Friedrich Huch
Pitt und Fox
Friedrich Huch

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Aber Selma, das geht doch nicht! sagte Herr Könnecke zu seiner Kusine, was soll denn Herr Sintrup von dir denken! – Nun bitte, sage mir, was meinst du denn, was er denken soll?! Herr Könnecke machte diese direkte Frage verlegen. Ich weiß es auch nicht, sagte er endlich. – Nun also, was sollen dann diese dummen Redereien! Du scheinst dir manchmal überhaupt nichts bei dem zu denken, was du sagst. – Fräulein Nippe war in der letzten Zeit zuweilen recht rücksichtslos gegen ihren Vetter. – Spiel du doch einfach mit, sagte sie einmal, dabei kannst du uns ja gleichzeitig beaufsichtigen; – und wollte ihn veranlassen, die Rolle der Emilie zu übernehmen. –

Nun, schreist du noch? fragte Pitt manchmal seinen Bruder, wenn er ihm begegnete. – Jedenfalls ist es besser, ich schreie, als wenn ich gar nichts täte, so wie du! entgegnete Fox. Dann lachte Pitt, ohne die Spitze zu parieren. Fox sah ihn jetzt seltener, Pitt hatte sich vollkommen in die Juristerei vergraben und arbeitete den ganzen Tag durch. Dies war das beste Mittel, seine Gedanken von sich selber abzulenken.

Seine unbestimmte Hoffnung, Elfriede wiederzusehen, hatte sich nicht erfüllt. Ihre Gestalt hatte sich ihm mehr und mehr verdichtet, als er all die alten Plätze wiedersah, die Unruhe trieb ihn die ersten Wochen herum, die Möglichkeit, ihr selbst irgendwo zu begegnen. Niemals geschah das; seine Spannung wich einer allgemeinen Melancholie, als er eines Tages zufällig durch Fräulein Nippe erfuhr, Elfriede sei überhaupt gar nicht mehr hier am Orte, sie befände sich schon lange in Paris und studiere dort am Konservatorium. Im ersten Augenblick traf ihn dies wie ein Schlag, indem ihm nun die Unmöglichkeit jeglicher Aussichten in die Zukunft diese Aussichten um so näher, um so sicherer erscheinen ließ, wenn Elfriede nicht in der Ferne geweilt hätte; dann machte er allmählich einen Kult aus dieser Liebe in die Ferne: Nachts, wenn er, von der Arbeit müde, sich nach frischer Luft sehnte, suchte er das Haus der van Loos auf. Manchmal lag es still im Mondschein da, die vielen Scheiben seiner wenigen Fenster spiegelten sich silbern im Lichte, manchmal strahlte es im eigenen Glanz, und Equipagen hielten vor seiner Tür. Er suchte auch die Bank auf, wo er Elfriede einst in ihrem Knabenkostüm traf, und setzte sich still neben den Platz, auf welchem sie damals gesessen hatte; aber schließlich erschien ihm dies Ganze sentimental und albern: Was hatte er von diesen Rückblicken in die Vergangenheit? – Ich könnte ja nun auch einen Lottekult unternehmen und jeden Tag Kirschtörtchen mit Schlagrahm in der Konditorei essen! – Was hatte doch Fräulein Nippe gesagt?: Ja ja, Sie zwei Brüder haben schwer zu tragen! Das hatte er damals ganz überhört. Liebte Fox unglücklich? und hatte er Fräulein Nippe zu seiner Vertrauten gemacht? Plötzlich erinnerte er sich, daß Fräulein Nippe rot bei diesen Worten geworden war. Weshalb war sie rot geworden? Weil sie gedankenlos die Diskretion gegen Fox gebrochen hatte? Das stimmte nicht zu ihrem Wesen. Offenbar hatte sie sich irgendwie selbst verraten. – Sie hat wahrscheinlich – dachte er – irgend einmal, oder auch öfter, an der Tür gehorcht.

Fräulein Nippe betrachtete Fox jetzt zuweilen mit halb neugierigem, halb fragendem Blicke. Es waren stumme, sprechende Blicke, wie wenn sie in seiner Natur grüble und zu keinem Resultate komme. Sie wartete, Fox solle ihr sein Herz eröffnen. Konnte er denn das so allein mit sich herumschleppen? Brauchte er denn keine teilnehmende Seele, die ihn verstand, nach deren Rat er sich sehnte? Hatte er denn kein Vertrauen zu ihr? Fox bemerkte diese Blicke nicht, oder er legte sie sich falsch aus. Durch ihre gemeinsamen Schauspielübungen kameradschaftlicher geworden, faßte er sie dann wohl gutmütig im Nacken und sagte: Hast du zu Nacht gebetet, Desdemona? – so daß sie etwas zusammenknickte und dankbar zu ihm aufsah. Aber damit war es dann auch aus, keinen einzigen sorgenvollen Gedanken schien sich dieser prachtvolle junge Mann zu machen!

Das arme Mädchen! Was soll nun werden! so sagte sie zu sich selbst, auf seinem Sofa sitzend und einen gelesenen Brief auf ihrem Schoße haltend. Seit einiger Zeit besaß Fräulein Nippe einen zweiten Schlüssel zu Foxens Schreibtisch, das erleichterte die Teilnahme an der Korrespondenz wesentlich. – Immer aufgeregter wurden diese Briefe, immer verzweifelter, da er nicht wiederkam, und in dem letzten hieß es, wenn er sich von ihr trennte, wäre es ihr Tod; sie würde sich dann wahr und wahrhaftig das Leben nehmen. Aus einigen Stellen war zu ersehen, daß Fox versucht hatte, sie zu trösten, daß sie aber allmählich nicht mehr an diesen Trost glaube. Und das gute, gute Kind! In ihrem letzten Brief schickte sie ihm eine Photographie von sich, ganz klein, billig, armselig, auf einem Jahrmarkt gemacht, aus Blech, und dazu schrieb sie, dies Bild solle ihm ihre Züge wieder ins Gedächtnis rufen. Und diese Züge waren doch so lieb, so nett, soweit man nach dem schlechten Ding urteilen konnte. – In alle vier Ecken des Briefbogens hatte sie das Wort «Vergißmeinnicht» verteilt – nein, das war in einem der vorigen Briefe, die ebenfalls auf Fräulein Nippes Knien lagen. Dieser letzte enthielt nichts von solchen Kindlichkeiten, er war ganz ernst, so ernst, daß Fräulein Nippe die Tränen in die Augen traten. Mit keinem Wort war es erwähnt – und doch konnte man sie deutlich zwischen den Zeilen lesen, diese böse Tatsache, die sich langsam vorbereitete und das Mädchen so verzweifelt machte.

Fox sprach zu niemand von diesem Briefwechsel. Zu Anfang hatte Pitt ihn zuweilen nach Lotte gefragt; er hatte geantwortet, die Beziehungen zu ihr habe er abgebrochen, schon damals, als er fortging.

Ihre erste große Enttäuschung, daß er jetzt nicht wiederkam, milderte er mit dem festen Versprechen, im übernächsten Semester zurückzukehren. Dann wurden seine Briefe immer spärlicher, und schließlich, da er gar nicht mehr wußte, was er ihr schreiben sollte und sie doch immer auf seine Antworten wartete, erzählte er ihr Anekdoten und Witze, die er aus den Fliegenden Blättern für sie abschrieb. Damit war sie auch zu Anfang ganz zufrieden, denn sie mußte über alles lachen. Sie baute auf sein Versprechen, später zurückzukommen, und machte sich Vorwürfe, so ungeduldig zu sein. Denn Fox hatte doch extra geschrieben, er dürfe jetzt nicht kommen, da sein Studium einen ganz geregelten Gang habe und gewisse Vorlesungen an der fremden Universität unumgänglich notwendig seien dafür, daß er sein Examen später mit Auszeichnung bestand.

Seine Aussichten auf die große Karriere standen ihr wieder vor dem Gedächtnis, sie durfte sie nicht stören; sie mußte ein vernünftiges Mädchen sein, das ihrem Geliebten die Wege ebnete, oder, da sie nur ein unbedeutendes und aller Mittel und Verbindungen bares Wesen war, bescheiden zuwarten und ihm wenigstens die Wege nicht noch schwieriger machen, als sie ohnehin schon waren. Dazwischen begann sich zuweilen leise die Frage einzuschleichen, ob Fox sie wohl wirklich so liebe, daß er sie später heiraten werde. Dann schalt sie sich aber sogleich töricht und sogar undankbar gegen seine Liebe, daß sie an ihr zu zweifeln wage. – Großmutter meinte, sie arbeite zu viel, sie solle weniger arbeiten; sie sei nervös. Unruhig, matt, gereizt wurde Lotte, und doch fühlte sie sich nicht eigentlich krank. Aber was war das nur? Was hatte sie nur? Frau Bornemann meinte eines Tages lächelnd: Es ist ja fast, als ob du guter Hoffnung wärst; das heißt, ich versündige mich mit solchen Reden! – Wie ist denn das? wollte Lotte gerade neugierig fragen, aber sie fing den Satz gar nicht an – denn auf einmal war es, als bliebe ihr das Herz stehen vor einem plötzlichen, eisigen Schreck.

Ihr erstes Gefühl war so fürchterlich, daß ihr leise schwindelte; dann dachte sie: dies ist ja nicht möglich, ich stehe ja noch hier und lebe. – Und nun begann eine Zeit des Grauens, des Zweifels, der vollkommensten Rat- und Hilflosigkeit, der fürchterlichsten Furcht vor dem Unsichtbaren, von dem sie nicht wußte: war es in ihr oder war es nicht in ihr. – Jetzt schlich sie oft, so oft sie konnte, in Foxens früheres Zimmer, wenn der neue Mieter abwesend war. Angstvoll saß sie bald über diesen, bald über jenen Band des Konversationslexikons gebeugt. Alle Zeichen stimmten! – Und doch, trotz allem: Es konnte ja nicht möglich sein! Dies war so entsetzlich, daß es nicht möglich sein konnte! Sie geriet wieder in Zweifel, alles erschien ihr für Momente wie ein furchtbarer Traum, aus dem sie schon halb erwacht war; sie schalt sich kindisch, sie suchte über ihre Angst zu lachen, und doch stand schon von neuem das Grauen über ihr, um sie im nächsten Augenblicke anzufallen. Und endlich konnte gar kein Zweifel mehr bestehen. Jetzt schrieb sie jene Briefe an Fox, daß sie sich das Leben nehmen werde, wenn er sie verließe. Und schließlich hatte sie nur noch den einen Gedanken: Fortgehen, zu Fox gehen; Großmutter darf nichts erfahren. Fox mußte Rat schaffen, er hatte dazu die Verpflichtung. Und sie baute fest auf ihn wie auf einen Fels; er war doch viel klüger als sie, er hatte doch dies alles kommen sehen, er mußte ja alles eigentlich schon wissen!

Sie müsse fort, sagte sie zu Frau Bornemann, sie halte ihren Zustand nicht mehr aus, sie sei überarbeitet, sie müsse sich erholen, sonst reibe sie sich vollends auf. Und da sie die letzten Monate, um über die Trennung mit Fox hinwegzukommen, wirklich über das Maß gearbeitet hatte, so glaubte ihr Frau Bornemann aufs Wort. Glücklicherweise sprach sie nicht davon, den Arzt kommen zu lassen; sie war der Meinung, alle Ärzte seien doch nur unwissende Schurken, und hatte dafür viele Beweise aus ihrem langen Leben. So kramte sie denn nur in ihrer Hausapotheke, gab ihr bald dieses, bald jenes harmlose Mittelchen und kochte ihr Kräutertee. Lotte aß und trank alles, nicht ganz in der Hoffnung, es könne helfen, aber doch, um wenigstens alles zu tun, was ihr geboten wurde. Wie glücklich erwies es sich jetzt, daß sie in so sehr bescheidenen Verhältnissen lebten! Frau Bornemann klagte, daß sie sie nicht begleiten könne, es gehe aber beim besten Willen nicht und sie müsse doch schon des Zimmerherrn wegen am Orte bleiben. Lotte sagte, sie solle dann auch ja für die Zeit ihres Fernseins ihr eigenes Zimmerchen, das dann leer stünde, vermieten. – Na, so lange bleibst du nun hoffentlich nicht fort! meinte Frau Bornemann bedächtig, und Lotte sagte: Nein, so lange bleibe ich wohl nicht fort – und hatte keine Ahnung, wie lange sie nun fernbleiben müsse. – Sie ging zum Atlas und suchte Städte auf, die ungefähr ebensoweit von ihrem Wohnort entfernt lagen wie Foxens Aufenthalt – des Billettpreises wegen. Dann nannte sie eine kleine Stadt, fast einen Marktflecken. Dort wohne eine Freundin von ihr, mit der sie auf der Schule gewesen sei, bei der könne sie umsonst wohnen, sie habe sie schon öfter eingeladen, sie werde sich furchtbar freuen, wenn sie käme. Dorthin wolle sie reisen, es sei da die herrlichste Landluft. Frau Bornemann freute sich hierüber; sie ging auf alles ein, sie war von einer Ahnungslosigkeit, daß Lotte sich ganz schlecht gegen sie vorkam.

Sie schrieb noch einen Brief an Fox, sie habe ihm etwas mitzuteilen, was sie ihm nur mündlich sagen könne, und nannte den Zug, mit dem sie am nächsten Tage eintreffen werde. – Gerade als sie abreiste, zog nun doch ein neuer Mieter in ihr Zimmerchen, Frau Bornemann lobte Gott, der sich ihr so sichtbar gütig erweise.

Fräulein Nippe überreichte jenen Brief Fox persönlich und las ihn hinterher an seinem Schreibtisch. Also nun ist es wirklich entschieden! dachte sie; das arme Mädchen! und der arme junge Mensch! So jung und durch solche Bande gekettet.

Fox war diesen ganzen Vormittag nicht zu Hause. Fräulein Nippe verfolgte alle Stadien des Wiedersehens: Jetzt läuft der Zug ein! dachte sie, auf die Uhr sehend; und sah die beiden jungen Leute sich im Geist umarmen. – Jetzt sind sie wohl schon im Wagen. – Ob er sie wohl gleich hierher bringt? – Mehrmals ging sie ans Fenster, um hinabzusehen, wenn eine Droschke nahte. Aber keine hielt vor ihrem Hause. – Endlich läutete es. Geschwind lief sie zur Tür:

Ein dunkeläugiges, einfach gekleidetes Mädchen stand da allein. Sie erkannte sie sofort. – Ist Herr Sintrup zu Hause? fragte sie halblaut und etwas stockend. – Ja, hat er Sie denn nicht abgeholt? sagte Fräulein Nippe erstaunt. Lotte war durch all die Aufregung, durch ihre Enttäuschung am Bahnhof, durch die Erregung des Augenblicks, jetzt dicht vor dem Wiedersehen, so hingenommen, daß sie nicht einmal darüber verwundert war, daß diese fremde Dame Bescheid wußte. Sie schüttelte nur den Kopf und zwang ihre Tränen zurück. Aber sie sagte, sie wolle nun hier auf ihn warten. Fräulein Nippe setzte ihr sogleich ein Gläschen von dem stärkenden Wein vor, den ihr Herr Könnecke zum Geburtstag geschenkt hatte. Ihr Herz trieb sie, dieses arme Mädchen zu streicheln und zu trösten, aber es fiel ihr ein, daß ihr ja hierzu jede Motivierung fehle. Sie durfte offiziell von nichts wissen. Lotte fühlte aber doch ihre Wärme durch und dachte, sie selber lasse sich zu sehr gehen. Das Allerschlimmste war ja auch vorläufig überstanden, sie war glücklich von zu Hause fortgekommen, fühlte etwas wie vorläufiges Ausruhen in sich – und dann, dann mußte Fox dafür sorgen, wie es weiter gehen würde.

Zu Mittag erschien Fräulein Nippe, die sich diskret zurückgezogen hatte, wieder, und setzte ihr etwas zu essen vor. Noch immer saß das Mädchen ganz genau so da, wie sie sie verlassen hatte! – Lotte wollte zuerst nichts nehmen, aber Fräulein Nippe redete so herzlich, daß sie verstummte und sie nur dankbar anblickte.

Wieder verging eine Zeit, da erschien Fox endlich. Er hatte Lotte strafen wollen für ihre unüberlegte, zwecklose Reise, über die er sich nur ärgerte, um so mehr, als er sie nicht verhindern konnte, da ihr Brief erst am Morgen eingetroffen war. – Diese Mädchen lassen sich doch immer von ihrem Gefühle leiten und setzen den Verstand beiseite! Was um Gottes willen wollte sie ihm sagen, was sie ihm nicht schon tausendmal gesagt hatte!


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