Friedrich Huch
Pitt und Fox
Friedrich Huch

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Die Erwägung, daß dies alles seinetwillen war, half ihm nicht darüber hinweg. Wieder nahm er sich vor, abzureisen, aber schon bei dem Gedanken daran stieg ihm Elfriedes Bild, so wie es war und wie er es liebte, hemmend vor die Seele. Er geriet in einen Zwiespalt mit sich selbst wußte nicht mehr, was er tun sollte. Aber schließlich raffte er sich zu einem Entschlusse auf: Ich reise morgen! – Du reist morgen? Elfriede erblaßte. Ist es dir denn ganz gleichgültig, ob du hier bist oder wo anders? – Pitt sah ins Leere, und seine Augen wurden feucht. – Siehst du, du denkst selbst nicht im Ernst daran. – Sie stand vor ihm, hob die Hand, ließ sie aber gleich wieder sinken. – Oder ist es dir doch gleichgültig? – Sie sah ihm fast flehend in die Augen. – Es war als käme er aus einem Traume zu sich. Er blickte ihr ins Gesicht, unklar, zweifelnd, grübelnd, und er blieb. – Aber ihre Gegenwart bedrückte, beengte ihn mehr und mehr, er fing an, ein Alleinsein mit ihr überhaupt zu vermeiden und schloß sich an Harald an, mit dem er nachmittags zusammen arbeitete. Harald hatte gesagt, daß ihm die Mathematik so schwer werde, und daß dies eine wahnsinnig dumme Wissenschaft sei. Jetzt, unter Pitts Anleitung, wurde sie ihm plötzlich nahgerückt und interessant; denn Pitt verstand es, aus ihr eine Kunst zu machen, die sich auf den einfachsten Grundlagen aufbaute. Dinge, die Harald früher unbegreiflich erschienen waren, lösten sich unter seinen Worten und Beschreibungen zu durchsichtigster Selbstverständlichkeit auf; es lockte geradezu, auf diesen schwanken Brettern und Balken herumzusteigen, neue Brücken und Verbindungen zu schlagen, und wenn man einmal leichtsinnig oder unüberlegt abstürzte, so tat der Sturz nicht weh, man erhob sich, als sei man niemals heruntergefallen, und sah sich das nächstemal etwas vorsichtiger um. – Pitt ist ganz anders als andere Menschen! sagte Harald zu seiner Mutter; man schämt sich nie vor ihm. Wenn ich etwas Dummes sage, dann ist es immer so, als ob er es eigentlich gesagt hätte und dann nur gleich das Richtige fände. Er sagt alles so klar und einfach in den Stunden, und dann hinterher, wenn wir uns unterhalten, muß ich mich manchmal durcharbeiten durch seine Worte, wie durch ein Gestrüpp, hinter dem der Sinn sitzt.

Eines Spätnachmittags, gegen Abend, als sie wieder lange zusammengesessen hatten, trat Elfriede ein. Sie hatte Pitt an diesem Tage fast noch gar nicht gesehen und hielt ihren Zustand nicht mehr aus. Mit stumpfen Augen stand sie da – er konnte diese Augen fast nicht mehr ansehen – und bat ihn, mit ihr ins Musikzimmer zu kommen; sie habe unter den Noten ein schönes altes Stück gefunden, das sie ihm früher einmal vorspielte, und das ihm so gut gefallen habe. – Im selben Augenblick, wo sie so unter der geöffneten Tür stand, schlug das Fenster zu. Draußen hatte sich nach der schwülen Tageshitze ein Wind erhoben, es drohte ein Gewitter. Pitt sagte, sie möge vorangehen, er wolle nur noch oben in seinem Zimmer das Fenster schließen. – Sie dachte: das können doch auch die Mädchen! antwortete aber nicht und begab sich stumm zum Flügel, schlug das Stück auf und horchte von ihrem Sitz aus auf den Gang hinaus, zur Treppe. Schließlich begann sie Akkorde anzuschlagen, ohne Zusammenhang, nur um die Zeit des Wartens hinzubringen. Aber Pitt kam nicht. Eine Viertelstunde war vergangen, endlich erhob sie sich. Sie horchte wieder. Schließlich schritt sie langsam die Treppe hinauf, bis vor seine Tür, zögerte einen Augenblick, öffnete sie dann aber in dem sicheren Gefühl, daß Pitt doch nicht im Zimmer sei, und stand bewegungslos und fragend auf der Schwelle.

Pitt saß am Fenster, den Kopf in die linke Hand gestützt, und zeichnete Figuren. Sie sah dies wie ein lebendes Bild, das nur einen einzigen Augenblick andauerte, denn im nächsten hatte er den Kopf zu ihr gewendet und sah sie ebenfalls bewegungslos und fragend an. – Ach so! rief er, indem er aufsprang, das hatte ich ganz vergessen. Mir fiel vorhin ein einfacherer Beweis für Harald ein, ein neuer, den ich selbst gemacht habe, und dazu zeichnete ich gerade die Figur. – Sie hatte die Tür hinter sich geschlossen und trat näher, sie sah ihn so sonderbar und ernst an, daß er wußte: jetzt kommt die Entscheidung. Eine nervöse Unruhe überfiel ihn, er wollte langsam an ihr vorbei, blieb aber auf halbem Wege stehen. – Was hast du denn? fragte er, nur um etwas zu sagen, und doch wußte er, daß diese Frage gerade die schlimmste von allen war. – Sie antwortete noch immer nichts und hielt ihre traurigen Augen unausgesetzt auf ihn gerichtet. Sie wollte sprechen, sie vermochte es nicht. In dem Gefühl, etwas tun zu müssen, worauf sie wartete, wonach sie sich sehnte, legte er sanft den Arm um sie und zog sie an sich. Da lösten sich ihre Tränen.

O du quälst mich so! – Diese Worte schienen das Zimmer noch zu füllen, nachdem sie längst verklungen waren.

O du quälst mich so! wiederholte sie langsam, heftiger, und er fühlte, wie ihr Körper in verhaltenem Schluchzen bebte. Ihre Arme, die ihn ganz umfaßt hielten, umschlangen ihn noch enger. Es war, als wollten sie ihn nie wieder loslassen. Sie hatte die Augen geschlossen, sie vergaß alles um sich her, sie wußte nur, daß sie ihn in ihren Armen hielt.

In ihm gingen die verschiedensten Gedanken wirr durcheinander. Zum erstenmal fühlte er ihren Körper dicht an dem seinen, zum erstenmal empfand er mit aller Heftigkeit das, was er bisher nur mit seinen Augen gesehen und mit den Ohren gehört hatte. Und jetzt empfand er zum erstenmal in aller Stärke den Unterschied in seinem und ihrem Gefühl, beängstigt, beklemmt, ähnlich wie schon früher, nur viel stärker. Einzelne Bruchstücke ihres früheren Beisammenseins tauchten in seiner Seele auf und verschwanden wieder, ohne daß sich ein selbständiger Gedanke an sie heftete. Sie tauchten empor und sanken unter wie Bilder, die man nur als Zuschauer betrachtet. Dann dämmerten ganz frühe Eindrücke in ihm auf, Landschaften, die er als ganz kleiner Knabe gesehen und die aus seiner Erinnerung geschwunden waren. Sie verrannen wieder, dichtes, feines Stabwerk schwebt ihm vor Augen, wie wenn es anatomisch wäre, verschlungene zarte Röhren; aus ihnen brachen kleine runde Knospen, halb traumhaft dachte er: Das sind die Gedanken, die sich im Gehirne bilden – und dann war er wieder in der Wirklichkeit und fühlte Elfriedes Körper.

Draußen trieb der Wind den Regen gegen die Scheiben. Elfriede sprach noch immer nichts; sie wartete auf ein Wort von ihm, das sie befreien mußte; noch immer wollte sie nicht sehen, was doch klar vor ihrer Seele stand. – Ihm wurde dieses Schweigen schrecklich, so schrecklich, daß er es brechen mußte. Aus ihrem Traum schon halb erwacht, kam sie ganz zu sich und in die leere Wirklichkeit zurück, als er sie endlich fragte: Willst du mir nicht jetzt die Musik vorspielen? – Jetzt?! fragte sie verständnislos, mit großen Augen. – Er schwieg wieder. – Was soll nun werden? fragte sie endlich tonlos. – Ich reise ab. – Das Blut lief ihr zu Herzen. Nein, das darfst du nicht! rief sie schnell, du sollst hierbleiben.

Noch vor einer Stunde war es ihr unmöglich erschienen, länger mit ihm zusammenzuleben; jetzt, wo er das Wort der Trennung aussprach, widersetzte sich ihr ganzes Gefühl dagegen. Von der schrecklichsten Last wenigstens fühlte sie sich befreit, er wußte nun, daß sie ihn liebte, und so gab es doch etwas wenigstens, das sie und ihn in der Tiefe verband.

Komm! sagte er. Sie starrte auf das Tuch von seinem Ärmel, dicht vor ihren Augen, sie fühlte, daß Pitt sich von ihr lösen wollte, obgleich er nach wie vor bewegungslos blieb. Sie täuschte sich vor, daß er ihr diese armselige kleine Zeitlang ganz gehöre, sie wußte, daß dieser Augenblick nie wieder kam. Sie hob den Kopf und sah ihm mit aller Inbrunst in die Augen. Komm! sagte er befangen, und sie fühlte seinen leise abwehrenden Druck.

Mit einer plötzlichen, heftigen Bewegung befreite sie sich von ihm. Für einen Moment ruhten ihre Augen mit einem andern Ausdruck auf den seinen, es war, als ob sie etwas sagen wollte, aber sie schwieg, ging an ihm vorbei und verließ das Zimmer.

Pitt blieb zurück in einer dumpfen Betäubung. Draußen prasselte der Regen gegen die Scheiben, er starrte hinaus in die Landschaft und fühlte sich verlassen, ausgestoßen, heimatlos. Heute abend würde er Frau van Loo, sowie er sie allein sah, mitteilen, daß er fortging.

Frau van Loo begegnete Elfriede auf der Treppe. Elfriede kehrte das Gesicht fort. In ihrer ersten Überraschung wollte ihre Mutter stehenbleiben, so verändert hatten Elfriedes Züge ausgesehen. – Aber dann tat sie, als habe sie nichts bemerkt und stieg langsam an ihr vorbei, die Treppe hinauf. – Elfriede ging in ihr Zimmer, und als Frau van Loo, da sie nicht zum Abendessen kam, an ihre Tür klopfte, die verschlossen war, sagte sie von innen, sie fühle sich nicht wohl und sei bereits zu Bett gegangen – sie lasse niemand herein. – Auch mich nicht? – Nein. – Elfriede horchte von innen, dann hörte sie, wie sich das feine, seidene Geräusch von der Tür entfernte, langsam und gemessen.

Elfriede hat Kopfweh! sagte Frau van Loo in einem Ton, der gleichmäßig allen Anwesenden galt; sie hat das von mir geerbt, nur daß mir die Glieder vor dem Gewitter schmerzen und ihr erst hinterher. Pitt war einsilbig und ernst. Hedwig ahnte einen tieferen Zusammenhang und suchte sich mit ihrer Mutter durch Blicke ins Einvernehmen zu setzen, aber Frau van Loo tat, als sähe sie das nicht. Ihr Plan war schon gemacht.

Dieser unerhörte Regen! sagte sie, als man von der Tafel aufstand und sich in das Wohnzimmer begab; ich glaube wahrhaftig, wir müssen heizen. – Sie ließ den Diener kommen, und bald prasselte ein Feuer im Kamin. – Das einzige, was einem in diesem unfreundlichen Klima übrigbleibt, fuhr sie fort, ist, es sich möglichst behaglich zu machen, und andere Gegenden zu betrachten, in denen es schöner aussieht als bei uns. – Sie ließ durch Harald eine Mappe bringen, darin lagen große, vergilbte Photographien. – Das ist Batavia! sagte sie, und hier ist unser Landhaus; o diese Palmen! und dieser Himmel! – Pitt sah zerstreut seitwärts mit hinein in die Mappe, auf die langgestreckten, einstöckigen weißen Häuser, auf die riesigen, überhängenden Blätter, von denen ein einziges viel größer war als die Menschen, die unter ihnen standen in ihren weißen Anzügen und den großen Strohhüten, oder fast unbekleidet in ihrer eigenen dunklen Farbe. Da war auch ein Bild von Frau van Loo selbst; in einem weißen faltigen Kleide saß sie unter einem fremdartigen, großblütigen Strauche. Wie schön mußte sie gewesen sein! – Harald aber interessierte das nicht; er sah die Bilder jede Ferien an. – Hol' die braune Mappe vom obersten Brett! sagte sie, da wirst du Dinge finden, die du noch nicht kennst, es ist eine Sammlung, die dein Vater aus Italien mitgebracht hat. – Harald holte sie und betrachtete die einzelnen Blätter. Riesige Kuppeln wechselten mit schlanken Türmen, reiche Paläste mit großwandigen, kleinfenstrigen Häusern, die irgendwo aus einer Gegend herauszuwachsen schienen, und hinter ihnen ragten schwarze Baummassen wie spitze Flammenbündel in den Himmel. – Er geriet in immer größeren Eifer. – Möchtest du einmal nach Italien? fragte Frau van Loo. Harald war sehr überrascht. Wenn seine Mutter so etwas fragte, so stand auch jedesmal eine Gabe im Hintergrunde. – Ich würde dich gerne einmal hingehen lassen, meinte sie, denn es ist für deine Erziehung sehr erfreulich. – Er stürzte ihr zu Füßen und umschlang ihre Knie. – Aber du mußt erst älter sein, so alt, daß ich dich ohne Sorgen ziehen lassen kann. – Ach so! rief er gedehnt und enttäuscht; ich dachte, du meintest gleich! – Jetzt, sagte sie, würde sich wohl keine Gelegenheit finden, denn ich glaube, es gibt niemand, der mit dir ungezogenem Buben reisen möchte. Harald stand einen Augenblick in Gedanken. Er dachte nur darüber nach, ob er niemand wisse, mit dem er gerne reisen würde. – Pitt! sagte er plötzlich, und sah ihn an, als ob er gerade vom Himmel gefallen wäre. – Der wird sich wohl bedanken und lieber hierbleiben, wo es für ihn viel gemütlicher ist. – Hierauf schwieg Frau van Loo und lehnte sich zurück. Was jetzt noch zu tun blieb, war Sache Haralds. – Pitt hatte im Laufe ihrer Worte gemerkt, worauf Frau van Loo abzielte. So frei und warmherzig ihr Anerbieten war – er schwankte keinen Augenblick, es auszuschlagen. – Ich muß nach Hause, sagte er, und seine Worte waren gleichmäßig, so ruhig wie seine Augen blickten; ich habe heute morgen von meinem Vater einen Brief bekommen, daß es meiner Mutter sehr schlecht geht! – Das ist nicht wahr! rief Harald, worauf er entgegnete: würde ich es sonst sagen? und ihn so sicher anblickte, daß Harald nun wirklich bestürzt war. – All die schönen Pläne waren so schnell vernichtet, wie sie entstanden waren.

Am nächsten Morgen war Elfriede um die gewohnte Zeit beim Frühstück, blaß und ruhig. Sie hatte sich gefaßt und war entschlossen, niemand etwas merken zu lassen. Pitt trat ein, das Blut lief ihr zu Herzen, aber sie nahm seine Hand, ohne ihre Miene zu verändern, nur daß sie ihn nicht ansah. Sie erfuhr, er würde reisen, sie blickte auf das Tischtuch unter sich, einen Augenblick war es, als ob sie etwas halten wollte, das sich schon halb losgerissen hatte und jetzt ins Dunkel zu verschwinden drohte – dann ließ sie alles in sich sinken. Gleich nach dem Frühstück ging sie wieder in ihr Zimmer. Pitt sah sie nicht zum Abschied.

Lange hielt er Frau van Loos Hand in der seinigen, bis er sie küßte, dankbar und voll Traurigkeit. – Der Wagen rollte davon, Frau van Loo wandte sich ins Haus zurück, zu Elfriedens Zimmer, und diesmal ließ sie Elfriede ein.


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