Friedrich Huch
Pitt und Fox
Friedrich Huch

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sie gab ihm einen «Freundschaftsring»; den hatte sie von dem ersparten Geld, das nun nicht mehr in die Konditorei wanderte, gekauft, ein armes silbernes Ding mit einem Vergißmeinnicht darin. Sie mußte irgend etwas für ihn tun, etwas für ihn opfern. Er wollte ihn erst nicht nehmen. Sie beteuerte nochmals, es sei ja nur ein «Freundschaftsring», und wenn er ihn nicht immer trüge, wäre es aus zwischen ihnen. – Aus zwischen uns! wiederholte er, das klingt so, als ob irgend etwas «zwischen uns» wäre! Ich sehe nichts, absolut nichts! – Es ist ja auch gar nichts zwischen uns, erklärte sie in ihrer Angst, aber du mußt ihn trotzdem tragen, ich schenke ihn dir doch so! O Gott, du quälst mich so, Pitt, du quälst mich so!

Pitts Gedanken liefen zurück in vergangene Zeiten, und eine gespenstige Stimmung kam über ihn. Diese Worte hatte er schon einmal gehört, es war, als ob das Leben sich schattenhaft wiederhole.

Er mußte ein Ende machen. Ich verreise morgen! – Für wie lange? – Das weiß ich noch nicht. – Er hatte die Absicht, ihr nach einigen Tagen zu schreiben, daß es das beste wäre, sie sähen sich nicht wieder. Sie sagte ihm gefaßt adieu, und wie sie so schlicht und zurückhaltend vor ihm stand, und doch so voll von Liebe, nahm er sie ein letztes Mal in seine Arme. Er fühlte, daß es jetzt keines Wortes mehr bedürfe, um sie sich ganz zu eigen zu machen, er fühlte, wenn er sie länger halten würde, ein Wanken seiner Festigkeit, und er machte sich los von ihr. Sie ging getröstet und dachte: Alles wird noch gut! – Wohin er wohl reisen würde? Sie war doch eigentlich sehr neugierig. Am nächsten Tage bezwang sie sich noch; aber am übernächsten fragte sie Fox danach. Sie habe gehört, erklärte sie, von einer Freundin, die einen Bruder habe, dessen Freund mit Pitt zusammen studiere, daß er verreist sei. Wohin er wohl gereist sei? – Fox sah sie mit runden Augen verständnislos an; dann sagte er, der Bruder von der Freundin wisse mehr als er selber; er sei Pitt noch heute morgen auf dem Gang in der Universität begegnet. Wenn er das nicht selbst gewesen wäre, müsse es wohl sein Geist gewesen sein. – Waren die Beziehungen zwischen Lotte und Pitt immer noch nicht aus?

Am selben Abend ging sie in Pitts Wohnung. Fast unvermittelt stand sie in seiner Tür. – Du bist noch da? fragte sie erstaunt. Schon wieder! log er mit schneller Geistesgegenwart. Sie wollte sich gerade darüber freuen, als ihr plötzlich alles, sie wußte selbst nicht wie, klar wurde. Sie war mehr gekränkt als empört. Als ob ich ein kleines Mädchen wäre! rief sie. Wenn du mich einmal ein paar Tage nicht sehen magst, so kannst du mir das doch ruhig sagen! Ich bin doch vernünftig genug, das zu verstehen! Aber so eine Komödie zu machen, dazu sind wir doch beide zu erwachsen! – Du hast recht, sagte Pitt, der sich über sich selbst ärgerte, aber ich fand es zu grausam, dir die Wahrheit geradezu ins Gesicht zu sagen! – Welche Wahrheit denn? fragte sie, indem ihr das Blut zu Herzen lief. – Mein Gott – daß ich dich nicht liebe. – Sie beherrschte sich mit Mühe. Aber ich liebe dich doch auch nicht – gar nicht, wir mögen uns doch nur sehr gern! Deshalb braucht man doch nicht gleich wegzureisen – oder vielmehr nicht wegzureisen – der Faden ihrer Gedanken schwand ihr einen Augenblick spurlos, bis sie ihn wieder hatte. Also du willst mich die nächste Zeit nicht sehen? – Doch. – Im nächsten Moment ärgerte er sich wieder über sich selbst. – Morgen? – Pitt seufzte. Wie oft hatte er das nun schon gehört, dieses kleine, halb hingeworfene Wort mit dem unsichtbaren Haken daran. Sie sah seine Miene und sagte schnell: Also ich sehe doch, daß du morgen nicht möchtest, weshalb sagst du denn nicht einfach: übermorgen! Ich bin doch keine Klette!

Ich muß den Verkehr mit ihr abbrechen, dachte er, als er allein war. Wie alles jetzt ist, ist es würdelos; ich quäle sie, dieser Verkehr ist eine ewige Hin- und Herzerrerei. Wenn ich es ihr sage, tut es keine Wirkung, weder auf sie noch auf mich; sie schlingt dann ihre Arme wieder um mich, und in dem Moment, wo ich sie so dicht an meinem Körper fühle, verwirren sich mir die Gedanken, und alles, was ich klar und sicher weiß, erscheint wie Unsinn; ich muß ihr alles schreiben, und zwar muß ich lügen und hart mit ihr sein, sonst ist alles, was ich schreibe, umsonst.

Als sie sich wiedersahen, überreichte er ihr einen Brief; sie möge ihn zu Hause lesen. Sein Inhalt war kurz und klar. In der Hauptsache sagte er ihr nur, sie habe sich von Anfang an getäuscht in ihm, und er wünsche, den Verkehr mit ihr abzubrechen. – Darauf war sie nicht gefaßt gewesen. Einen ganzen Tag lang weinte sie; Frau Bornemann versuchte sie zu trösten: Es werde schon alles noch gut; sie sei doch fleißig, das könne jeder mal passieren, daß sie im Französischen eine schlechte Note bekomme, sie solle den Kopf nicht hängen lassen, sondern ihn oben behalten wie der Vogel Kakadu.

Auf den Gedanken, Pitt zu antworten, kam sie gar nicht; alles war nun aus, einfach aus. Die nächsten Tage vergingen schwer, sie konnte sich nicht daran gewöhnen, daß nun alles vorbei war. Oft stand sie abends unten auf der Straße und sah zu seinem erleuchteten Fenster hinauf, und dann verzog sich ihre Miene wie bei einem Kinde, und ihre Tränen begannen wieder bitterlich zu fließen. Sein Stundenplan auf ihrem Herzen behielt noch eine Art selbständigen Lebens, das langsam verzuckte: Bald war sie hier, bald da, um Pitt zu sehen, doch vermied sie es auf das ängstlichste, daß er sie zu Gesicht bekam. Dann wollte sie ihn vergessen; aber sie konnte es nicht ändern, daß ihre nächtlichen Bilder sich weiter mit ihm beschäftigen; endlich wurden diese Bilder unpersönlicher, allgemeiner, und eines Nachts war sie sehr erstaunt, als sie aus ihrem Traum erwachend mit ausgebreiteten Armen in die Höhe fuhr und undeutlich einen Menschen vor sich sah, der mit Pitt auch nicht die geringste Ähnlichkeit mehr hatte. Wenn ich nur wüßte, wer es gewesen ist! dachte sie und nahm sich vor, im nächsten Traume ganz genau aufzupassen.

Eines Tages schrieb Pitt an Fox, er möge ihn abends besuchen, und zwar ohne Mantel und Schirm. Er hatte die Absicht, ihm jene von Frau Bornemann geliehenen Stücke um- und anzuhängen und ihn damit zu ihr zurückzuschicken. Fox sah in jenem Ansinnen nur eine der bekannten verrückten Marotten seines Bruders und nahm aus Opposition außer dem Mantel auch noch einen Schirm mit, obgleich der klarste Sternenhimmel war. Verständigt von dem Plane seines Bruders, weigerte er sich mit Entschiedenheit, die Sachen zurückzutragen; er könne sie durch einen Dienstmann schicken, den er ihm gern bezahlen wolle, wenn Pitt kein Geld habe. Und überhaupt: Fox spitzte plötzlich seinen Geist und sah Pitt mit fragenden und großen Augen an: Weshalb willst du denn die Sachen nicht selbst hinbringen? – Pitt antwortete nicht, sondern sah nur gleichmütig in die Lampe. – Aha! dahinter steckt was! Ihr seid also endlich auseinander, was? – Du kannst es so nennen, wenn du willst; sagte Pitt. Ich würde es nicht so nennen, denn wir waren ja nie zusammen. – Na, na, sagte Fox und lachte ungläubig und überlegen, mir brauchst du das nicht aufzubinden. Gut – fügte er nach einer Pause hinzu, gut, daß du dich besonnen hast, wenn es auch ein bißchen lange gedauert hat; wirklich, ich habe es von Anfang an nicht schön gefunden, ich habe es dir ja auch damals voll und ganz gesagt. Übrigens, du kannst vollkommen ruhig sein, ich schwatze nicht darüber, ich meine: die zu Hause brauchen nie was davon zu erfahren, dafür sind wir doch Brüder, was? Brüder sollen doch immer zusammenhalten, wie? Und seine «wie» und «was» rissen sich so schneidig von seinen Lippen, daß Pitt fragte: Bist du die letzte Zeit viel mit Offizieren zusammen gewesen? – Allerdings! sagte Fox mit einem unklaren Bedauern, daß dies wirklich der Wahrheit entsprach, und das dem noch unklaren Gefühl entsprang, man hätte aus dieser imponierenden Tatsache irgendwie zwei machen können, neben der ersten noch eine erfundene, denn die erfundenen imponierten ihm selbst noch mehr als die wirklichen. Weshalb frägst du denn das? – Da Pitt die Frage zu überhören schien, verbreitete er sich wieder über den ersten Gegenstand: Nun wisse er auch, weswegen Lotte die letzten Tage so verweinte Augen gehabt habe. Hm, hm, also so stehen die Tatsachen! setzte er nachdenklich hinzu. Na – leb wohl und mach' solche Dummheiten nicht wieder. Menschlich ist schließlich jeder mal, aber dafür gibt es dann auch Einrichtungen, die der Staat selbst sanktioniert hat. – Übrigens, setzte er nach einem Nachdenken abermals hinzu, ich könnte die Sachen doch am Ende mitnehmen, dann brauchst du nicht noch erst einen Brief zu schreiben; pack sie mir mal gehörig ein, schließlich: Bei Nacht sind alle Katzen grau. – Pitt tat es, und Fox entfernte sich mit dem Paket.

Er gab es Lotte persönlich in die Hände. Als sie die alten Sachen wiedersah, die ihr durch Pitt so gewohnt geworden waren, hielt sie mit Mühe die Tränen zurück. – Armes Kind! sagte Fox und sah sie bieder an. Da war es um ihre Fassung geschehen; ihre Tränen liefen ungehindert, sie wurden zum Schluchzen, als Fox väterlich und sanft den Arm um ihre Schulter legte. – Armes Kind! sagte er wiederum. Jaja, jaja!

In diesem wiederholten Ausrufen war mehreres zusammengeballt: Abgeklärtes Überschauen, vormundartiges Mitleid, allgemeines Bedauern menschlicher Schwächen, leise Bitterkeit gegen irgend jemand, und eine stille Resignation. – Wissen Sie denn alles? fragte sie, noch fassungslos. Er nickte langsam und gedankenschwer: Ich habe das alles kommen sehen, alles, alles! Aber ich dachte mir: Sie muß von selber dazu kommen. – Wozu denn? fragte sie verwirrt und ängstlich. – Na, um zu erkennen, daß das doch nichts war. Ich weiß doch, daß mein Bruder von einer richtigen Liebe keine Ahnung hat, ich kenne ihn doch genügend! Alles dieses wollte Fox eigentlich gar nicht sagen, aber die Worte kamen wie von selbst. – Ja, seufzte sie, das ist es, das fehlt ihm! Und ohne es zu wollen, nur im Drange nach dieser Liebe, die sie all die Zeit ersehnte, lehnte sie sich in seinen Arm, dachte nur an Pitt dabei, und dann fiel ihr ein, daß es ja sein Bruder war, der sie so hielt und tröstete, sein Bruder, der von demselben Fleisch und Blut war wie er, und unwillkürlich lehnte sie sich noch fester an ihn und bildete sich ein, er sei es selbst. – Armes Kind! sagte er wiederum, als sie stiller geworden war; dies Wort wirkte wie eine Formel, die ihre Tränen von neuem fließen ließen. – Sie muß sich ausweinen, ganz ausweinen! dachte er, und dabei war es doch nichts weiter als die Macht seines Wortes, die er genoß. Und dann sagte er wiederum: jaja, jaja! und nach einer Pause setzte er hinzu: jaja, jaja! – Ganz in Gedanken zählte sie diese vielen Jas, und plötzlich mußte sie lachen, ihre arme angespannte Seele suchte nach einem Ausweg aus all dem Schmerz. – Nanu? sagte Fox, was lachen Sie denn! – O nichts, antwortete sie, ich dachte nur gerade daran, wie ich Sie einmal borniert genannt habe. – Aber liebes Kind, Sie sind doch wirklich recht kindisch! Ich tröste Sie hier. – Ich weiß ja, ich weiß ja, entgegnete sie dankbar und eifrig, ich fühle ja, daß Sie es wirklich gut mit mir meinen, und daß Sie ein viel besseres Herz haben als Ihr Bruder! – Das wollte ich auch meinen! sagte er nachdrücklich, nahm ihr Taschentuch und trocknete ihr die Wangen; dabei sah er sie so gutherzig und ehrlich an, daß sie dachte: O wenn mich doch Pitt ein einziges Mal so angesehen hätte!

Fox drückte sie an sich und sagte gar nichts. Beide schwiegen eine Zeitlang, Fox drückte heftiger, wenngleich noch väterlich. – Ich muß jetzt gehen, zu Großmutter, sie wird sonst mißtrauisch! sagte Lotte endlich, machte sich leise frei von ihm und strich die Haare aus dem Gesichte. Er reichte ihr die Hand, sie nahm sie dankbar, und dann drückte er einen Kuß auf ihre Stirn. Ihr Blick ging scheu an ihm empor, halb abwehrend und halb wehrlos.

Als sie draußen war, dachte Fox über alles nach. Wie standen denn nun die Dinge? Jetzt gehörte doch Lotte eigentlich ihm, da war kein Zweifel – das heißt: das hing immer noch von ihm ab. Sollte er oder sollte er nicht? Ein wenig dämpfte sein Selbstgefühl die Überlegung, daß er im besten Falle nur ein Nachfolger seines Bruders sein könne. Aber immerhin: Er würde sich niemals Vorwürfe zu machen haben: Wenn er sich jetzt mit ihr einließ, so blieb die Schuld der ersten Verführung immer auf seinem Bruder haften. Außerdem: Wenn er sie jetzt nicht nahm, so nahm sie einen andern! Ein Mädchen, das von seinem Liebhaber verlassen wird, nimmt einen andern, aus Verzweiflung oder sonst was; das war ihm unumstößlich; und irgendeinem Menschen in die Hände zu fallen – dazu war diese Lotte denn doch zu gut! Wer weiß, was für schlimme Erfahrungen er ihr ersparte! Gerade jetzt, wo ihre erregte Leidenschaft blind auf Gott weiß wen losgehen würde! Er hatte geradezu die Pflicht, sie zu übernehmen, denn durch seine Schuld, durch die Kraft seiner Rede Pitt gegenüber war sie in diesen gefährlichen Zustand gekommen! Pitt war eigentlich ein Schafskopf, daß er dies famose Mädchen so ohne weiteres aufgab; das heißt, eigentlich war es ja sehr ehrenvoll von ihm, und es zeugte davon, wieviel Gewicht er den Worten seines Bruders beimaß. Aber die Resultate sehen eben manchmal doch anders aus, als man vorher berechnet. Einen Hauptfaktor hatte er übersehen: Die einmal erregte Leidenschaft! Aber wie gesagt, er wollte seiner Verantwortung jetzt nachkommen!

Alles kam so wie er wollte. Lotte war in ihrer Verlassenheit widerstandslos geworden, sie glaubte Fox tödlich zu beleidigen, roh und undankbar zu sein, wenn sie sich nicht von ihm in die Arme nehmen ließ, und bildete sich in ihrer Hilflosigkeit ein, ihn zu lieben; dazu kam noch eine Bitterkeit gegen Pitt, der, wie Fox immer wieder sagte, die Liebe gar nicht kannte und «schnöde mit ihr gespielt habe». – Und das, worum Pitt erst stumm gerungen, und worauf er dann verzichtete, nahm Fox mit einer Leichtigkeit, über die er selbst erstaunte. Ahnungslos, ohne die geringste Vorstellung ließ sie sich von ihm leiten, wohin er wollte. Erst hart an der Pforte in das unbekannte Gebiet wehrte sich ihr Instinkt mit einer irren, allgemeinen, heftigen Angst, und nun zeigte sich eine so bodenlose, groteske Unkenntnis ihrer Vorstellung, daß Fox verblüfft, verdutzt war, daß er sich dies nicht zusammenreimen konnte mit der Vergangenheit. Auf sein Fragen kam heraus, daß sie nichts, gar nichts wisse, daß sie niemals zu Pitt in Beziehung gestanden hatte, noch gestanden haben konnte, daß sie ein reines unberührtes Kind war. – Ach du großer Gott! sagte Fox, das habe ich allerdings nicht gewußt – wenn ich das gewußt hätte – aber sie flüsterte: Sage doch jetzt so etwas nicht – und bedeckte die Augen mit beiden Händen.

Diese Entdeckung ließ ihm seine Beziehungen zu Lotte nun in einem ganz andern Licht erscheinen. Zwar war er nun wissentlich in jenen Fall gekommen, den er seinem Bruder irrtümlicherweise vorwarf, aber hierüber half ihm die Erwägung hinweg, daß – wie er sich schon vorher sagte – ein anderer zugriff, wenn er dies nicht selber tat. Im übrigen kam er sich nun seinem Bruder vollkommen überlegen vor, ja triumphierend über ihn. Daß er etwas hingenommen hatte, was Pitt verschmähte – diese Vorstellung lag vollkommen außer seinem Gesichtskreise; er hielt sich nur an die Tatsache, daß er dieses Mädchen hatte, und daß Pitt es nicht gehabt habe.


 << zurück weiter >>