Friedrich Huch
Pitt und Fox
Friedrich Huch

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Sie stammte aus dem äußersten Nordwesten Deutschlands, aus einer hochangesehenen Patrizierfamilie, die ganz nach alten Traditionen lebte. Sie hatte sich freigemacht, gegen den Willen ihres Vaters war sie Malerin geworden. Erst fast mit ihr deshalb verfeindet, söhnte er sich allmählich mit dem Schritte aus, als er die Erfolge sah. An seinem Vaterglück fehlte nun nichts weiter, als daß seine Tochter nach Hause gekommen wäre und geheiratet hätte. Sie dachte nicht daran, obgleich ihr der Gedanke selbst nicht abliegend und fremd war, denn sie liebte ihre Vaterstadt und das ganze Land da droben mehr als alles andre, was sie sah, und als letztes Lebensziel schwebte ihr ein breites Familienglück in großem Stil vor, wie man es auf prunkvollen holländischen Bildern gemalt sieht. Aber dieses Ziel lag noch weit ab. Mehrere heftige Erlebnisse endeten mit Enttäuschungen, ohne ihre feste Natur im mindesten zu beirren. Sie lernte Pitt Sintrup kennen, und seine verträumte Unklarheit, das Passive, Widerstandslose seines Wesens zog ihre eigene, dem Leben zugewandte, auf das Leben wie zum Sprung gerichtete Seele an. Pitt, dem noch kein Mädchen so entgegengekommen war, fühlte seine eigene Empfindung mit fortgerissen. Er erzählte ihr sein ganzes Leben, und während sie kein Wort verlor, wurde in ihr der Wunsch, diesen Menschen zum Leben, zum Erwachen zu bringen, was vor ihr noch keiner gelungen war, immer heftiger. Sie sahen sich täglich, und während er wähnte, die Erfüllung könne noch in weiter Ferne liegen, war für Herta selbst alles längst entschieden. Dann kam ihre heftige Einigung.

Ihm begann ein neues Leben an ihrer Seite. Die Vergangenheit war ausgelöscht, eine unbekannte Frische kam über ihn, seinem Dasein schien ein wirklicher Inhalt gegeben, es folgte eine Zeit des Glückes, der Ausgeglichenheit, der heitersten Ruhe, wie er sie nie für sein Leben erhofft hatte. – Die ersten Tage ging er herum wie im Traum. Unfaßlich war ihm alles: Wie war es möglich, daß er wirklich ein Mädchen sein eigen nannte, das er liebte und von dem er sich geliebt wußte! Bisher hatte er mit dem Gefühl der Liebe nur etwas Trauriges und Entsagendes verbunden, und nun empfand er, wie alles andere neben ihr gering erschien! Mit welchem Stolze zeigte er sich an ihrer Seite!

Wie lange ihr enges Verhältnis zu Pitt dauern würde, wußte sie selbst nicht; es reizte sie, das Schicksal dieses Menschen, dem sie sich in allem, was das Leben anging, überlegen fühlte, in die Hand zu nehmen, und jetzt, wo sie ihn näher kennenlernte, ward ihr dies Gefühl befestigt. Ihr selbst war ein Leben ohne Arbeit, ohne Schaffen unmöglich. Nur ein paar Tage waren sie zusammen im Süden, dann verlangte sie zurück in ihre Tätigkeit. Pitt gewöhnte sich daran, ihr in allem sich zu fügen. Sie verlangte, daß er selber arbeitete, und er tat es. Zu Anfang hatte er fast Scheu, ihr seinen Beruf zu gestehen, da er glaubte, sie werde ihn verachten. Aber das tat sie gar nicht, im Gegenteil, und sie sagte: Mein Vater würde dich mehr achten als die meisten andern, die er durch mich kennt, denn nach seiner Schätzung taugen im Grunde nur die Menschen etwas, deren Beruf sich direkt wieder auf die Menschen richtet!

Sie setzte es durch, daß Pitt sein Examen bei der nächsten Gelegenheit machte. Er sagte, er fühle sich nicht sicher. Sie rechnete nach, wieviel Semester er nun allmählich hinter sich hatte, und meinte dann: wenn er sich jetzt noch nicht sicher fühle, würde er sich niemals sicher fühlen. Er solle den Versuch machen, mehr als durchfallen könne er nicht, und das sei nicht schlimm. Sie sprach auch mit einem seiner Professoren, den sie kannte und auf einer Gesellschaft traf. Sie erfuhr, Pitt Sintrup gelte in den Seminaren als der beste Kopf, der mit Leichtigkeit die feinsten Fragen zu spalten vermochte, aber leider die ganze Jurisprudenz wie eine Bagatelle ansehe. Nun setzte sie ihren ganzen Einfluß hinter ihn, und Pitt empfand es so wohltuend, daß ihn jemand trieb; zum Scheine weigerte er sich immer noch und trieb sie dadurch zu immer heftigerer Forderung. Die hörte er so gern, und mit Vergnügen sagte er dann endlich lächelnd: Nun also – in Gottes Namen! – Und nach ein paar Monaten machte er das Examen, und etwas später bekam er auch den Doktortitel, da Herta sagte, es käme nun auch nicht mehr darauf an, ob er noch etwas mehr arbeite. Dann aber gab es Kämpfe, was nun werden sollte. Referendar werden wollte er nicht, er wollte überhaupt nun nichts mehr mit der ganzen Juristerei zu tun haben, wußte aber auch nichts anderes. Ihr war diese Eröffnung ganz neu, sie lachte und nannte ihn verrückt. Dann begannen tagelange Bearbeitungen, die damit endeten, daß Pitt sich zu allem bereit erklärte. Die Aussicht in eine fernere Zukunft schien ihm nach diesen Gesprächen auch nicht mehr so entsetzlich wie früher: Hertas Familie dort oben in dem kleinen Hansastaat hatte die größten, einflußreichsten Verbindungen, durch sie würde es ihm leicht werden, eine gute einträgliche Stelle zu bekommen, die er durch eigene Energie vielleicht nie erreicht hätte, und großen Eindruck machte es ihm, daß er dann kein königlicher Angestellter war, sondern daß er unter einer Republik diente, deren Oberhaupt, wie er erst jetzt erfuhr, Hertas Vater selbst war. – Herta lächelte für sich, als er ihr eines Tages erklärte: jetzt sitze ich wirklich drin, in diesem Maulwurfsnest; – er meinte damit das Amtsgericht. Und was wird dann eigentlich später aus uns beiden? fragte er manchmal; ich denke, du nimmst dir dann ein Haus für dich, und wir besuchen uns, wann wir mögen! – Laß uns nicht daran denken, sagte sie, bis dahin hat es sich schon entschieden, ob wir dauernd zusammenbleiben wollen oder nicht; und wollen wir, so ist es nicht anders möglich, als daß wir den Schritt tun, den die meisten tun, die zusammenbleiben wollen. – Pitt verzog unwillkürlich das Gesicht, wie wenn er etwas Bitteres schmecke. – Wäre dir der Gedanke so schrecklich? fragte sie. – O nein, antwortete er schnell, durchaus nicht, ich machte dies Gesicht eben nur aus alter Gewohnheit. Herta sprach öfter von der Möglichkeit solcher Aussichten, ja manchmal, wie zum Scherz, malte sie sich ihre und Pitts nähere Zukunft aus. Sie sprach von einem schönen Haus, das sie sich bauen würden. Sie wußte schon den herrlichsten Platz dafür. Oben im zweiten Stock sollte ein riesiges Atelier sein mit einem Ausblick auf das ferne flache Land. Oft redete sie von diesen Dingen, auch von den Menschen, mit denen sie dort verkehren würden, von ihren Eltern, von ihren Verwandten. Pitt sah dann im Geist die lange Reihe der Ahnenbilder, von denen sie ihm erzählte, die zu Haus im großen Saale hingen, und er wunderte sich über ihren festen Zusammenhang mit ihrer Heimat und allem, was mit ihr verbunden war. Ihm selber fehlte solcher Zusammenhang gänzlich, und bei ihren Worten überschlich ihn zuweilen ein dumpfes Unbehagen. Gegen einzelne Menschen, von denen sie immer wieder sprach, empfand er nach und nach geradezu eine Abneigung.

Wie ist es nur möglich, sagte er einmal, daß ein Mensch so stark verwandtschaftlich empfinden kann! – Es kommt eben nur auf die Verwandten an! entgegnete sie. Das ließ er gelten, obwohl er wußte, das da noch ganz andere, tiefere Unterschiede mitspielten. Aber er sprach nichts davon aus, da er fühlte, daß, wenn sie dann darüber stritten und er Herta schließlich recht gäbe, eine Einigung doch nur ganz oberflächlich sein würde. Und zugleich rührte diese Frage überhaupt an Tiefen, die er nicht sehen, die er vergessen wollte.

Du möchtest wohl, sagte sie ein andermal, als sie wieder von ihrem Luftschloß redete, daß wir unser Haus verschlossen und gar niemand hereinließen? – Er lächelte, und zugleich durchzog ihn eine halb peinliche Empfindung bei der Vorstellung an dies Haus, in dem sie allein sein würden. Er kannte es ja auch noch gar nicht, für ihn war es vorläufig ein fremdes Haus wie jedes andere. Herta freilich kannte es auch noch nicht, und doch sprach sie von ihm, als ob sie schon darin wäre. Sie zeigte ihm nun auch Bilder ihrer Eltern und ihrer Geschwister: Lauter blonde, großgewachsene Menschen der reinsten Rasse. Alle hatten unter sich Ähnlichkeit, wie die verschiedenen Blätter desselben Baumes. – Sie wollte nun auch Bilder seiner Familie sehen, und Pitt holte aus einem Kasten einige halb vergessene Photographien, die ihm seine Mutter mitgab, wie er ins erste Semester ging. – Deinem Vater bist du nicht ähnlich, sagte Herta, und deiner Mutter auch nicht; wie bist du nur zu diesem Kopf gekommen! – Sie malte ihn jetzt noch einmal, und das Bild wurde besser als das erste. Ihm erschien es, bei aller Ähnlichkeit, zu laut in der Empfindung. Aber er sprach dies nicht aus, sondern betrachtete es nur, in Nachsinnen verloren. – Es wäre besser, sagte er endlich, wenn die Menschen ihren ganzen Körper aufgäben und nur aus Kopf beständen! Wieviel Aufregung und Gräßliches würde ihnen erspart bleiben. – Und das sagst du zu mir?! rief sie und sah ihn verwundert an. Sie begegnete seinem stillen Blick, der sie nicht zu sehen schien. Möchtest du, fuhr sie fort, daß wir beide körperlos wären? Ist dir dein Körper so wenig lieb? Er antwortete nicht. – Was für einen Unsinn redest du! Mein Körper ist mir das liebste auf der Welt, viel lieber als mein Kopf und alles, was drin steckt an Kunst und Gedanken! Und lieber möchte ich auf alles, alles verzichten als den kleinsten körperlichen Makel haben; du redest wie ein alter Mann und sollst dich schämen! – Er lachte und zuckte die Achsel, und wie er sie so blühend vor sich sah, den lebensvollen Blick jetzt halb vorwurfsvoll auf ihn geheftet, dachte er: Mein Gott, wie recht hat sie, und wie dankbar bin ich, daß sie nicht körperlos ist! und schloß sie heftig in die Arme. – Siehst du nun, wie dumm du bist! Sie hielt ihn fest umschlungen, so lange und so bewegungslos, daß endlich seine Gedanken abirrten, bis er die körperliche Ermüdung des Stehens empfand und sich langsam aus ihren Armen befreite.

Höre, sagte sie eines Tages, morgen kommen meine Eltern her; sie reisen nach Italien und bleiben nur einen einzigen Tag hier. Ich möchte, daß du sie sähest. – Pitt durchfuhr dies sehr unbehaglich. – Was werden deine Eltern denken? fragte er ausweichend. – Sie werden sich die Wahrheit denken, sagte Herta; sie wissen, daß ich kein Kind mehr bin, und daß ich nach meinen eigenen Vorschriften lebe. Und sie haben sich damit abgefunden. Meine Mutter weiß über dies Bescheid; sie weiß über alles Bescheid, was mich angeht, und vieles wäre noch viel schwerer gewesen in meinem Leben, wenn ich mich nicht stets an sie gehalten hätte. – Pitt war über diese letzte Eröffnung sehr erstaunt. Ich glaubte, sagte er, deine Mutter sei so konventionell! – Herta lächelte und sagte: Du wirst sie kennenlernen und Achtung vor ihr gewinnen! Ich glaube, du achtest die Frauen überhaupt viel zu wenig. – Vor meinem Vater allerdings, fuhr sie fort, vor meinem Vater suche zu bestehen! und sie sprach die letzten Worte mit Nachdruck; – übrigens machst du dir von ihm vielleicht ein falsches Bild. Mein Vater hat den allergrößten Blick für Menschen und Dinge, es ist etwas Großzügiges in seinem ganzen Wesen. Nur gegen seine nächsten Angehörigen empfindet er wie ein gewöhnlicher Bürgersmann. In bezug auf mich habe ich es ihm aber abgewöhnt. Nimm dich zusammen, wenn du mit ihm sprichst, es ist auch gut für dich, für deine spätere Zukunft, wenn er jetzt ein günstiges Bild von dir gewinnt. Ich kann mich doch auf dich verlassen, daß du keinen Unsinn redest? Da er nicht antwortete, fragte sie ihn halb unruhig: Du fühlst dich doch jetzt ganz deiner sicher, nicht wahr?

Pitt liebte solche Fragen nicht. Herta tat sie zuweilen. Dann erschien sie ihm jedesmal etwas fremd. – Er legte den Arm um sie, küßte ihr glänzendes duftendes Haar und sagte: Sei ohne Sorge, ich werde schon vor ihm bestehen.

Pitt zog sich zu Hause um zögernd, langsam, trat vor den Spiegel, sah lange hinein – und mit einem plötzlichen Entschluß entkleidete er sich wieder, zog seinen gewöhnlichen Anzug an und machte einen stundenweiten Spaziergang, anstatt sich mit Hertas Eltern und ihr selbst zu treffen.

Damit verletzte er sie sehr. – Hast du denn absolut nicht den Wunsch gehabt, sie kennenzulernen? – Er schüttelte den Kopf. – Manchmal verstehe ich dich nicht! – Ich dich auch nicht! antwortete er und sah sie nicht an dabei. – Er ist schwerer zu lenken als ich glaubte, dachte sie, man muß Geduld mit ihm haben und nicht zuviel auf einmal wollen. Ich rede immer viel zu viel von allem, anstatt ihn ohne Worte zu lenken.

Es war ihr ein Bedürfnis, von Zeit zu Zeit von ihm bestätigt zu hören, wie sehr er sich innerlich umgewandelt fühlte. Es erfüllte sie mit Stolz, daß sie es vermocht hatte, diesen schwankenden Menschen aufzurichten und ihm das Gefühl seiner Kraft zurückzugeben. Dies Bewußtsein bildete einen Teil ihrer Liebe, die dadurch wieder etwas Kameradschaftliches bekam; überall war sie die selbstverständlich Leitende, und er war so gewohnt, ihr zu folgen, daß es doppelt auffällig war, wenn er einmal den eigenen Willen durchsetzte.

Jeden Morgen – ob es nun gutes oder schlechtes Wetter war – holte sie ihn in der Frühe zum Spazierengehen ab; er war immer schon längst fertig und bereit, ehe sie ankam; das frühe Aufstehen tat ihm gut, er wunderte sich, einen wie großen Teil seines Lebens er früher verschlafen hatte. Nach einer Stunde trennten sie sich dann; sie ging an ihre Arbeit, er an die seine. Sie machte ihm nicht gerade Freude, war ihm aber auch nicht unangenehm. Sein Gedächtnis, das in den letzten Zeiten etwas nachzulassen drohte, war frisch wie in seinen frühesten Jahren.

Manchmal überraschte er sich selbst, indem er einen tiefen Seufzer ausstieß und in eine Ecke starrte. Er lächelte; – wie doch alte Gewohnheiten in einem festsitzen! dachte er; wenn ich jetzt nicht zufrieden und glücklich bin, so habe ich kein Recht auf Glück!

Herta war immer frisch, immer schaffensfreudig, immer voller Pläne für ihre eigene Kunst. Er sah jetzt auch viele ihrer früher gemalten Bilder. Eines nach dem andern stellte sie vor ihn hin, und erzählte, wo sie dieses, wo sie jenes gemalt hatte, merkte aber, daß ihn dies nicht sonderlich interessierte, obgleich er sich Mühe gab, ihren Erinnerungen zu folgen und selbst etwas von ihren Gefühlen zu empfinden. – Du hast recht, sagte sie; all dies hat ja im Grunde mit den Bildern nichts zu tun, und es wäre schlimm, wenn man ihnen von diesen Gefühlen etwas anmerkte; aber in der Erinnerung habe ich sie doch; dafür bin ich auch kein Mann.


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