Friedrich Huch
Pitt und Fox
Friedrich Huch

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Fortan bekam er aber keinen Likör mehr zu trinken, und als er das nächste Mal um Vorschuß bat, wiegte sie gleichmütig den Kopf hin und her und sagte: Es geht nicht, es geht beim besten Willen nicht, Sie haben nun schon so oft Vorschuß bekommen, mein Mann macht mir Vorwürfe, ich zöge Sie andern vor, und bei denen habe es schon böses Blut gemacht, mein Mann ist Direktor, und da muß ich ihm folgen. – O weh, dachte Fox, jetzt weiß ich, was die Glocke geschlagen hat! – Wenn wir alle Ihre Vorschüsse zusammenrechnen, fuhr sie fort, so bleibt Ihnen nicht einmal mehr ein Pfennig Honorar für die ganze Saison. Ich fürchte sogar, Sie müssen mir einiges zurückzahlen. Ich habe alles notiert und kann es schwarz auf weiß beweisen mit den Quittungen! – So redete sie jetzt; und früher – nicht nur jenes letztemal auf dem Sofa – hatte sie ihm angedeutet, daß sie sein Gehalt vergrößern wolle, ja es war ihm so, als sei dieses – wenn auch nur mündlich – fest zwischen ihnen ausgemacht gewesen. Was nun an seinen Geldern Vorschuß, was Gehaltsvergrößerung war, das konnte er kaum mehr auseinanderscheiden. – Er hielt ihr dies jetzt vor. Sie sah ihn wie erstaunt an, dann lachte sie kurz und mütterlich und sagte: Sind Sie aber naiv! Wenn ich heute eine Million gewönne, würde ich sie sofort Ihnen und dem ganzen übrigen Personal abtreten, denn ich habe keine Bedürfnisse und liebe meine Künstler wie eine Mutter ihre Kinder. Aber Ihnen persönlich vor den übrigen einen Vorzug geben – das ist mir niemals eingefallen. – Aber Sie haben mir doch selbst gesagt –- Kurzum, unterbrach sie ihn, und ihre Stimme wurde plötzlich fast männlich sonor und rauh, kurzum verbitte ich mir derartige Unterstellungen! Ehe Sie Vorzüge vor den andern beanspruchen, zeigen Sie mal Ihre persönlichen Vorzüge! Mein Mann hat ganz recht: Sie verderben uns direkt den Besuch des Theaters! Überall, wo man hinhört, heißt es: der langweilige Siegmaringen! Und im Tageblatt steht's genau so! – Das ist doch nicht meine Schuld! – Ja, wessen denn? – Die Schuld von dem Kerl, der das geschrieben hat! Es liegt am Geschmack der Menschen, aber nicht an mir! Kein Mensch kann aus seiner Haut! – Das ist es ja eben! rief sie erregt, Sie stecken immer in Ihrer Haut, und das Aus-der-Haut-Fahren überlassen Sie dem Publikum! – Auf solchen Ton einzugehen, sagte Fox, sehe ich mich nicht in der Lage. Mit einer eisigen Verbeugung entfernte er sich, und Frau Ida rief hinter ihm drein: Ihnen fehlt eben der Sinn für das Ideale!

Was Frau Steinert über die Kritik gesagt hatte, entsprach der Wahrheit: Im Tageblatt war zu lesen, die Leistungen des Herrn Siegmaringen seien langweilig und dilettantisch, nachdem er zu Anfang, namentlich mit Charleys Tante, so Eminentes versprochen habe. Man gab der Direktion Winke, diesen Künstler nicht allzusehr zu beschäftigen, lieber in kleinen Nebenrollen auftreten zu lassen, wo er nicht viel verderben könne, und wirklich hatte die Direktion Fox im Laufe der Zeit alle größeren Rollen fortgenommen; selbst Charleys Tante wurde jetzt von jenem jungen Talent gegeben, das Herr Steinert versuchsweise in das komische Fach hatte einspringen lassen, in dem es sich auch vorzüglich bewährte. Der Direktor beklagte den Schaden, der der Kasse erwuchs, indem er dies Talent nun höher honorieren mußte.

Fox merkte, daß er wieder an einem Wendepunkte seines Lebens stand. Niemand borgte ihm hier einen Pfennig, an die Direktion hatte er Schulden, wie er selber einsah, als Schauspieler war er auch fast schon unmöglich – irgendein rettender Sprung mußte getan werden; vor allem mußte er sich Geld schaffen, damit er wenigstens die Mittel hatte, einen Plan ins Werk zu setzen. An seinen Vater konnte er sich nicht wenden, seine früheren Freunde würden ihn verleugnen, so blieb nur Pitt.

Viel geschrieben hatten sich die beiden Brüder die letzten Jahre nicht, Fox wußte aber, daß Pitt nun seit geraumer Zeit in einer neuen, einträglichen Stellung saß. Sollte er seine klägliche Lage eingestehen, direkt um Geld bitten? Er schämte sich etwas. Da fiel ihm auf einmal ein Ausweg ein: Pitt besaß noch einen Haufen Aufsätze von ihm im Manuskript, die er ihm damals, als er ihn mit Lotte verließ, eingehändigt hatte: Die mußte Pitt jetzt unter allen Umständen in einer Zeitschrift unterbringen und ihm das Honorar sofort übersenden. Er schrieb an Pitt darüber und schloß: Es geht mir zwar ausgezeichnet, aber du weißt wohl vom Hörensagen, daß Künstler leichtblütigen Naturells sind, daß das Geld zwischen ihren Fingern hindurchrollt! Überraschend schnell hatte er das Honorar in Händen, viel mehr, als er gehofft hatte. Pitt schrieb, er fühle doch durch, daß Fox das Theater nicht sehr befriedige, und er frage an, ob er geneigt sei, einen literarischen Beruf zu ergreifen? Er könne ihm eventuell zu einer Stellung sehr behilflich sein. Fox ergriff diese Möglichkeit mit beiden Händen; es verging wieder eine kurze Zeit, dann telegraphierte Pitt: Komm sofort. Fox hielt dies Telegramm in den Händen: Wie ein Erlösungsruf blickten ihn die Worte an, und er dachte: Der Pitt ist doch ein guter Kerl, wirklich ein guter Kerl, wenn ich mir diesen Ruf auch höchstwahrscheinlich selber durch meine Artikel geschaffen habe – immerhin – er hat das doch wirklich – also wirklich – fair gedeichselt!

Er studierte das Kursbuch und fand, daß der schnellste Zug am Abend gehe, gerade während des letzten Aktes. Ins Theater mußte er also noch. Das würde eine schöne Überraschung geben, wenn er auf einmal nicht mehr da war!

Herr Siegmaringen! schnell, schnell, es ist die höchste Zeit! gleich fällt Ihr Stichwort! rief der Direktor. Fox hatte sich extra absichtlich verspätet. – Sintrup, sagte er, mein Name ist Sintrup, Redakteur Sintrup. – Lassen Sie die Späße! Machen Sie ein einziges Mal so einen Witz auf der Bühne, und ich bin zufrieden! Los, schnell! – Fox bequemte sich und spielte schlechter als jemals; hinter der Kulisse agierte Frau Steinert mit beiden Armen, das Tempo zu beschleunigen. Du alte Vogelscheuche! dachte Fox, du wirst heute noch ganz andere Augen machen; und er sprach, als wolle er im nächsten Augenblick einschlafen. – In der Pause gab es Vorwürfe, die er grinsend über sich ergehen ließ. – Sie sind wohl betrunken?! fragte Herr Steinert plötzlich: Ich rate Ihnen, nehmen Sie sich zusammen, ich werde sonst andere Saiten aufziehen. – Ich werde Sie peitschen lassen, entgegnete Fox und sah ihn trocken an. – Allmächtiger Gott, er ist irrsinnig geworden! rief Frau Steinert in klagendem Ton. Der Direktor wollte auf ihn los. – Na, Kinder, regt euch nur nicht auf, es war nur Scherz; sagte Fox und lachte. Es ward wieder geläutet, Frau Steinert mußte rasch an ihr Klavier zurück, ihr Mann begab sich an den Vorhang. Es kam der letzte Akt, Fox hatte erst gegen Ende aufzutreten. Fieberhaft kleidete er sich in der Garderobe um – es gab gerade einen Volksauflauf, alle waren auf der Bühne beschäftigt – dann verließ er das Theater; den falschen Bart, den er zu tragen hatte – er bestand aus früher ausgekämmten Haaren der Frau Direktor, behielt er vorläufig noch im Gesichte.

Der Akt verging, es war schon von ihm die Rede, jetzt mußte er erscheinen, die Mitspielenden starrten auf die offene Tür, nachdem einer bereits deklamiert hatte: Doch wer naht da mit schnellem Schritt?! Hinter der Szene wurde geredet, eilige Schritte gingen hin und her, es folgte eine kleine Totenstille, dann fiel der Vorhang. Es drohte eine Panik im Hause auszubrechen, aber der Direktor trat mit schneller Geistesgegenwart vor den Vorhang und erklärte, es sei einem der Mitglieder plötzlich unwohl geworden, nur für einige Minuten. Sie seien gezwungen, eine kleine Pause eintreten zu lassen und dann die letzten Szenen zu wiederholen. Die Herrschaften, so schloß er, delektieren sich wohl inzwischen an den leiblichen Genüssen, die unser allverehrter Herr Restaurateur in so vorzüglicher Weise zu bereiten versteht! Er trat wieder hinter den Vorhang zurück, und nun begann ein fieberhaftes Suchen nach Fox Sintrup. Selbst die kleinsten Orte wurden durchgespürt. Sucht ihn auf dem Markt! befahl der Direktor, vielleicht war ihm vorhin wirklich übel und er hat die Zeit verwechselt und ist an die frische Luft getreten! – Er stürmte selbst die Treppe hinab. Hermann! Hermann! du erkältest dich! rief seine Frau, mein Gott, die heiße Luft, der Schweiß – und mit einem Tuche eilte sie hinter ihm drein.

Trübe, brummig und schweigend lag der kleine Platz da mit seinen langweiligen einstöckigen Häusern, nur das bunte Schild des Glasermeisters Kuhlemann klapperte im Winde.

Lauf du nach seiner Wohnung, ich renn in die Kneipe! rief der Direktor, wir müssen ihn wieder haben! In fünf Minuten sind wir wieder da!

Im Zuschauerraum hatte sich inzwischen – niemand wußte durch wen und woher – herumgesprochen, Herr Siegmaringen sei plötzlich irrsinnig geworden, Frau Direktor habe es gesagt. Und mit einem Male hieß es: Er rase draußen auf dem Markte. Jetzt erhoben sich einige Neugierige, niemand wollte recht der erste sein, aber dann traten doch ein paar auf die Tür zu, andere folgten schneller, und mit einem Male drängte alles in dicken Haufen die Treppe hinunter und auf den Markt hinaus. In einiger Entfernung blinkte ein Schutzmannshelm. – Dort, dort ist er um die Ecke gelaufen, der Schutzmann hat vorhin jemand um die Ecke laufen sehen: Ein Haufe stürmte in der angegebenen Richtung davon, andere schrien: das war ja der Herr Direktor selber! Inzwischen waren auch die übrigen Schauspieler aus ihren Hinterbühnenräumlichkeiten ins Freie geeilt, als es sich herumsprach, daß das Publikum hinabdrängte, und daß Herr Siegmaringen tatsächlich in irgendeinem Wahnsinnszustande dort unten sei, der kleine Markt war jetzt belebt und voller Lärm, und die verschlafenen Häuser blinzelten mit müden Augen, die sich hier und da öffneten, in immer größerer Zahl. – Da kommt er! da kommt er! rief jemand und deutete in eine Seitengasse, wo niemand wen vermutete. Wirklich kam eine dunkle Gestalt dahergelaufen. Ihr auf den Fersen folgte eine andere, große, hagere, weibliche, die sich im Laufen die Haare mit beiden Händen festhielt. – Die Frau Direktor hat ihn! Die Frau Direktor hat ihn! Und nun wälzte sich der Knäuel auf die beiden zu. Energisch drängten jetzt die Schutzleute – es waren inzwischen zwei geworden – durch die Haufen, bis zu dem atemlosen Direktor und seiner Gattin. Er ist nicht da, wir finden ihn nicht! rief der Direktor. – Unser Geld, wir wollen unser Geld! riefen einzelne, die Vorstellung ist unterbrochen worden. Der Direktor verkündigte mit lauter Stimme, die Billette behielten ihre Gültigkeit für dieselbe Vorstellung, worauf man auf dem Markte applaudierte, als befinde man sich in dem Theater selbst. Dann stürmte man zurück ins Haus, zu den Garderoben.

Niemand wußte vorerst um die tatsächliche Wirklichkeit, nur das wußte man: in der Kneipe war Herr Siegmaringen nicht, und zu Hause auch nicht, denn seine Fenster waren dunkel. – Nur Foxens Freundin ahnte, was geschehen sei: Er hatte ihr heute eine Mark geschenkt! Am nächsten Tag ward ihr diese Ahnung bestätigt: Fox war kontraktbrüchig geworden und hatte die Stadt verlassen.

Man hätte ihn vielleicht polizeilich verfolgen, auch den Paragraphen der Konventionalstrafe in Anwendung bringen können, aber was den Paragraphen betraf: der stand nur auf dem Papier, niemand von all den armen Teufeln am Theater konnte sechshundert Mark bezahlen, und kein vernünftiger Schmierendirektor konnte sich selbst in Unkosten stürzen, eines solchen Trugbildes willen. Und was die polizeiliche Zurückholung anging: Nachdem der erste Zorn verraucht war, sah der Direktor ein, daß er sich im Grunde freuen müsse, diesen Künstler los zu sein, und in diese Ansicht stimmte auch die offizielle Presse ein, die durch das «Tageblatt» vertreten war, das über den Vorfall am übernächsten Tage einen Leitartikel erscheinen ließ, überschrieben: Nächtlicher Spuk auf unserm Markte, und der mit den Sätzen schloß: Der Direktion können wir zu ihrem Verlust nicht kondolieren, da dieser Verlust in unseren Augen nur einen negativen Gewinn bedeutet. Unser allverehrter Herr Direktor würde sich auch wohl nie entschlossen haben, diesen Künstler zu engagieren, wenn er nicht damals gezwungen gewesen wäre, der Not zu gehorchen und nicht dem eigenen Triebe. Damit rühren wir in manchem unserer Leser eine Erinnerung auf, die wir einem größeren Leserkreis nicht aufzutischen gedenken, da wir, fern von aller kleinstädtischen Klatschsucht, unsern verehrten Abonnenten nur wirklich Gediegenes zu bieten gewohnt sind. Eine Frage aber drängt sich uns unwillkürlich auf, und wir reden hier im Namen von vier Herren unserer hohen Gerichtsbarkeit: Wie und wann begann die Mystifikation? Hatten wir es zu tun mit einem stellensuchenden Schreiber, mit einem Klaviervirtuosen, mit einem Schauspieler, oder nur mit einem – Schwindler?!


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