Friedrich Huch
Pitt und Fox
Friedrich Huch

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Lotte überstand den Schritt aus der Kindheit heraus ohne große Erschütterungen. Sie wunderte sich nur, daß alles so schön sei und gar nicht so entsetzlich, wie ihre unklaren, phantastischen Vorstellungen es ihr früher hatten erscheinen lassen. – Wußtest du denn wirklich nichts, gar nichts? fragte Fox einmal. Sie schüttelte den Kopf: Großmutter hat mir nur einmal den Faust erzählt. – Kennt denn den deine Großmutter? – Nein, gelesen hat sie ihn nicht, aber sie weiß, was drin vorkommt. Und dann sprach sie immer so, daß ich Angst bekam, von Höllenpfuhl und Lotterbett, o Gott, wenn sie Lotterbett sagte, dachte ich immer an einen betrunkenen Esel mit hölzernen Beinen, ich weiß selber nicht warum.

Oft dachte Lotte noch an Pitt; aber sie verdrängte diese Gedanken, aus Pflichtgefühl gegen Fox. Manchmal dachte sie: Warum wohl Pitt nie so zu mir war wie er? Ob er wohl auch gar nichts gewußt hat?! – Sie wurde nun wieder frisch und heiter; sie wollte das alte Leben wieder anfangen, mit Fox ausgehen, und zwar in die Konditorei. – Da bin ich mit Pitt auch immer gewesen! gab sie als Erklärung an. Aber darauf ließ er sich nicht ein. Das wäre außerdem wie eine Nachahmung gewesen.

Nur mit Großmutter zusammen unternehmen wir etwas! – Und Großmutter ging mit in Theater, Konzerte, Restaurationen. Sie hätte nie gedacht, daß sie noch zu einem solchen Glücke kommen würde. Manchmal meinte sie, es würde doch ein bißchen teuer, aber Fox sagte, darüber brauche sie sich keine Sorgen zu machen. Seinem Vater käme es nicht drauf an, monatlich ein paar Mark mehr zu schicken, der verliere überhaupt kein Wort darüber. Und ohne Geld sei einmal nichts zu haben auf der Welt, – worauf die beiden letzten Hauptworte sie veranlaßten, mit dem Kopf zu nicken und zu sagen: Jaja, Geld regiert die Welt, und wer keine Schuhe hat zu kaufen, der muß auf bloßen Socken laufen.

Frau Bornemann merkte von der neuen Veränderung nicht das geringste. In ihrer Gegenwart nahm sich Lotte sehr zusammen, und Fox kostete es keine besondere Mühe, sich zusammenzunehmen, da sein Benehmen gegen Lotte, auch wenn sie allein waren, keine große Zärtlichkeit verriet, wenngleich es immer wohlwollend und freundschaftlich blieb. Zuweilen, wenn sie alle drei in der guten Stube saßen und Frau Bornemann einmal aufstand, um ihre Brille zu holen oder eine Näharbeit, spitzte Lotte die Lippen zu ihm herüber, oder sie erwischte auch seine Hand und drückte einen schnellen Kuß darauf, war dann aber gar nicht böse, wenn ihr sein Handrücken etwas derbe gegen die Lippen schlug, während sie ein schulmeisterlicher Blick aus seinen Augen traf und sein Körper götzenhaft und unbeweglich blieb. Fox hatte soviel Selbsterziehung!

So lebten sie wochenlang zusammen, und dies Zusammenleben erhielt durch Fox eine Regel, einen Modus. Er setzte Lotte, die das nicht begriff und dumm fand, auseinander, daß das Leben solcher Regeln bedürfe, daß sie beide ihre Arbeiten viel besser erledigten, wenn sie ihr gemeinsames Wochenprogramm hätten, das ein für allemal feststände, und nach dem sich jeder richte; für ihn selbst sei dies nicht einmal so wichtig, für sie jedoch geradezu unentbehrlich. Sie sei eine haltlose Natur, die Regel und Einteilung nötig habe. – Ihr kam das so ledern und ausgedacht vor, aber in der Folge fand sie wirklich, daß er recht habe. Sie erledigte ihre Tagesgeschäfte nun mit viel mehr Ruhe, ja, die Lust zur Arbeit kehrte ihr zurück. Sie konnte wieder länger stillsitzen, sie sprang nicht mehr plötzlich von ihren Büchern auf, ohne zu wissen warum, so wie früher, als sie noch mit Pitt zusammen war.

Sie fragte Fox zuweilen nach seinen Zukunftsplänen. Er ließ bedeutende Hintergründe vor ihr aufsteigen, setzte ihr auseinander, daß theoretisch nichts im Wege stände, daß er einmal Minister werde – er entwickelte ihr die Stufenleiter ganz einfach und plausibel – und dann schwieg sie andachtsvoll und drückte nur ganz leise seine Hand, indem sie das Gold der Zukunft auch über sich selbst dahinrauschen fühlte. Aber niemals sprach sie ein Wort darüber aus; das wäre ihr fast taktlos und roh erschienen; es war ja selbstverständlich, daß sie sein Glück teilte, daß er sie später heiratete. Freilich dauerte das lange, aber sie konnten ja warten, und bis dahin war und blieb sie Lehrerin. Der Gedanke erschien ihr gar nicht mehr so schlimm wie früher, im Gegenteil, sie wollte recht fest arbeiten, um später nicht eine dumme Frau zu sein, sondern eine, die sich, wenn auch bescheiden, an seiner Seite sehen lassen dürfte. Er bestärkte sie in ihren Plänen, den Beruf betreffend, und sagte, es sei für sie dringend notwendig, daß sie etwas Festes habe, woran sie sich halten könne; ein gebildetes Mädchen mit einem Beruf sei in der Welt viel angesehener als eines, das nur gelernt habe zu kochen und Strümpfe zu stopfen: Näh mir doch mal einen Schlips! – Sie war glücklich, etwas für ihn tun zu können, suchte mit ihm zusammen den Stoff aus, nähte ihn so schön und kunstvoll, wie sie vermochte, und eines Tages konnte Fox im Kreise seiner Bekannten erklären: Hat mir meine Kleine gemacht! – So hatte er einmal einen jungen Architekten reden hören, was ihm großen Eindruck machte.

Fox war mit seinem Leben sehr zufrieden. Die staatlichen Einrichtungen, von denen er früher zu Pitt gesprochen, hatte er selber geprüft, aber jetzt fand er doch, daß dabei, wie er es ausdrückte, die Seele eigentlich nicht auf ihre Rechnung gekommen wäre. Und doch machte er sich zuweilen Sorge um die Zukunft, da er sehr wohl fühlte, wie stark Lotte auf ihn baute. Sollte er diese Gefühle immer fester werden lassen? War es nicht seine Pflicht, Lotte allmählich auf sich selbst zu stellen, nachdem er sie für ihren Beruf gefestigt und gestärkt hatte?

Lotte ahnte von diesen Gedanken nicht das geringste; ihre Liebe machte kleine Enttäuschungen durch, ihre starke Gläubigkeit ließ sie alle überwinden. Manchmal störte Fox das Wochenprogramm, überging die Festtage, kam gar nicht heim, ließ sie vergeblich warten. Auch entdeckte sie eines Tages in seinem Schreibtisch die Kabinettphotographie einer feurigen junonischen Dame, und mit blauer Tinte und etwas zügelloser Schrift standen die Worte darunter: Ihrem Fox, Adelaide. Diese Photographie hatte er früher einmal als er Lotte noch nicht so nah kannte, selbst gekauft und die Worte eigenhändig, mit verstellter Handschrift, darunter geschrieben; er hielt sie verschlossen und hatte sie nur aufgestellt, wenn Freunde kamen, und damit erreicht, was er wollte: Denn bald war es herumgekommen, daß er eine pompöse Geliebte besitze. – Lotte beunruhigte es sehr, als sie sie erblickte. Als er heimkam, fragte sie ihn sogleich, ob er die Dame einmal geliebt habe: Neinnein, kein Bein, neinnein, kein Bein! sagte Fox; gewünscht hätte sie es wohl, aber ich habe nicht gewollt – einfach nicht gewollt! – Lotte war nun noch viel glücklicher, daß er ihr gehöre; sie mußte doch wohl etwas wert sein, denn diese Dame war doch so wunderschön, und so stolz! – Schreibt sie dir noch manchmal? – Alles verbeten! – Zeig' mir doch mal einen Brief von ihr! – Alles verbrannt! – Sie fand das schade. – Aber weshalb hast du sie denn noch immer in deinem Schreibtisch? fragte sie, da sie das Bild doch gern entfernt hätte. – Du hast eigentlich recht! meinte er nach einem kurzen Nachdenken; wenn du willst, kannst du sie kriegen, mir liegt absolut nichts an ihr, absolut nichts; da! – Lotte nahm sie mit vielem Dank und stellte sie auf ihren eigenen kleinen Arbeitstisch. Aber die Worte: «Ihrem Fox» radierte sie aus und ließ nur «Adelaide» stehen.

Fox gewann es auf die Dauer nicht über sich, Pitt gegenüber sein Verhältnis zu Lotte zu verschweigen. – ja, sagte er einmal zu ihm, indem er nachdenklich die Asche seiner Zigarre abstreifte, man kommt manchmal zu Dingen, ohne zu wissen wie. Diese Lotte! Du hast sie ja damals nicht haben können, – ich dachte früher, die Dinge lägen ganz anders; ich hätte mir meine Rede sparen können. Jetzt sehe ich ja, daß ich mich getäuscht hatte: ich wußte nicht, daß sie mich eigentlich liebte und dich deshalb zurückwies, bis sie mir dann so was Ähnliches gesagt hat – na, und da war es schon zu spät; ich konnte nicht mehr zurück, ohne sie tödlich zu verletzen – ohne sie direkt tödlich zu verletzen. Ich mag sie übrigens sehr gern; kann absolut nicht klagen.

Pitt hatte eine ähnliche Wendung der Dinge schon seit langem geahnt, jetzt lief ihm aber doch das Blut zu Herzen. Unbeweglich hörte er zu und faßte den eigentlichen Sinn von Foxens näheren Erörterungen erst allmählich; dann sah er ihn nachdenklich an. Diese Drehung der Tatsachen erstaunte ihn. Möglich, daß Lotte sie nachträglich so entstellt hatte, das war nur menschlich, obgleich es ihm zu ihrem Wesen nicht zu passen schien; in diesem Falle hatte er zu schweigen, um sie zu schonen; möglich auch, daß das Ganze nur eine Lügerei von seinem Bruder war, um sich ihm gegenüber in eine höhere Position zu setzen. Dann hatte er ebenfalls zu schweigen, da es sich ja gar nicht der Mühe lohnte, die Wahrheit zu konstatieren, die Fox ebenso bekannt war wie ihm selbst. – Du hältst mich nun wohl für charakterlos und inkonsequent? fragte Fox. – O nein, ich finde, du hast ganz recht, ich hätte es wahrscheinlich ebenso gemacht wie du. – Wenn du gekonnt hättest! sagte Fox, und in dieser Antwort genoß er im Extrakt den ganzen Triumph, der ihm zuvor durch Pitts Gleichmut verdünnt worden war. – Auch hierauf antwortete Pitt nichts, obgleich ihm für einen Augenblick ein Wort auf der Zunge zu schweben schien. Die Genugtuung, mit der Fox das letzte sprach, klang so echt, so unangreiflich, daß Pitt unwillkürlich dachte, es sei nun doch nicht anders möglich, als daß Lotte ihm gegenüber die Sache auf eine nicht schöne Weise verdreht habe; aber dieses stimmte so ganz und gar nicht zu Lottes Wesen. – Es blieb ihm nichts anderes übrig als anzunehmen, daß Fox sich in seine Lügerei so sehr hineingeredet habe, daß er sie schließlich selber glaubte und für Wahrheit nahm.

Eine große Niedergeschlagenheit kam die nächsten Tage langsam über Pitt. Die Entfernung hatte ihn allmählich alles vergessen lassen, was ihm an Lotte langweilig und irritierend war, nur das Schöne, das Liebenswerte war in seiner Erinnerung geblieben und hatte sich, abgesondert von allem andern, verstärkt in seiner Vorstellung. Daß er sich gewaltsam von ihr loslöste, kam ihm sinnlos, ja wahnsinnig vor, er begriff sich nicht, wie er mit vollem Vorsatz und Bewußtsein etwas von sich schleudern konnte, das ihn mit Glück und Wärme füllte – so stellte sich jetzt die Erinnerung in ihm dar; alles Korrigieren dieses Gefühles mit dem Verstande half nichts dagegen. Nun war es zu spät! Und doch wieder fühlte er deutlich, daß, wenn alles ungeschehen wäre, er immer wieder so handeln würde, wie er gehandelt hatte. Dieser Zwiespalt seines Gefühles machte ihn ruhelos, selbstquälerische Gedanken stiegen in ihm auf, er wußte nicht mehr, was er von sich selber denken sollte.

Das Semester neigte seinem Ende zu. Sollte er später wiederkommen, zusehen, wie Lotte mit Fox glücklich war? Eine starke Abneigung erfaßte ihn gegen diese ganze Stadt, er mußte Lotte ein für allemal aufgeben, er wollte sie nie, nie wieder sehen, sich auch jede Möglichkeit eines Wiedersehens abschneiden. Er hatte eine unklare Vorstellung, daß sich in jeder Stadt das wiederholen werde, was er an Elfriede und Lotte erlebt hatte. Er hatte Angst davor. – Aber war denn zwischen ihm und Elfriede wirklich alles aus? Konnte nicht, wenn er sie wieder sah, alles anders und schöner werden, als es früher war? Würde er sie jetzt nicht mit ganz neuen Augen ansehen? – Es fiel ihm die Familie van Loo ein, und daß er sich hier in ganz abenteuerliche Gedanken verirrte. Aber er konnte sich Elfriede ja auch fernhalten – und nur, wenn er sie zufällig einmal sah – hiermit öffnete er seinen versperrten, drängenden Gedanken wieder ein Hinterpförtchen. – Was nützt nun alle Logik und alle Philosophie, dachte er; vor den einfachsten Dingen im Leben hält sie nicht stand; ich will etwas und will es nicht, und dann tue ich etwas, das nur Sinn hat, wenn ich es will. –

Lotte wurde allmählich traurig. Sie sollte sich nun für ein paar Monate von Fox trennen; er versprach ihr, für die Zeit der Trennung oft zu schreiben; daß er wiederkam, war ausgemacht und eigentlich selbstverständlich. Zufällig erfuhr er von Pitts Plan, an seinen ersten Studienort zurückzukehren. Er fragte nur: So? machte aber ein sehr nachdenkliches Gesicht.

Also leben Sie wohl! sagte die kleine Frau Bornemann, indem sie Fox, der im steifen Hut und mit roten Glacéhandschuhen im Vorplatz stand und den Dienstmann anwies, die Koffer in den Wagen zu bringen, beide Hände drückte: Also leben Sie wohl, und nochmals Dank für alles, was Sie an uns getan haben, falls ich Sie nicht wiedersehen sollte! Das Leben ist wie ein Fidibus, wie mein Mann selig sagte, eigentlich weiß ich nicht recht, was er damit gemeint hat, aber ich sage es nun auch manchmal, um sein Andenken zu ehren. – Aber Großmutter! rief Lotte, Herr Sintrup kommt doch wieder, das ist doch ganz sicher, das ist doch ganz bestimmt! – Und sie sah Fox halb zuversichtlich, halb beschwörend an. Er bewegte, beschwichtigend die Augen schließend, seinen Kopf zu einer nachdrücklichen Bejahung auf und nieder und reichte beiden Damen noch einmal die Hand. Lotte sah ihm fragend in die Augen: Hier durften sie sich nicht küssen, das sah sie ein; aber wo sonst? meinte er im Treppenhaus? – Ich begleite Sie hinunter! rief sie, aber Frau Bornemann hielt sie zurück: Kind, sagte sie leise, man muß den Menschen auch nicht den Schein zu einem Vorwurf bieten!

Fox schritt schon abwärts; sie wollte sich losreißen, aber Frau Bornemann hielt sie an der Schürze fest: Ich sage dir, du bleibst! Sie gab ihrer dünnen Stimme soviel Kraft als nötig war und setzte hinzu: Du Jungfer Unverstand und Übergescheit! – Und grüßen Sie auch Ihren Herrn Bruder! rief Lotte, halb verzweifelt. – Jawohl, wird besorgt! tönte Foxens Stimme von unten. – Ich will ihm wenigstens nachsehen! rief Lotte, und Frau Bornemann konnte es nicht verhindern, daß sie zum Fenster lief. Aber bedächtig eilte sie hinterdrein, um ebenfalls mit hinabzusehen: Die Großmutter neben der Enkelin. – Foxens rote Handschuhe bewegten sich grüßend und winkend im Gelenk. Und nicht einmal geküßt hatten sie sich zum Abschied!


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