Friedrich Huch
Pitt und Fox
Friedrich Huch

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel

Fox Sintrup ließ wie ein Taxator seine Blicke über die Möbel des besten Zimmers der alten, kleinen Frau Rechnungsrat Bornemann gehen, in dem sich die Reste einer besseren Zeit zusammenfanden. Er senkte sich gewichtig auf das Sofa nieder, um die Elastizität auszuprobieren, untersuchte die Aussicht aus dem Fenster und trat endlich vor den großen, goldenen Spiegel, der sein tadelloses Bild aus tadellosem Glase zurückwarf. Frau Bornemann stand still und klein in der Mitte des Zimmers und schien, während sie ihm alles zeigte, weniger an ihn als an die Sachen selbst zu denken, denn sie vermietete zum ersten Male. Ihre wenigen Worte kamen aus einem Mündchen, das sich beim Sprechen noch mehr in sich selbst zusammenzog. Erst als er wirklich mietete, und sie ihm nun Haus- und Korridorschlüssel einhändigte, ließ sie einen etwas schüchternen Blick über ihn hingehen.

Famoses Zimmer! dachte er zufrieden, und eine reizende Tochter scheint auch da zu sein; zwar – wenn die denkt, ich würde irgend etwas unternehmen, dann irrt sie sich: die Töchter aus Bürgerfamilien sind – also: unantastbar, – aber immerhin: Ein hübsches Mädchen ist ein herzerfreuender Anblick, den jeder rein genießen darf!

Dieses Mädchen, das ihn neugierig auf der Korridorschwelle gemustert hatte aus ihren dunklen Augen, war in Wirklichkeit keine Tochter, sondern eine Enkelin der kleinen Frau Bornemann und hieß Lotte Pfanz.

O das feine Leder! Großmutter, das feine Leder! sagte sie, als der Dienstmann Foxens Koffer brachte, und sah ihnen hochachtend und begehrend nach, wie sie in das neuvermietete Zimmer verschwanden. – Schnickschnack! sagte Frau Bornemann bedächtig, wann wirst du endlich vernünftig werden, Lotte. Leder ist die Haut von Tieren, der Mensch versündigt sich, wenn er sein Herz an eitle Dinge hängt. Kümmere dich nur um deine Seminararbeiten!

Fox zog nun wirklich ein und wahrte in seinem Verkehr zu Lotte eine noch größere Distanz, als er sich ursprünglich vorgenommen, denn sie hatte ihn gleich bei der Vorstellung sehr beleidigt: Fox fragte, wie das denn möglich sei, daß sie die Enkelin von Frau Bornemann wäre, wenn sie Fräulein Pfanz heiße. Da sagte sie, Frau Bornemann sei eben die Mutter ihrer Mutter, und darauf sah er so perplex aus, daß ihr die Worte entfuhren: Sind Sie aber borniert! Frau Bornemann war zwar über das unhöfliche Betragen ihrer Enkelin zunächst sehr erschreckt, aber da es die Wirkung hatte, daß Fox sie in Zukunft zwar sehr höflich grüßte, im übrigen aber vollkommen ignorierte, so war sie im Grunde doch nicht unzufrieden; denn sie war so besorgt um ihre Enkelin!

Die ersten Semester hatte Fox fast nur getrunken, indem er sich erinnerte, daß die Zeit der Freiheit nach dem Schulzwang eine Zeit des Gärens, des Sturmes und des Dranges ist. Jetzt wollte er arbeiten, aufwärts klimmen auf der Leiter, die ihn zu höchsten Stufen führte. Daneben hatte er die Absicht, einmal die Kunst einer gehörigen Revision zu unterziehen und seine Kräfte in diesem oder jenem Fach auszubilden. Er wollte es anders machen als sein Bruder Pitt, der stumpfsinnig aus seinen Semestern nach Hause kam und erst dann in etwas lebhaftere Bewegung geriet, wenn er wieder abreisen sollte.

Jetzt hatten sich beider Wege für eine kurze Zeit geeinigt, indem sie auf derselben Universität studierten. Frau Sintrup hatte dies durchaus gewünscht: Dann brauche ich nicht einmal hierhin und einmal dahin zu denken, sondern kann mit demselben Gedanken an alle beide zusammen denken, das ist doch viel einfacher!

Pitt, der nur nicht an dem Orte sein wollte, wo Elfriede war, hatte sich ohne Widerrede gefügt und gelächelt, als sein Vater sagte: Dann kann dich Fox einmal etwas unter seine Fittiche nehmen. Er dachte es sich ganz lustig, seinen Bruder etwas näher kennenzulernen. Wo dies geschah, war ihm gleichgültig; nur seine ewigen Umzüge von einer Wohnung in die andere hatte er satt bekommen, obgleich die sich jetzt ziemlich leicht gestalteten. Sein Hauptkoffer stand noch immer in dem Zimmer des Herrn Könnecke, der ihm anfangs mehrere Male darüber schrieb; aber Pitt antwortete, er könnte die Sachen augenblicklich nicht gut gebrauchen, und vertröstete auf ein späteres Wiederkommen, so daß Fräulein Nippe sich endlich entschloß, aus diesem Koffer einen reellen Zimmerschmuck zu machen: Ein dünner, bedruckter Stoff aus einem orientalischen Basar lag nun darüber, aus einem inneren Bedürfnis nagelte sie noch einen großen japanischen Fächer an die Wand dahinter und taufte das ganze auf den Namen «das Angßangbel».

Pitt mietete jetzt einfach eine Schlafstelle. Er wollte mit seinen Zimmern möglichst wenig zu tun haben. – Und deine Bücher? fragte Fox. Dies bot keine Schwierigkeit, im Gegenteil: Bücher bekommt man auch in Bibliotheken, und in einem Lesesaal sitzt es sich viel besser als in einer Schlafstelle. Pitt beschloß, den ganzen Tag im Lesesaal zu sitzen; er machte dies auch wahr; ursprünglich nur, um zu zeigen, daß man sehr wohl ohne eine Wohnung auskommen könne; dann gewöhnte er sich daran. Auch die praktischen Einrichtungen dort gefielen ihm weit besser, so daß er seiner Wirtin wie ein Geist vorkam.

Fox schuf sich in Bälde einen Verkehrskreis. Zunächst besuchte er den Rektor der Universität, eigentlich nur in dem Gefühle, ihm zu versichern, daß er da sei, wenigstens konnte er keinen wirklichen Grund für sein Kommen angeben. Es knüpften sich auch keine weiteren Folgen an diesen Besuch, und Fox bedauerte, daß die große Universität ein so stumpfsinniges Oberhaupt besitze. Dagegen lobte er diesen und jenen Dozenten, in deren Jours ihm einzudringen gelang. Er verstand es zuzuhören, zu schweigen, bescheidene Fragen zu tun, zu lernen, und da dies an einem jungen Mann seltene Eigenschaften sind, gewann er vielfach Wohlwollen und neue Empfehlungen. Sein großes Anpassungsvermögen ließ ihn in die verschiedensten Kreise eindringen. Bald kannte er außer Leuten der Wissenschaft auch Künstler, Kunststudierende, Architekten, Sportsleute. Viele wußten gar nicht, wo und wie sie seine Bekanntschaft gemacht hatten. Es kam vor, daß er einem ganz fremden Herrn auf der Straße die Hand schüttelte und dann auf irgendein Gespräch zurückkam, das er gar nicht mit ihm geführt hatte: Sie sagten mir damals... so begann er, und ließ es darauf ankommen, wie weit sich der andere erinnerte oder zu erinnern glaubte. Oft gelang ihm seine Absicht ohne weiteres, indem er sich sagte: In einem großen Salon, wo viele durcheinander sprechen, weiß man nicht, zu wem man dies, zu wem man jenes sprach. Stutzte jedoch der andere, so wog Fox mit großer Geschicklichkeit den Grad dieses Stutzens ab; entweder wußte er ihm dann vollkommen zu suggerieren, daß er damals mit ihm selber sprach, oder aber er sagte etwa: Teufel noch mal – Sie haben recht! Das Gespräch interessierte mich so sehr, daß ich mir wahrhaftig jetzt einbildete, Sie hätten es mit mir geführt! Was Sie damals sagten, war wirklich famos... wirklich ganz famos! – Die Folge war, daß man sich grüßte, daß man sich wieder sprach. In Bildergalerien, Ausstellungen folgte er unbemerkt irgendeiner anerkannten Größe durch die Säle, merkte sich die Bilder, vor denen sie besonders lange verweilte, trat näher, wenn er ein Gespräch erhaschen konnte, bewahrte es gut in seinem Gedächtnis und gab es später wieder von sich als sein eigenes Urteil, mit zögernder Stimme, mit kleinen Kunstpausen, in denen er das bezeichnende Wort zu suchen, sich zu ihm durchzuringen schien. Zuweilen stellte er sich auch dicht neben einen solchen Mann, ließ dessen Blicken seine eignen folgen und murmelte ergriffen: Kolossal! Ab und zu gelang es durch solch ein hingeworfenes Wort eine Anknüpfung zu finden. Dann erzählte er später, er kenne diesen Maler, jenen berühmten Bildhauer, vor den und den Kunstwerken hätten sie ihn angeredet: Und dabei war der Mann so bescheiden! so einfach! so ganz und gar – also doch wirklich – bescheiden! – Pitt machten solche Erzählungen große Freude: mit anscheinender Bewunderung hörte er zu, wenn Fox die Bilderpreise aus dem Katalog ablas und sie zu hoch oder zu niedrig fand. Manchmal hatte er dem Künstler selbst geraten, den Preis herabzusetzen, und es wäre fast zu einer Verstimmung zwischen ihnen gekommen! Lieber Gott, das ist ja auch natürlich! Pinselt der arme Kerl da Tag für Tag an seiner Leinwand herum und verwechselt schließlich die Mühen seiner Arbeit mit ihrem Wert als Kunstwerk! – Fox durfte es sich bereits erlauben, unter seinen Freunden und Bekannten auch minderwertige zu besitzen. – Am meisten aber freute sich Pitt, wenn sie in Konzerten nebeneinander saßen. Fox hatte zu Hause bei dem teuersten Klavierlehrer Stunden gehabt und galt in der Familie als musikalisch. – Bei den ersten Tönen führte er die Hand vor die Augen, er schien alles um sich her zu vergessen, er seufzte nach dem Schluß des Satzes leise und starrte vor sich hin, im nächsten Satze dirigierte er fast unmerklich mit, ungeduldig beschleunigend, dann wieder unmutig retardierend; und vor dem letzten Satz sah er Pitt mit großen Augen an und flüsterte, jetzt komme das Erhabenste, was überhaupt geschrieben worden sei. Seine Augen wurden immer starrer, er vergaß die Wimpern wieder zu schließen, und endlich lief ihm eine Träne die Wange herunter. – Für den Fall, daß Pitt sie nicht bemerkt haben sollte, konnte es nicht schaden, später zu gestehen: Solche Zähren sind erlösend.

Was ist denn das? fragte Pitt, als er zum erstenmal das Zimmer seines Bruders betrat. Es war vollkommen illuminiert mit Schwarzweißdrucken, die den Inhalt einer Bildermappe bildeten, auf die Fox neuerdings abonniert war. Fox belehrte ihn: Ich hänge die Bilder nicht hin zu meinem Vergnügen, sondern zu meiner Erziehung. Wenn ich lange gearbeitet habe und mein Geist nicht mehr recht vorwärts will, dann sehe ich das Bild da vorne an, den Philosophen oder was es ist, von Rembrandt. Wenn ich eine Kritik schreiben soll über Mozartsche Opern, kucke ich nach dem Dings da hinten von Watteau, der mir die ganze Grazie des Mozartschen Zeitalters vor die Seele ruft und mir die Melodien des Meisters überhaupt ganz von selbst erklingen läßt. – Du schreibst Kritiken? – Natürlich! Fox nagelte Pitt mit einem Blicke fest und holte langsam aus seiner Rocktasche einige beschriebene Papiere vor. – Lies das mal zu Hause durch; zwar bist du ja nicht eigentlich musikalisch, aber immerhin ist deine Stimme die eines Unbefangenen. – Ganz im geheimen hatte Fox eine bessere Meinung von Pitt als von sich selbst. Und wenn Pitt Ausstellungen zu machen hatte an seinen Gedanken – so brauchte er sich ja einfach nicht nach ihm zu richten! – Er richtete sich aber dann doch danach. – Dieses Semester will ich mich einmal ganz auf die Musik werfen, neben meiner Jura. Nächstes Semester kommt die Schauspielkunst dran; da werde ich mich selbst einsetzen mit meiner ganzen Persönlichkeit. Jeder Mensch muß die Fähigkeiten in sich ausbilden, die da sind. Wie? Was?

Fox übernahm für einige Wochen die Opern- und Konzertkritiken an einem kleinen Blatte. Der eigentliche Rezensent war krank geworden und hatte Fox, der immer noch mehr wußte als er selbst, der Redaktion zur Aushilfe empfohlen. Fox kaufte sich in Antiquariaten Sammelwerke alter Kritiken, nach denen arbeitete er. Er lebte sich ganz in den Journalistenton ein, nannte die Saison den «Winter unseres Mißvergnügens» und redete von «goldnen Früchten, auf silbernen Schalen dargereicht». Ehe die Kritiken erschienen, lud er Pitt zum Kaffee ein und las ihm alles vor. – Der Satz ist gut! sagte Pitt und nickte beifällig. Fox sah ihn mißtrauisch an, doch ohne Grund: Pitt hatte längst vergessen, daß dies ein Ausspruch war, den er selbst einmal getan hatte, eine Sentenz, die hier für sich allein stand, aus dem übrigen etwas herausfiel. Den Gedanken, sagte Pitt, hättest du zum Mittelpunkt machen und ihn entwickeln sollen. So für sich allein wirkt er eigentlich unverständlich, am Schluß widersprichst du dir sogar.

Fox begann auch Buchbesprechungen zu machen: Lies das mal zu Hause, du hast mehr Zeit als ich, es kommt mir nur darauf an, die leitenden Gesichtspunkte zu finden. Die kannst du mir mal aufstöbern, ich werde sie dann verarbeiten. Pitt belustigte dies alles, aber er bestärkte Fox in seinen Schreibereien und sagte mehrmals, es gehöre ein besonderes Talent dazu, derartiges zu machen; er selbst könne das nicht, er habe zu wenig anhaltende Energie und Spannkraft. – Ja, das ist die Hauptsache! bestätigte Fox bedauernd. Pitt erschien immer häufiger bei ihm. – Ich dachte, du hättest vielleicht heute wieder eine Kritik zum Vorlesen. – Nee, heute nicht, sagte Fox bedauernd-gönnerhaft. – Pitt ging, läutete aber nach zwei Minuten abermals und fragte: Hast du morgen eine?

Manchmal öffnete ihm Frau Bornemann, manchmal aber auch Lotte, und sie wollte er sehen. – Dies ist ein Mädchen, dachte er, das ich vielleicht lieben könnte. Lotte öffnete stets vergnügt ihren roten Mund, wenn sie ihn sah, und blickte ihn mit unverhohlenem Wohlgefallen an, und wenn Großmutter auf das Läuten hinausging, spähte sie durch die Zimmertür. Einmal bemerkte Fox an Lottes Brust eine Rose, und er wußte mit Sicherheit, daß Pitt am selben Morgen – wenn es nicht dieselbe war – mindestens ganz genau eine gleiche in der Hand getragen hatte. Halloh! dachte er, sollten seine häufigen Besuche mit dem Mädchen in Verbindung stehen? Sollte da irgendwas im Anzug sein? Hier unter meinen Augen gleichsam? Das reine Kind? Die dunkeläugige Blume?! – Sein Ehr- und Selbstgefühl regte sich. Vielleicht hatte Pitt keine schlimmen Absichten – aber immerhin: Man konnte nicht wissen, was daraus erwuchs. Er selbst aber fühlte sich als Schirmherrn der kleinen Familie, er würde jede drohende Wolke verscheuchen! Wenn jemand ausersehen war, ihr Freund zu sein – ganz in Ehren natürlich – so war er selbst das doch, wo er sowieso im Hause wohnte – und dann: Überhaupt, er hatte moralischere Rechte. – Ich habe die folgenden Wochen stark zu arbeiten, sagte er zu Pitt, und kann dich kaum gebrauchen – und wenn es läutete, stürzte er die nächsten Tage selbst zur Tür.

Pitt kam nicht mehr. – Es schadet im Grunde auch gar nichts, dachte er, Gott weiß, in was ich mich da verstrickt hätte. Dafür kam Fox mit seinem Kritiken jetzt zu ihm: Mein Ofen raucht! sagte er.


 << zurück weiter >>