Friedrich Huch
Pitt und Fox
Friedrich Huch

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Endlos lange saßen sie mittags im Restaurant, Pitt rauchte eine Zigarette nach der andern, nur um irgendeine Ablenkung zu haben. Er kam sich wie in einer Verbannung vor, zurückversetzt in seine Vaterstadt, abgeschnitten von aller Freiheit, obgleich es sich ja nur um Stunden handelte. Herr Sintrup fragte nach seinem Verkehr. Pitt nannte das Haus van Loo. – Herr Sintrup nahm die Zigarre aus dem Mund: Die Amsterdamer van Loos? Verkehrst du da viel? – Jeden Tag. – Ist da eine Tochter? – Kennst du denn die Familie? fragte Pitt zurück. – Und ob! natürlich nicht persönlich. Er warf Pitt einen verschmitzten Blick zu: Junge, Junge, das könnte ja mal etwas Famoses werden! Du mußt es nur richtig anstellen; wie bist du denn da hineingeraten? Und Herr Sintrup erzählte die Geschichte von dem Vater, der im Indischen Meer ertrank. – Die Familie erschien Pitt plötzlich in einem fast trivialen Lichte; bisher hatte er ein Gefühl gehabt, als sei sie eigentlich nur seinetwegen vorhanden; nun erfuhr er, daß der Name eine «Weltfirma» sei. – Die Familie halte dir warm! fuhr sein Vater fort, die Marke ist ff! Hat zwar jetzt direkt mit der Firma nichts mehr zu tun, profitiert aber noch kolossal davon. Ja so was lasse ich mir gefallen! Hast du noch mehr von der Sorte? – So fragte Herr Sintrup und machte animierte Augen. Pitt dachte: Ganz genau so wird Fox einmal werden! – Und als ob dessen Geist ungesehen im Zimmer schwebte, fuhr Herr Sintrup fort: Das muß ich Fox erzählen! Das wird dem Eindruck machen! Übrigens: könnte die denn heute abend nicht mitkommen?! Wenn ich nun vorher einen Besuch in der Familie machte? Das ginge doch prächtig! – Pitt wurde rot und sagte: auf gar keinen Fall! – Sein Vater mißverstand dies, drohte ihm schalkhaft mit dem Finger und meinte: Noli turbare circulos meos – das ist das einzige, was ich noch vom Lateinischen behalten habe. – Dann schwiegen beide wieder, und Herr Sintrup, der schon vorher von Zeit zu Zeit etwas abwesend schien – Pitt schob dies auf die vielen Kognaks – sagte plötzlich wie nach einem Entschlusse: Ja, wenn du mich jetzt verlassen willst – ich habe noch ein paar Geschäftsbriefe zu schreiben, und nachher möchte ich ruhen. Er zog seinen Füllfederhalter und einige Blätter Papier hervor, und Pitt war froh, für den Nachmittag frei zu sein. Draußen atmete er auf. Er wollte sofort zu Elfriede gehen, ihm war, als sei er seit Wochen nicht bei ihr gewesen. – Wie er so an seinen Vater dachte, blieb er plötzlich mitten auf dem Platze stehen, sah auf das Restaurant zurück, in einem halbklaren Gedanken, der – er wußte selbst nicht wie – ihm durch den Kopf geschossen war, dann ging er sehr schnell zurück und lugte vorsichtig durch die Fensterscheibe: Herr Sintrup saß jetzt an einem andern Tisch, neben einer Dame, die Pitt zwar vorher auch schon bemerkt, aber nicht beachtet hatte. Sie hielt den Blick nicht ohne Wohlwollen auf Herrn Sintrup geheftet, antwortete ab und zu, und schließlich sah Pitt, wie erst sein Vater, dann die Dame die Uhr hervorzog, und wie sie die ihrige nach der seinigen richtete. Dann legte Herr Sintrup leise seine Finger über ihre Hand und sah ihr freundlich in die Augen. Pitt wandte sich vom Fenster ab und schritt wieder über den Markt. Nie hatte er einen starken Zusammenhang mit seiner Familie gehabt; aber nun war ihm doch, als wäre die Wand eines altbekannten Zimmers eingerissen, so daß ein neuer Raum entsteht, der nur halb der alte ist, und in dem man sich mit einem Gefühl der Fremdheit und des Fröstelns umsieht. Eigentlich müßte ich ja nun wohl entrüstet sein, dachte er; aber es wollte kein ähnliches Gefühl in ihm aufkommen; ja, sein Vater kam ihm bemitleidenswert vor. Derartige Erlebnisse bildeten jedenfalls Lichtpunkte in seinem arbeitsvollen, öden Dasein. Ob solche Lichtpunkte wohl öfters eintraten? Ob seine Geschäftsreisen wohl meist so menschlich schlossen? Und ob wohl seine Frau, Pitts Mutter, um diese Erlebnisse wußte? – Er machte eine Bewegung, als wolle er alles von sich abschütteln, und läutete schärfer an der Glocke des van Looschen Hauses als sonst, so daß der Diener Friedrich ganz verwunderte Augen machte.

Frau van Loo empfing ihn: Gut, daß Sie kommen! Hören Sie! Elfriede übt ihre Etüde eben zum siebenundzwanzigstenmal, und darin kommt ein Akkord vor – im selben Augenblick hörte man einen schrillen Klang – sie hielt die Hände an die Ohren und fragte dann: Ist er noch da? – Darauf ging sie langsam zur Tür, rollte sie auf und rief Elfriede zu, sie habe Besuch. – Ja! antwortete sie, und ihre Stimme klang ganz abwesend. Frau van Loo zog sich zurück. – Pitt ging auf sie zu und faßte ihre beiden Hände. – Was haben Sie denn? fragte sie erstaunt. Er wollte mit ihr spazierengehen – nur eine einzige Stunde! – Elfriede hörte kaum zu; mit geröteten Backen saß sie da, ihre Gedanken irrten fortwährend zu ihrer Etüde zurück. – Auf keinen Fall! sagte sie, oh, ich bin in so herrlicher Stimmung zum Arbeiten – und ich kriege es auch noch, fügte sie, schon wieder abgelenkt, hinzu. – Sie sollen aber mit mir gehen! sagte Pitt heftig, ich halte es einfach nicht mehr aus! Und wenn Sie jetzt nein sagen, komme ich nie wieder zu Ihnen, denn dann sehe ich, daß Ihnen meine Freundschaft gar nichts wert ist. – Elfriede sah ihn ganz erstaunt an: War dies Pitt Sintrup, der so heftig reden konnte? Fast wie selbstverständlich gab sie nun ihre Einwilligung, und jetzt erst fiel ihr ein, daß wohl alles mit seinem Vater zusammenhänge. – Frau van Loo war sehr zufrieden, als sie hörte, Elfriede wolle gehen. Sie hatte sich, wirklich erschöpft durch die Töne, zum Ruhen hingelegt; wohlig schaute sie aus ihren weichen Decken und Fellen heraus, mit ihrem silberglänzenden, vollen Haar und den schön geformten, großen Wangenflächen, auf denen sich zwei kleine Grübchen bildeten, als sie, ohne ihre Haltung zu verändern, die Augen zu Elfriede gehen ließ und sagte: Weißt du, was ich gerade in aller Schnelligkeit geträumt habe? Harald sei da und setzte mir einen Kranz von Kirschen auf den Kopf. Harald hat doch zu hübsche Ideen! – Als Pitt und Elfriede das Haus verlassen hatten, ging sie, nachdem sie genug geruht, in das Musikzimmer. Und als es später zu dunkeln begann, erleuchtete sie den ganzen Saal, um sich einzubilden, Elfriede übe. Das war viel angenehmer, als sie wirklich üben zu hören.

Pitt ging neben Elfriede her; die Abendluft war klar und mild, das Gewölk des Tages hatte sich verzogen, der Himmel war ein reines, tiefes Hellblau geworden, so tief, daß man endlos weit hineinschauen konnte, und dann sah man kleine schwarze Punkte, die sich hin und her bewegten, Vögel, die dort oben flogen. Pitt sah nicht hinauf. Seine Augen blickten immer in die höchsten Spitzen der Pappeln, die leise bewegt erschienen, obgleich kein Wind wehte. In ihnen lag goldene Abendsonne; er liebte die Sonne nur am Abend, und von allen Bäumen liebte er nur die Pappeln, mit ihren steilen, luftigen, unerklimmbaren Ästen, diese Bäume, deren Anschauen weit weg führt von den Menschen und von allem, was mit der Welt zu tun hat. Er war in einer ruhigen, schönen Stimmung.

Wenn das Leben immer so wäre wie in diesem Augenblick, sagte er nach einem Schweigen, wie wundervoll wäre das; aber man darf es nicht aussprechen; sogleich wird alles trivial. – Wenn ich Sie so reden höre, antwortete Elfriede, verstehe ich Sie nicht; mir scheint es schön, so etwas auszusprechen; wäre man immer stumm, so würde der andere niemals wissen, was in einem selbst vorgeht; und Sie sprechen wenig genug aus! Es tut mir doch wohl, zu fühlen, wenn ich einem andern wohltue. – Sie schwiegen beide, und es war Elfriede, als ob sie Pitt schon seit langem, langem kannte, und als ob sie sehr, sehr gute Freunde wären. – Wissen Sie, sagte er nach einer Weile, daß mein Vater auf den Gedanken kam, Sie für heute abend einzuladen? – Sie war zunächst überrascht, dann aber sagte sie mit einem Entschluß: ich gehe mit. – Er nahm dies anfänglich als einen nicht ernsten Einfall, aber sie blieb dabei: Es muß mich doch interessieren, jemand kennenzulernen, der Ihnen so nahesteht! Ganz egal, ob Sie sich innerlich nahe sind oder nicht. Nach Hause würde sie telephonieren – sprach sie weiter – sie gehe ins Theater – so sehr lange würde das Zusammensein doch nicht währen – morgen früh oder ein andermal würde sie dann ihrer Mutter die Wahrheit sagen, wenn es nicht mehr so schlimm wäre. – Sie werden mich dann vielleicht nicht mehr so gern mögen, wenn Sie erst meinen Vater kennen! – Erst recht, wenn ich den Unterschied zwischen Ihnen sehe! Er fügte sich. – Als es endlich Zeit war, sich zum Hotel zu wenden, und wie sie über dem Reden stehenblieben und langsam umkehrten, warf sich plötzlich ein kleines, weißes, lebendiges Paket gegen Elfriedes Körper. Es war das Hündlein, welches sich bis jetzt im Hintergrund gehalten hatte, weil es wußte, daß es eigentlich zu Hause bleiben müsse. Jetzt dachte es, man gehe sowieso heim, und es könne sich somit durch sein plötzliches Zuerkennengeben nichts mehr zerstören. Es setzte sich mit einer pirouettenartigen Drehung dicht vor Elfriede auf die Hinterbeine wie eine kleine Schildwache, den Rücken gegen ihr Kleid gelehnt, leckte sich den Mund, hob die Pfoten und blickte vernünftig drein aus seinen rötlich umränderten dunklen Augen, die so aussahen, als sei das Fell nicht genügend weit um sie herum ausgeschnitten. Elfriede durchschaute es völlig, lachte und stieß es leicht vorwärts. Es schnellte bis zur nächsten Straßenecke, blieb dann stehen, da es nicht wußte, ob man sich nach links oder geradeaus wenden würde, kam wieder zurück, bewegte ausnehmend läppisch sein Hinterteil und versuchte es dann unter den Bauch zu ziehen, da es dort besonders fror. So ein Tier, sagte Pitt, führt ein ideales Leben. Es tut das, was ihm der Augenblick eingibt, kennt keine Konflikte; Wollen, Fühlen, Handeln, alles ist wie ein einziger starker Schlag. Beneidenswerte Primitivität!

Haben gnädiges Fräulein Gefallen am Verkehr mit einem Sprößling meines armen Hauses gefunden? So fragte Herr Sintrup, nachdem er zur Begrüßung die Hacken zusammengeschlagen und Elfriede eine tiefe, respektvolle Verbeugung gemacht hatte. Und er verbreitete sich darüber, wie angemessen der Ausdruck sei, in Rücksicht der «Weltfirma» der van Loos. – Elfriede hätte am liebsten gelacht, so fremdartig und komisch kam ihr dieser Mann vor, der in so untertänigem, devotem Tone zu ihr sprach. Dies war Pitts Vater?! Er ließ seine Augen voll und biedermännisch auf ihr ruhen, ohne seine etwas vorgebeugte, respektvolle Haltung zu verändern. Sie wollte etwas erwidern, es fiel ihr aber nicht das geringste ein, und in halber Verlegenheit sagte sie: Ach da ist ja auch Herr Könnecke! Jawohl, rief Pitt, und Fräulein Nippe wird auch noch erwartet! – Ja, ja, meinte Herr Sintrup, schlichtes Souper, ganz schlichtes, einfaches Souper – und läutete dem Kellner, noch ein Gedeck mehr aufzutragen. Herr Könnecke, der sich bescheiden zur Gardine zurückgezogen hatte, trat jetzt vor, wischte sich die Hand ab – er war bei der vorangehenden Unterhaltung mit Herrn Sintrup etwas ins Schwitzen geraten – und begrüßte Elfriede mit einem kavaliermäßigen Bückling. Seine Kusine hatte ihm zu Hause eingeschärft, sich möglichst weltmännisch zu benehmen und «das schwere Brot der Schule hinter sich zu werfen». – Und gnädiges Fräulein sind so vielseitig talentiert, wie mir Herr Könnecke mitteilte? Haben Interesse für Mathematik, für Kunst und Wissenschaft, und bilden sich in Musik aus? Herr Sintrup nagelte sie hierüber in ein Gespräch fest. Herr Könnecke, eingedenk der Ermahnungen seiner Kusine, wartete immer darauf, daß er auch ein Wort in die Unterhaltung einwerfen könne, fand den Moment aber nie, ähnlich einem alten Herrn, der noch gern Karussell fahren möchte, das Ding schon in Gang findet, eine leere Schaukel entdeckt und sich jedesmal, wenn sie vorbeikommt, erst dann zum Hineinspringen entschließt, wenn es schon zu spät ist, und nun warten muß, bis eine neue Tour beginnt. Und da Pitt ebenfalls an dem Gespräch teilnahm, wandte er sich möglichst unbemerkt zur Seite und sprach zu dem Hündchen ein freundliches Wort. Es kam auch sogleich auf ihn zu, beroch ihn und bewegte vergnügt sein Stummelschwänzchen; und wie er sich setzte, wollte es an seinen Beinen in die Höhe. Aber es gab Flecke, und er suchte es mit sanften Worten fortzudrängen. Es ließ sich jedoch nicht beirren, und schlug schließlich mit so rasenden Trommelbewegungen gegen seine Knie, daß ihm angst wurde. Er sagte immer noch: du guter Hund, du guter Hund – aber seine Bewegungen, es abzuwehren, wurden deutlicher, und endlich – es sah niemand hin zu ihm – packte er es mit dem Gedanken: Es ist ja schließlich doch nur ein Hund! – leicht im Genick und gab ihm, selbst erschrocken über seine Kühnheit, einen energischen, kleinen Schwung zur Seite. Das Hündchen quiekte, Elfriede rief es, und Herr Könnecke erhob sich rasch, trat möglichst unbefangen zu den andern und sagte: Nicht wahr, Herr Direktor: Die Gymnasialbildung ist doch die gründlichste; ich meine die allseitigste, und wenn man dann hinterher noch studiert – er wußte nicht weiter. – Wann kommt denn Ihre Kusine? fragte Elfriede, die ihm helfen wollte. – Die kommt bald! sagte Herr Könnecke lebhaft, so, als sei bisher von niemand anderm die Rede gewesen, oder als sei erst jetzt der eigentliche Gesprächsstoff erreicht. Und als ob seine Worte eine Beschwörungsformel gewesen wären, die Fräulein Nippe bei den Haaren gepackt, durch die Straßen geschleift und vor der Tür abgesetzt hätte, öffnete sich diese, und Fräulein Nippe, mit etwas zerzauster Frisur, stand auf der Schwelle. In ihren Armen hielt sie eine Fülle von Blumen. Sie sah lächelnd von einem zum andern, als wisse sie noch nicht, wen sie zuerst aus ihrem Füllhorn überschütten solle, entdeckte Elfriede, ließ sich ihr vorstellen, umarmte sie dezent, als sie eine Blume nahm, und wollte auf Herrn Sintrup zu, der inzwischen ebenfalls eine gewählt hatte. Aber der schob rasch einen Stuhl zwischen sich und sie, auf den sie sich auch sogleich dankend niederließ.

Der Diener meldete, das Essen sei bereit. – Mit den Blumen, sagte Herr Könnecke, wollen wir die Tafel schmücken, das macht man immer so in feinen Häusern! – Herr Sintrup verbeugte sich vor Elfriede und reichte ihr mit einem achtungsvoll durchbohrenden Blick den Arm. Fräulein Nippe überwand schnell eine kleine Enttäuschung und näherte sich Pitt. Der blickte zurück auf Herrn Könnecke, der mit seinen Blumen bepackt dastand. Gewinnend lächelnd sah sie ihn an, und – hast du nicht gesehen! – fuhr ihr Arm in den seinen. Herr Könnecke folgte, das Hündlein machte den Beschluß, zerstreut die Ohren hängen lassend, bis ihm plötzlich einfiel, daß es zu Elfriede gehöre. Es jagte hinterher, witterte aber im Laufen den Geruch der Speisen, schoß an ihr vorbei und gelangte als erstes in den kahleleganten kleinen Raum, mußte sich dann aber bescheiden zu Elfriedes Füßen setzen. – Ist das aber mal ein schönes Zimmer! sagte Herr Könnecke, worauf Herr Sintrup zu Elfriede meinte: Na, Sie werden wohl zu Hause anderes gewöhnt sein. Seine hochzeremonielle Anrede vergaß er nach und nach.

Diese ewigen Anspielungen auf Reichtum – Herrn Sintrups Bemerkungen enthielten vorläufig fast ausschließlich diesen Kern, verhüllter oder nackter – irritierten Elfriede allmählich, nachdem sie zuerst innerlich gelacht hatte. Fast unbewußt sandte sie ab und zu einen Blick zu Pitt hinüber, der sich begnügte, ein spöttisches Gesicht zu machen. – Fräulein Nippe bedauerte, daß die Suppe schon in den Tellern stand; sie hätte sie so gerne aufgefüllt! Sie ließ ihre Augen kontrollierend über die Tafel gehen, behauptete, sie habe mehr bekommen als die andern, und wollte schon auf die kleine Glocke schlagen, aber Herr Sintrup, der jetzt lebhaft zu Elfriede über Knallbonbons redete: die müßten an einem Weihnachtsbaum hängen, er selbst habe sich seinerzeit unter Knallbonbonsschüssen verlobt – verstand halb ihr Wort und ihre Bewegung, schob seinen Arm dazwischen, machte: bsch, bsch, bsch! und warf Pitt einen aufmunternden Blick zu, als wolle er sagen: Beschäftige du doch diese Dame! Das Hündlein, das hervorgekommen war, mußte sich wieder zurückziehen. Fräulein Nippe fühlte sich etwas zurückgesetzt. Und doch: wie echt männlich, sorglos-froh war dieser Zwischenruf! Freilich, heute früh war Herr Sintrup etwas liebenswürdiger gewesen; das war aber ganz natürlich! Jetzt saß eben eine Jüngere an seiner Seite, und da folgte er seiner herrlichen Hahnreinatur! Ob es denn ganz aussichtslos war, daß sie bei ihm Hausdame werden könnte?!

Sie gab es vorerst auf, mit ihm in ein Gespräch zu kommen, und wandte sich an Pitt, mit dem Herr Könnecke eine Unterhaltung führte über Stunden im allgemeinen und im besondern. – Was ist dies für ein Fisch? fragte sie und deutete auf das viereckige grauhäutige Stück auf ihrem Teller. Pitt überhörte dies, aber sie faßte ihn am Ärmel. – Das ist eine Forelle! – Wie interessant! Sie nickte zartfühlend, als habe er ihr etwas Diskretes mitgeteilt. – Schafskopf! rief Herr Sintrup mitten aus seinem Gespräch heraus, Steinbutt ist es. Ist es etwa das erstemal, daß du einen Steinbutt zu Gesicht bekommst? Haben wir den nicht oft zu Hause gegessen, und Forellen womöglich noch öfter? Er erklärte den Namen Steinbutt und forderte Fräulein Nippe auf, die Haut zu untersuchen, da fände sie die Steine drin. Fräulein Nippe fand sie wirklich, war aber im Zweifel, ob das nicht eine neue Irreführung sei, und äußerte sich nicht weiter. Herr Könnecke aber erzählte eine Geschichte: wie er als Junge einmal geangelt habe, ganz aus Zufall, nur weil er jemand traf, der gerade angelte, und wie er dann wirklich einen Fisch gefangen habe. Aber das Tier hätte so traurig mit den Kiemen geklappt und ihn so erbarmungswürdig angesehen, daß er es schnell in die Freiheit zurücksetzte. Dies sei das einzige Mal in seinem Leben, daß er eine Tierquälerei beging. – Fräulein Nippe fand diese Erzählung uninteressant; viel interessanter sei es, zum Beispiel darüber zu debattieren, ob wohl die Nachtigall aus Hunger sänge oder aus Liebe. Sie glaube nun und nimmer, daß sie des Hungers wegen sänge – dann würde sie doch einfach fressen. – Liebe ist auch Hunger! warf Pitt mechanisch ein, der immer nur auf das hörte, was sein Vater sprach. – Liebe ist allerdings Hunger! rief sie und nahm einen tüchtigen Schluck Wein. Und dann redete sie von den schwülen Sommernächten, in denen man sich ruhelos auf seinem Lager wälze, so daß das Bettuch am nächsten Morgen ganz zerknüllt sei: Poesie und Prosa wohnen so dicht beisammen, und die Dinge sehen am Tage anders aus, als wenn man sie durch die Brille eines bengalischen Lichtes betrachtet!

Selma, kucke mal! sagte Herr Könnecke und hob seine Roastbeefscheibe an der Gabel hoch. – Was willst du denn? – Nichts, ich freue mich nur. – Ach, wenn man denkt, sagte sie wieder zu Pitt, daß, während wir hier schwelgen, Tausende von Menschen hungern – und sie führte dies des weiteren aus. Aber Sie sind ja so still geworden?! Drückt Sie ein Kummer? Mir können Sie ihn erzählen, es gibt doch nichts Größeres als einen Menschen aufzurichten! – Können Sie schweigen? – Vollkommen! – Dann schweigen Sie mal zehn Minuten! – Fräulein Nippe durchfuhr es unbehaglich. Aber vielleicht mußte er sich erst sammeln für seine Geschichte?


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