Friedrich Huch
Pitt und Fox
Friedrich Huch

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Sind Sie heute abend frei? telephonierte sie eines Tages. – Nein, sagte er. – Wohin gehen Sie? – Eine kurze Pause folgte: In die Oper. – Das trifft sich ja herrlich, gerade wollte ich Sie für die Oper einladen? Also holen Sie mich Punkt sieben bei mir ab! Sie sitzen mit in unserer Loge.

Du willst ins Theater? fragte ihr Bruder Egon sie am Abend; mit wem? – Mit Herrn Sintrup. – Er pfiff etwas verächtlich durch die Zähne. – Was soll das?! – Gar nichts. – Nein, bitte, rede. – Er wollte nicht, sie drängte immer heftiger, schließlich sprach er alles von seinem Herzen herunter und schloß mit den Worten: Merkst du es denn nicht, daß dieser Mensch nach deiner Hand schlägt, wenn er sie fühlt?! – Sie wurde sehr rot und erregt, behauptete, es sei nicht wahr, was er da rede, kehrte ihm endlich den Rücken und ging schnell hinaus.

Während sie sich umzog, hörte sie immer jene letzten Worte ihres Bruders. All ihre Bitternis war durch sie verstärkt, verschärft. Es war so, als sei erst, nachdem es ein anderer aussprach, alles wahr und wahrhaftig, was sie doch auch vorher nicht vor sich selber abgeleugnet hatte. – Ich will ihm schon zeigen, daß ich Stolz besitze, er soll sich nur in acht nehmen, so dachte sie, während sie die Schuhe wechselte, und wenn er es zu weit treibt – heftig riß sie die Schnürbänder auseinander – dann fliegt er einfach! Sie hatte die Schuhe ausgezogen und warf sie während ihrer letzten Worte in die Ecke, etwas verwirrt ihrem Fluge nachsehend, da sie das gedoppelt sah, was sich ihr zugleich als bildliche Einheit präsentierte. – Jedenfalls, dachte sie beruhigter, hat er für heute abend zugesagt, das ist doch schon etwas! Sie trat noch schnell zum Waschtisch und suchte aus all den Kristallflaschen ein Veilchenparfüm heraus, denn Pitt hatte einmal gesagt, er rieche Veilchen besonders gern. Oder hatte er das nur aus Widerspruchsgeist behauptet, da sie selber sagte, sie habe sich Veilchen «übergerochen»?

Sie sah nach der Uhr. Pitt mußte eigentlich schon da sein. Wahrscheinlich war er im Salon. Aber dort war er nicht; die Uhr ging weiter, und schließlich saß sie da in Hut und Mantel, um Zeit zu sparen, da es sowieso schon zu spät wurde. Egon spottete; sie tat, als höre sie das nicht. Sie überlegte, ob sie Pitt im Wagen entgegenfahren solle; dachte aber: Nein, ich will ihn hier erwarten und das Maß seiner Verspätung genau feststellen! Und nun wünschte sie fast, daß dieses Maß recht beträchtlich würde, und mit ihm auch der Grad ihres Ärgers, den sie immer stärker anwachsen fühlte und doch nicht in die leere Luft hinein äußern konnte. Egon hatte recht! Pitt zeigte geflissentlich, daß ihm nichts daran lag, mit ihr zusammenzukommen. Sie saß noch eine Zeitlang da, dann dachte sie auf einmal: Vielleicht konnte er aus irgendeinem Grunde wirklich nicht herkommen! Sitzt schon längst in unserer Loge und wartet auf mich! – Sie fuhr sogleich zum Theater, aber die Loge war leer und dunkel, und auf der Bühne wurde schon längst gesungen und gespielt. Sie gab sich Mühe, auf die Musik zu hören, aber fortwährend irrten ihre Gedanken ab. – Wenn er nun plötzlich krank geworden war? Dieser Gedanke schoß auf einmal in ihr auf. Dies war ja nicht wahrscheinlich, aber immerhin nicht unmöglich. Sie erhob sich und verließ die Loge, ließ sich eine Droschke kommen und fuhr zu Pitts Wohnung. Wenn er nun ganz gesund war, sich verwundert nach ihr umdrehte und sich nichtssagend entschuldigte? Der Wagen hielt, schnell sah sie zu seinem Hause empor; sein Fenster hatte Licht.

Pitt saß in seinem Zimmer, beim Schein der Lampe. Vor ihm lag ein Brief von Fox. Der bat, gewisse von ihm geschriebene Artikel in irgendwelchen Zeitschriften unterzubringen und das Geld sofort an ihn zu senden. Mit Fox mußte es ziemlich schlimm stehen. Der war nun längst beim Theater. Durch einen plötzlichen, abenteuerlichen Sprung hatte er sich herausgerettet aus allen Widerwärtigkeiten, er hatte eine Tat gezeigt; und wenn sie auch augenscheinlich etwas Verkehrtes war: wenigstens hatte er sich frisch in eine neue Lebenswoge gestürzt und es darauf ankommen lassen, ob sie ihn tragen würde. Pitt selbst aber saß eingeschlossen in einem ganz engen Kreise, in der dumpfigsten Atmosphäre, und wußte doch nicht, wie er sich aus ihr befreien sollte. – Und wenn er jetzt wirklich seine Redaktionsstelle aufgab, was wurde dann aus ihm? Was blieb ihm? Sollte er doch in seine juristische Laufbahn zurückkehren? War das nicht noch immerhin das beste? – Er hielt die Augen lange geschlossen. Bäume tauchten vor ihm auf, und Felder, und auf einmal sah er jene zwei Knaben wieder, blond, in weißen Leinenhemden und im Schurzfell, wie er sie einst im Traum gesehen – aber dann war es Elfriede, deren Bild alles andere verdrängte. Er hatte sie aufgegeben, endgültig aufgegeben. – Eine große Leere war in ihm, nur gefüllt vom Nebel der Erinnerung. – Hatte er denn nichts, gar nichts, das wirklich war, das mit ihr zusammenhing? Er dachte lange nach, dann ging er an sein Bücherbrett, holte ein altes philosophisches Werk, trug es an seinen Platz und begann es zu durchblättern. Wenn jenes Andenken noch da war, mußte er es zwischen diesen Seiten finden. Klein, schmal, vergilbt fand er es wirklich. Es war eine Blume, die ihm Elfriede einst im Scherz aufs Buch warf, als sie ihn lesend in der Laube fand, draußen auf dem Gute. Er nahm sie, hielt sie sinnend in den Händen, strich mit den Fingerspitzen über ihre Blätter hin und dachte: Sie ist wirklich, sie ist greifbar, so greifbar wie die festeste Gegenwart – und doch gehört sie der Vergangenheit. Wieder schloß er, in Erinnerung verloren, seine Augen: Gegenwart und Vergangenheit mengten sich zu einem dritten, das nicht das eine noch das andere war, das zeitlos dahinschwebte und ihn mit sich nahm.

Es läutete. Draußen klang die erregte Stimme Fräulein Heines und die seiner Wirtin. Pitt schob die Blume in das Buch zurück und schloß es. Gleich darauf trat Fräulein Heine ein, fast ohne anzuklopfen. Sie hielt den Blick auf ihn gerichtet, seine Augen erschienen groß und sonderbar leuchtend im Lampenschein, wie er jetzt ruhig zu ihr hinsah.

Also wirklich! Da sind Sie wirklich! sagte sie. – Wie können Sie sich unterstehen, mich auf solche Weise zu behandeln? Mich durch dieses Geschöpf da draußen abfertigen zu lassen? Ich frage: wie können Sie sich unterstehen?! Sie war dicht zu ihm herangetreten und sah ihn mit brennenden Augen an. Halt! rief sie, als er den Mund zu einer Antwort öffnete, überlegen Sie sich vorher, was Sie sagen wollen; ich will keine Lüge hören.

Es ist auch nicht meine Absicht zu lügen, sagte er, indem er ihr formell einen Stuhl anwies. – Antworten Sie mir überhaupt nicht! fuhr sie fort, etwas ernüchtert durch seine Ruhe, aber immer noch sehr heftig: Wenn Sie mich nicht ins Theater begleiten wollten, weshalb sagen Sie mir das nicht? Weshalb machen Sie da eine ganze Komödie? – Wer sagt Ihnen denn, fragte Pitt dagegen, daß ich nicht irgendeine dringende Abhaltung gehabt habe, weshalb fragen Sie nicht zu allererst nach meinen Gründen, sondern nehmen blindlings den an, der Ihnen am nächsten liegt?

Also doch! rief sie erleichtert, O dann ist alles anders, dann ist alles in Ordnung. Aber nun reden Sie auch, bitte, damit ich mein altes Gefühl zu Ihnen zurückgewinnen kann! – Ihr altes Gefühl? fragte Pitt; Sie haben ja vollkommen recht mit Ihrer Vermutung, ich wollte Ihnen nur zeigen, daß man in solchen Fällen sachlicher zu Werke geht. – Es überlief sie kalt. – Ich dächte, fuhr er fort, es wäre deutlich zu ersehen gewesen, als Sie mich fragten, ob ich diesen Abend etwas vorhabe: daß ich Ihnen auszuweichen strebte, indem ich sagte, ich ginge in die Oper, ich sei nicht frei. Statt dessen zwingen Sie mich in Ihre Pläne hinein...

Konnten Sie denn nicht später noch einmal telefonieren, fragte sie, daß Sie wirklich verhindert seien? – Das habe ich ebenfalls überlegt, aber, entschuldigen Sie, daß ich das ausspreche: Ich fürchtete, auch diese Absage sei Ihnen nicht erkennbar genug. – Das heißt: Sie halten mich für unfeinfühlig, ja – sprechen wir das Wort aus: für dickfellig?! – Pitt zog die Luft ein, hob die Augenbrauen, als dächte er angestrengt nach, dann wandte er den Kopf zu ihr zurück und sagte höflich: Menschen haben kein Fell. – Das war zu viel. Sie fühlte eine plötzliche Wut in sich aufkochen, aber sie bezwang sich: Und das ist der Dank für alles, was ich für Sie getan habe! Vom ersten Moment an, wo ich Sie sah, habe ich stets nur Gutes für Sie empfunden und es in allen meinen Handlungen geäußert! Ich weiß, daß ich gelegentlich zu weit ging – Sie haben mir das auch zuweilen mit humorvoller Derbheit angedeutet, was ich Ihnen gerne verzieh, da ich gerade dieses scheinbar Harte an Ihnen liebe; aber dieses hier ist nicht mehr derb: dies ist plebejisch! – Ich fand das andere auch schon ziemlich plebejisch! warf er halb bedauernd ein. – Nein, dies ist anders, ganz anders, und ich verlange, daß Sie Ihr Wort zurücknehmen. – Ja, sind wir denn Kinder? fragte er erstaunt: Ich bleibe bei allem, was ich – oder vielmehr Sie selbst gesagt haben und will endlich Klarheit schaffen zwischen mir und Ihnen. – Sie lachte höhnisch auf: das ist ja ein reizender neuer Ton von Ihnen: Lieber Herr Sintrup – so mögen Sie zu Ihren Damen reden, die ich nicht kenne noch kennenlernen möchte, aber mir gegenüber verbitte ich mir das: Ich bin für Sie Fräulein Heine, Tochter des Kommerzienrats Heine, die sich für Sie als Mensch interessiert hat und diesem Menschentum nun auf den Grund gekommen ist. Eines muß ich Ihnen nun aber doch rund heraus sagen: Jetzt tun Sie den Mund ordentlich auf, wo Sie sich in Ihrer guten Stellung wissen und sich sicher darin fühlen; jetzt suchen Sie, wie Sie es geschmackvoll nennen, Klarheit zwischen uns zu schaffen; ich habe nie etwas Unreines zwischen uns zu sehen vermocht, aber jetzt öffnen Sie mir die Augen: Sie nannten Ihr Wesen humoristisch derb – nun, ich bleibe dabei: es ist plebejisch! – Was hat meine Stellung, fragte Pitt, ihre vorletzte Äußerung aufgreifend, mit meinen Beziehungen zu Ihnen zu tun?! – Sie sah ihn mit runden, maßlos erstaunten Augen an: Ja, habe ich Sie nicht zu dem gemacht, was Sie nun sind? Haben Sie irgendeine andere Empfehlung gehabt als mich? Aber allerdings, ich vergesse: die Kritiken, die Kritiken! Aber die sind ja nicht einmal von Ihnen, die sind ja von Ihrem Bruder, fremde Federn, mit denen Sie sich geschmückt haben! – Die Kritiken?! fragte Pitt, und verlor für einen Augenblick vollkommen den Faden. – Jawohl! Die Kritiken! Ach, das weiß er ja gar nicht! Gut, einmal sollten Sie's erfahren, und nun hören Sie's! Fräulein Heine erhob ihre Stimme, erzählte die ganze Geschichte von den untergeschobenen Arbeiten und schloß damit, daß Pitt diese Stellung nie bekommen hätte ohne ihre freundschaftliche und erfinderische Hilfe. – Er war für einige Momente verblüfft, dann brach er in ein helles, klares Gelächter aus. – Ihr ganzes Triumphgefühl schmolz hin in diesem Lachen, das ihr fast Angst machte, weil irgend etwas Schreckliches, Kaltes darin lag, das sie nur dumpf verstand. Sie hatte den Überblick verloren, sie kam sich plötzlich unsicher, in ihrer Position erschüttert vor. Aber es galt sie dennoch zu wahren: Ja, sagte sie mit fester Stimme, das habe ich alles für Sie getan; mag sein, daß es nicht ganz recht von mir war, aber was tut man nicht für einen Menschen, den man – für den man ein menschliches Interesse hat! Es lag mir immer auf der Seele, ich mußte es einmal herausbeichten, und nun ist es geschehen! Von nun an werden Sie mich als Ihre wahre Freundin ansehen, die nicht nur in Worten, sondern auch durch die Tat gezeigt hat, daß sie es wirklich freundschaftlich mit Ihnen meint! Ich bereue es auch nicht, daß es zu dieser unliebsamen Aussprache zwischen uns beiden gekommen ist; so ein kleines Gewitter trägt nur zur Klärung bei, ich sehe jetzt ein neues Fundament für unsere Freundschaft. Sie nicht auch?

Pitt hatte den größten Teil ihrer Rede überhaupt nicht mehr gehört. Ganz entrückt, glücklich sah er in einen Winkel. Ihm war ein herrlicher Gedanke gekommen. Weiter in dieser Redaktion zu bleiben, weiter seine Beziehungen zu Fräulein Heine fortzuführen, daran dachte er nicht mehr, aber Fox – Fox – ließ sich da nicht etwas Wundervolles, Perspektivenreiches durchführen? Konnte er den nicht aus seiner Klemme retten, ihn zum Redakteur machen und ihm zu einer reichen – Frau verhelfen?!

Unsere Beziehungen, sagte er jetzt freundlich, sind ein für allemal erledigt. Sie selbst haben mich gebührend in meine Schranken zurückgewiesen, und ich werde mich darin zu halten wissen. Die Redaktionsstelle gebe ich auf, denn nicht ich, sondern der Schreiber jener Artikel wurde engagiert – und das ist mein Bruder. Ich werde ihn kommen lassen, und hoffe, daß Ihr Auge günstiger auf ihm ruhen wird als auf mir. Die Entscheidung, ob Sie ihn haben wollen oder nicht, hängt natürlich von Ihnen und Ihrem Herrn Vater ab, aber ich zweifle keinen Augenblick daran, denn er hat ganz das Zeug für diesen Posten.

Pitt ging auf einen Kasten zu und kam mit einer Photographie zurück. Sehen Sie selbst! sagte er: diese Zielbewußtheit, diese Energie, diese im besten Sinne Männlichkeit! – Fräulein Heine, noch halb verdutzt über die neue Wendung, sah mit bereits erwachtem Interesse auf das Bild hin. Sie tat aber vorläufig sehr reserviert und erklärte, das müsse reiflich überlegt sein. Dann ging sie, nachdem sie gesagt hatte, sie trage ihm nicht das geringste nach.

Pitt begleitete sie mit einem Licht die Treppe hinab. – Daß ich Sie nun noch bemühen muß! sagte sie höflich. – O bitte, das ist selbstverständlich. – Dies Haus scheint vor ungefähr zehn Jahren gebaut zu sein. – O ja, vielleicht ist es auch noch etwas älter sogar. – Also gute Nacht, ich bedaure nochmals –- Gute Nacht, von Bedauern kann keine Rede sein.

Nach ein paar Tagen traf die Nachricht ein, Fox Sintrup möge sich vorstellen.


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