage ging ich in die Redaktion, zog mir Glacéhandschuhe an, ließ mir den Kerl zeigen, streifte meine Manschetten etwas zurück und ohrfeigte den Kerl, einfach so aus dem Handgelenk, schräg von oben nach unten, denn der Kerl saß auf einem Stuhle; und dann ging ich wieder fort. Sag' mal, willst du nicht nach Hause fahren und dich da als Referendar anstellen lassen? Du hättest dann doch wenigstens etwas zu tun! Es wäre auch ganz gut, dort einmal unser Haus etwas zu regenerieren, es soll ziemlich schlimm stehen, du weißt, all die Hausdamen – wie ich höre, werden sie immer übler.

Eines Tages fand Fox unter den eingelaufenen Manuskripten ein Gedicht, unterzeichnet «Selma Feihse». Es besang die Sehnsucht einer jungen feurigen Seele, die das Liebesleben der Natur belauscht und, zurückgekehrt in die Welt der Menschen, wo es doch gerade so sein sollte, so einfach, selbstverständlich, nur Ablehnung erfährt.

Fox warf es nachlässig Herrn Bertold über den Tisch, damit der es returniere. Da fand er aber einen Begleitbrief, an ihn persönlich gerichtet, und nun erfuhr er, daß die Dame früher Selma Nippe hieß, «dieselbe Selma, die Ihnen in Freud und Leid treu zur Seite gestanden hat». Wenn er das Gedicht nicht akzeptiere, sei sie nicht beleidigt – sie stände über jeder Verletzlichkeit – aber sie erwarte dann, daß er ihr das Kind, das sie in Schmerzen geboren – wirkliche, lebendige Kinder seien ihr bis jetzt versagt geblieben – zurücklege an ihr Mutterherz. Ihr Mann werde sich aufrichtig freuen, ihn kennenzulernen; sie wohne längst nicht mehr bei ihrem Vetter und dessen Frau, jener Frau, die wie ein Dämon in Fox' Leben getreten sei und es fast in den Strudel der Alltäglichkeit hinabgezogen habe. – Dämon! dachte Fox, ja ja, wahrhaftig, sie hatte etwas Dämonisches! – Am Schluß ihres Briefes bat sie ihn, genau anzugeben, wann er käme, falls er dieses überhaupt wolle – und er, neugierig, was für ein Leben sie jetzt führe, folgte ihrem Wunsche. Hier schien sich ein Schicksal erfüllt zu haben, ein bescheidenes zwar, aber immerhin ein Schicksal. Jedes Schicksal hat was Großes: Im kleinsten Sandkorn spiegelt sich die Welt!

Etwas überrascht war er über die Veränderung, die mit Fräulein Nippe vorgegangen war: Sie trug jetzt durchaus fußfreie Kleidung und eine jugendlichere Frisur; eine Korallenkette hatte sie um den Hals, der noch immer frei war. Sie begrüßte ihn erst allein an der Tür, innig und herzlich, und sagte, nun solle er auch ihren Mann sehen: Erschrecken Sie nicht, ich bereite Sie darauf vor: jung und schön ist er nicht! Es fiel Fox auf, daß sie dieses alles in gedämpftem Tone sagte, daß sie ihn schon an der Tür empfing, als wenn etwa ein Schwerkranker in einem der Zimmer liege. – Kommen Sie, kommen Sie, junger Freund, sagte sie jetzt mit lauterer Stimme, indem sie ihn zur Stube zerrte, hier drinnen finden Sie alte liebe Menschen, die Ihnen nur wohlwollen!

Da war ein großer Kaffeetisch, da saß Lotte mit ahnungslosem Gesicht, neben ihr ein alter Herr, der einen Jungen auf dem Schoße hielt, gegenüber Herr Könnecke und Frau Bornemann, die soeben noch den Kuchen gelobt hatte. Alle blickten erstaunt auf Fox, Fräulein Nippe aber – oder jetzt Frau Feihse – weidete sich an ihrer Überraschung und rief: Habt euch lieb! Ach, ich konnte es ja nicht übers Herz bringen: Was auch die Vergangenheit über euch alle brachte – es ist ja doch begraben und vergessen, und die Stunde der Versöhnung hat geschlagen! Lotte, da ist dein alter Freund, von dem du den lieben süßen Jungen hast, Frau Bornemann, da ist der gute, junge Mann, der Ihnen als männlicher Beistand ratend zur Seite stand – Wilhelm, du hast mit ihm das Lager geteilt, als ihr zusammen wohntet – habt euch nun alle, alle lieb und laßt mich an eurem Glücke teilnehmen!

Fox war unwillkürlich einen Schritt zurückgetreten, Lotte, bestürzt in Scham und Überraschung, hatte das Gesicht zur Seite gekehrt, die andern saßen starr und blickten regungslos auf Fox. Der ergriff das Wort: Gnädige Frau, wandte er sich aus der Ferne an Lotte, es ist nicht meine Schuld, daß dies uns allen peinliche Zusammentreffen erfolgte, gestatten Sie, daß ich mich auf der Stelle wieder zurückziehe! Er wandte sich zum Gehen, mit einer formellen Verbeugung, aber Frau Feihse verschloß die Tür und zog den Schlüssel ab.

Der Kleine war von Herrn Feihses Schoß herabgesprungen, auf Fox zugegangen, sah ihn mit großen, etwas dreisten Augen an und fragte: Mama, wer ist der Onkel? – Hört, hört! rief Frau Feihse, die Stimme der Natur läßt sich nicht bändigen, sie bricht hervor mit elementarer Gewalt, wenn man ihr den Mund verstopfen will! Schämt euch, ihr Großen, und nehmt euch ein Beispiel an diesem unmündigen Kinde! Jetzt erhob sich Herr Könnecke, nach einem stummen Blickaustausch mit Lotte, wortlos, mit strengem Blick verlangte er von Frau Feihse den Schlüssel, und dann verließ er mit seiner Frau das Zimmer, während der Kleine hinterher lief und mit eigensinnig-lauter Stimme wiederholte: Ich habe gefragt, wer der Onkel ist!

Frau Bornemann hatte sich ebenfalls erhoben, aber ehe sie den andern folgte, trat sie dicht zu Fox heran und sagte: Da mich der Himmel noch einmal mit ihnen zusammengeführt, sollen Sie auch hören, was er mir für Sie aufgetragen hat: Sie gottloser Ehrabschneider – gehe in dich, suche den Weg des Heils! – Um irgend etwas zu tun, und gleichzeitig um dem Herrn Feihse, der peinlich erregt in seinem Stuhle saß, zu zeigen, daß er in allen Lebenslagen die Form zu wahren wisse, machte Fox ihr eine steife, ernsthafte Verbeugung; die kurzsichtige kleine Frau Bornemann wußte erst nicht recht, was dieses heißen solle, dann aber, halb noch erregt und halb schon wieder im Banne des täglichen Lebens mit seinen Anforderungen an gute Lebensart, erwiderte sie seinen Gruß durch einen etwas schüchtern-linkischen Knicks, worauf sie den übrigen nachging.


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